Ein bedeckter Himmel am Morgen. Klasse.
Aber die Wetterprognose bessert sich, sobald wir Warschau erreichen. Bereits als wir aus dem Auto steigen, erwartet uns ein strahlender Himmel.
Schneereste liegen auf den Gehwegen und auf einer hergerichteten Schlittschuhbahn ziehen Kinder mit ihren Eltern ihre Kreise. Alles liegt in einem sonnigen, winterlichen Glanz.
Der Kulturpalast
Wir besuchen den Kulturpalast. Der Zugang zur Aussichtsplattform ist mit fünf Euro Eintritt verhältnismäßig günstig und die Aussicht großartig. Sonnenstrahlen über der Stadt. Ganz Warschau ist getaucht in ein diffuses, dunstiges Winterlicht. Ein Foto, noch eins. Und noch eins, weil es so schön ist.
Der Kulturpalast ist die höchste Sehenswürdigkeit in Polen. Er besitzt rund 46 Ebenen, darunter zwei unterirdische. Seine Höhe beträgt, wenn man die sieben Meter lange, nachträglich angebrachte Antenne mit einrechnen will, 237 Meter.
Der Bau wurde 1955 auf Anordnung Josef Stalins fertiggestellt und fungierte als der Stalinspalast – bis heute ist er der älteren Generation der Polen ein Dorn im Auge. Viele sehen das Monument im sowjetischen Zuckerbäckerstil als Zeichen der russischen Besatzung, als „sowjetischen Stachel im Fleisch“ sozusagen. Es gab bereits Pläne, den monströsen Bau abzureisen, doch irgendwie gehört der Palast inzwischen zu Warschau wie der Wasserturm zu Mannheim und das Schloss zu Schwerin und zudem dient er so gut wie sonst kaum ein Objekt der allgemeinen Orientierung. „Egal, wo ich mich in der Hauptstadt befinde“, sagte mir eine Freundin, „weiß ich nach nur einem Blick, wo das Zentrum ist.“
Doch eines muss man dem russischen Architekten Rudnew lassen, der den Kulturpalast entworfen hat: inspirieren lassen hatte er sich vom Empire State Building in New York. So hätten die Polen weniger an die ehemalige UDSSR, sondern vielmehr an die Amis beim Betrachten des Bauwerks denken sollen. Das hatte wohl nicht so geklappt wie geplant – überhaupt sind Monumente in besetzten Ländern keine gute Idee, sie stoßen selten auf Gegenliebe. Vom Kulturpalast aus hat man den schönsten Blick auf Warschau, sagen viele Polen spöttisch, weil man selbigen dabei nicht mehr sehen muss. Vielleicht ist das der Grund für die lange Schlange Menschen, die sich vor dem Aufzug auf die Plattform gebildet hat.
Obwohl die Aussicht das ist, was die Menschen hierher lockt, beherbergt der Palast zudem Museen, Theater, Kino, sogar eine Schwimmhalle. Und die Hochschule für Fotografie. Auch Messen und Modeschauen finden hier statt. Die Turmuhr, die 2000 enthüllt wurde, gilt als die höchste Turmuhr der Welt. Seit 2010 ist es möglich, dank einer installierten LED-Anlage, das Gebäude abends in verschiedenen Farben zu illuminieren.
Viele Polen, vor allem die der jüngeren Generation, haben sich längst mit ihrem „hässlichen Sowjetstachel“ abgefunden. Der Kulturpalast ist ein Touristenmagnet geworden.
Quelle: wikipedia.pl
Es ist eisig kalt hier oben auf der Plattform. Nach und nach werden unsere Finger immer steifer. Im Panorama-Cafe gibt es Abhilfe in Form von Glühwein. Wir wärmen unsere tiefgefrorenen Glieder wieder auf.
„Schatz, war da nicht diese Siedlung hier irgendwo in der Nähe, in der die Bauarbeiter wohnten, die den Kulturpalast mit erbaut haben? Erinnerst du dich an die Reportage?“
Ja, er erinnert sich. Das ist da, wo sie jetzt so alternativ leben sollen. Stefan zückt sein Handy und googelt. Siedlung „Przyjazn“ heißt sie. Siedlung „Freundschaft“ übersetzt. Was für ein schöner Name. „Soll hier irgendwo ganz in der Nähe sein.“
Die Siedlung „Przyjazn“ (Freundschaft)
Der Bau des Kulturpalastes dauerte von Mai 1952 bis Ende Juli 1955, war also in nur etwas mehr als drei Jahren vollendet. Rund viertausend polnische und zwischen 3500 bis 5000 sowjetische Arbeiter waren daran beteiligt. Während der Bauarbeiten starben aufgrund schwerer Bedingungen 16 Personen.
Die Siedlung „Freundschaft“, ursprünglich „Polnisch-sowjetische Freundschaft“, entstand auf dem Gelände des ehemaligen Dorfes Jelonka. Damit der Bau im schnellen Tempo weiter gehen konnte, mussten die vielen Tausend Arbeiter irgendwo untergebracht werden. Die Grundbesitzer des Dorfes wurden im Eilverfahren enteignet und mit Geld oder Grundbesitzen in den neuen Territorien um Schlesien herum entschädigt.
Im Rahmen des Siedlungsbaus entstanden zwei Arten von Unterkünften: Hotelpavillons für die Arbeiter und Einfamilienhäuser für das technische Personal. Die Häuser waren aus Holz errichtet. Sie wurden bereits als halbfertige Elemente aus Warschau hergebracht und an Ort und Stelle aufgebaut. Die Pavillons erinnerten an altherrschaftliche polnische Gutshäuser. Sie wurden in den Farben rotweiß und blauweiß gestrichen.
Doch es war nicht nur eine reine Wohnsiedlung; im Laufe der Zeit entstanden auch Spiel- und Fußballplätze, es gab Geschäfte des täglichen Bedarfs. Hier wurden Feste gefeiert, an denen polnische und sowjetische Jugend teilgenommen hat. Mit zwei Buslinien konnte das Stadtzentrum auf kurzem Wege erreicht werden.
Später nach der Fertigstellung des Kulturpalastes entwickelte die Siedlung ein Eigenleben. Durch die Nähe zum Zentrum lebten viele Studenten hier, unter anderem Alpha Oumar Konare, der spätere Präsident von Mali.
Die Rolling Stones
Am 13 April 1967 erschütterten sensationelle Neuigkeiten die Hauptstadt. Die Stones traten in der Kongresshalle des Kulturpalastes auf. Diese Info verbreitete sich wie ein Lauffeuer und so fanden sich tausende Menschen am besagten Tag vor dem Palast ein.
Das Problem war nur: von den rund fünftausend Eintrittskarten wurden dreitausend kostenlos an Parteifunktionäre und ihre Familien verschenkt. So spielte die Band vor einem älteren Publikum in Krawatte und Anzug, während draußen vor dem Palast die Jugend tobte und nach Einlass verlangte. Der Drang, die berühmten Rolling Stones einmal live zu sehen, war bei den Menschen so groß, dass es zu Unruhen kam.
Allein schon im Kongresssaal fanden sich rund fünftausend Menschen ein, um beim Konzert dabei zu sein, während die eigentliche Größe rund 2,500 Plätze zuließ. Was aber draußen vor sich ging, war kaum zu beschreiben. Der Kulturpalast wurde regelrecht belagert; die Polizei schickte ein Aufgebot an Wasserwerfern, eine Pferdestafel und Panzerwagen, während die Fans versuchten, die Eingangstüre zu stürmen.
Dabei kam die Idee, in Warschau zu spielen, von den Musikern selbst. Anlass dazu war ein abgesagtes Konzert in Moskau. „Die Kids in Warschau sollten unsere Musik hören.“ So die Stones. Das Konzert wurde von den Behörden organisiert. Um die Organisation ranken sich bis heute unzählige Mythen. Zum Beispiel wird behauptet, dass die Band aufgrund des schlechten Stands der damaligen polnischen Währung (der Zloty konnte damals nicht eingetauscht werden…) statt mit Geld mit Wodka bezahlt werden sollten…
Das Ende vom Lied war, dass sich die echten Fans Gefechte mit der Polizei lieferten, während drinnen Parteifuktionäre den Skandalrockern lauschten. Die Stones waren davon sowie von den Unruhen draußen so entrüstet, dass sie später draußen auf der Straße von einem Wagen aus kostenlos Vinylplatten an die Fans verteilten.
Bei späteren Befragungen der Leute wollen schlussendlich mehr Menschen beim legendären Konzert dabei gewesen sein als die Gesamtzahl der Anwohner Warschaus damals betrug…
Quelle: gazeta.pl
Kulturpalast und Selbstmörder
Kleiner Fun Fact am Rande: lange Zeit gehörte der Kulturpalast zu den meist frequentierten Plätzen in Polen für Menschen mit Suizidabsichten. Vor dem Anbringen des Schutzgitters auf der Ansichtsplattform sprangen dort laut polnischen Medien insgesamt acht Personen in die Tiefe, darunter ein Franzose, der diesen Ort für würdiger als den Eifelturm befand.
Quelle: pkin.pl
Höflichkeit ist nicht gleich Service
Mir fällt verstärkt auf, wie höflich meine Landsleute sind. So bemängelswert der Service auch mancherorts sein mag („unsere“ Bäckerin legte uns diesmal gar nicht erst eine Tüte hin, die hat wohl dazugelernt…), umso höflicher sind die Menschen auf der Straße. Beim Anstehen wird nicht gedrängelt, jeder scheint zu wissen, wo sein Platz ist. Als wir auf die Aufzüge zur Aussichtsplattform warten, bemerken wir, dass niemand versucht, sich mit Gewalt in den eh schon vollen Aufzug hinein zu quetschen, wie ich hierzulande leider so oft schon beobachten konnte. Jeder wartet geduldig, bis es soweit ist und er an der Reihe ist. Oder man trifft auf eine wartende Menschenmenge und möchte vorbei? Durchdrängeln nicht nötig, die Menschen teilen sich wie Moses das Meer und bilden eine Gasse. Alles kein Problem. Diese Höflichkeit vermisse ich manchmal bei uns zu Hause.
So, Stefan hat nun fertig gegoogelt und kennt jetzt alle Fakten zur Entstehungsgeschichte des Kulturpalastes, sowie alles Wissenswerte, was es darüber zu wissen gibt. Darüber hinaus recherchiert er die „Goldenen Terrassen“, ein riesiges, sehr edles Einkaufszentrum nahe dem Kulturpalast, gleich mit. Ich denke mir gerade, dass mir dieselbe Zeit gerade eben dazu gereicht hatte, um meinen Glühwein zu trinken, und bin, wie immer, tief beeindruckt von seiner tiefgreifenden, unbändigen Neugierde.