Heute ist der wohl einzige Tag der Woche, an dem durchgehend Nieselregen angesagt ist. Doch Mama braucht sich gar nicht erst auf einen ruhigen Tag zu freuen, verschanzt in ihrem Ferienzimmer ohne Blick nach draußen. Ruhige Tage hat man im Rentenalter eh schon zu Genüge, wenn ihr mich fragt – und ich habe Pläne. So jage ich uns raus in den Regen und ins Auto.
Die Marienburg ist ein Muss für alle, die die Gegend besuchen, und wie kann man besser regnerisches Wetter nutzen als die alten Mauern dieses riesigen Verteidigungsbauwerks zu erkunden. Der Hund freut sich bereits auf einen Spaziergang, bis er enttäuscht feststellt, dass einmal mehr eine längere Fahrt im Hundekörbchenknast angesagt ist. Mit einem Spezial-Hunde(folter)geschirr an den Rücksitz fixiert ist nur noch ein Winseln von ihm zu hören. Ich dachte, Frauchen liebt mich. Ruft Peeetaaa!
Die Fahrt zieht sich in die Länge, denn um die Burganlage zu erreichen, müssen wir die Frische Nehrung über die einzige Zufahrtsstraße verlassen, und die gleicht im Augenblick einer Baustelle. Wechselampeln führen zu langen Staus. Stockend bewegen wir uns vorwärts und ich beginne schon an der Sinnhaftigkeit meiner Idee zu zweifeln. Vielleicht wäre ein ruhiger Tag in der Wohnung gar nicht so falsch gewesen. „Soll ich umdrehen?“ Frage ich meine Mutter. „Wenn wir schon einmal hier drinnen sitzen, dann fahren wir weiter.“ Meint sie nach kurzem Zögern. Es ist egal, wann wir ankommen. Dann sind wir da und Koki streckt erleichtert seine Glieder.
Dann schauen wir hin, zu dem Ungetüm von Festung, das sich auf der anderen Seite der viel befahrenen Straße auf über 21 Hektar Gesamtfläche erstreckt. Sie gehörte dem Deutschen Orden, dann war sie mal unter polnischer, mal unter preußischer Schirmherrschaft und zeitweise hatten auch die Schweden ihre Hände im Spiel. Mir gefällt die Art, wie man in Polen mit der Geschichte dieses Landes und dem Erbe anderer Völker umgeht, auch wenn es sich um das Erbe ehemaliger Besatzungsmächte handelt. Nüchtern, reflektiert werden historische Aspekte ausgeleuchtet. Die Hinterlassenschaften werden zu Sehenswürdigkeiten, doch dabei versucht man sie in keinster Weise zu adaptieren. Die Geschichte der Völker ist bewegt. Schaut her, so war es. Alles wird erhalten.
Genau wie dieses hier. Mir fällt auf, dass sich in deutschsprachigem Raum eine Art mystischer Faszination um den Deutschen Orden gebildet hatte. Dies ist in Polen nicht der Fall. In der polnischen Historie ist „Krzyzacy“ (Kreuzritter, eine Bezeichnung, die im Polnischen speziell den hier angesiedelten Deutschen Orden meint) ein Synonym für eine plündernde und mordende Bande geworden. Ohne jegliche Faszination. Vielleicht kommt es einfach darauf an, auf welcher Seite des Schwertes man sich sieht. Doch Fun Fact am Rande: es waren die Polen selbst, die die Ritter des Deutschen Ordens auf das polnische Staatsgebiet einluden.
Der Deutsche Orden wurde von Hermann von Salza, dem Berater Kaiser Friedrich II, 1210 gegründet. Die ersten Versuche, ein eigenstaatliches Territorium auf ungarischen Gebiet Siebenbürgen zu errichten, schlugen fehl. Doch eine glückliche Fügung wollte es, dass Herzog Konrad von Masowien den Orden um Schutz vor Angriffen der heidnischen Prußen bat. Das eröffnete Hermann von Salza neue Möglichkeiten, seine Pläne umzusetzen. Der Orden sicherte sich rechtlich die von den Prußen eroberten Gebiete zu, was den Grundstock für eine Staatsgründung bildete. Der Besitz der gewonnen Gebiete wurde von Papst Gregor IX als großzügige Schenkung Konrads an den Orden bestätigt und das Territorium selbst zum Eigentum der Kirche erklärt. Im Verlauf des 13 Jahrhunderts expandierte der Orden immer weiter und der Hochmeister übernahm den Regierungssitz auf Marienburg. Seine größte Gebietsausdehnung erreichte der Orden 1402.
Eine große Rolle bei der Staatsgründung auf polnischem Gebiet spielte die sogenannte Goldene Bulle von Rimini. Um die unterschiedliche Sichtweise auf den Deutschen Orden zu verstehen, sollte man wissen, dass sich die polnischen und die deutschen Geschichtsquellen unterscheiden. Nicht unbedingt, was Fakten betrifft; vielmehr in ihrer Art, wie die Fakten präsentiert werden. So ist auf der deutschsprachigen Seite der Wikipedia die Rede von „Expansion“ und „Gebietserweiterung“, von „rechtlicher Absicherung“ des Ordens und von „Gebietsschenkungen“. Was man hingegen nicht zu lesen bekommt, ist das Wort „Annexion“ und auch nicht vom Streit Konrads mit dem Orden um widerrechtlich annektierte Gebiete. Auch ist das Datum der Herausgabe der Goldenen Bulle umstritten, jenes Dokuments, welches als rechtliche bindender Vertrag dem Hochmeister und somit der Kirche die infrage kommenden, polnischen Staatsgebiete zuspricht. Historiker vermuten, dass das Dokument rückdatiert und tatsächlich 1235 und nicht, wie es offiziell heißt, 1226, herausgegeben wurde.
Es gibt hier viele historische Wendungen, ich will das Ganze mal abkürzen. Zu Beginn kann man die Beziehungen zwischen den polnischen Herrschern und dem Deutschen Orden durchaus als eine schwierige Zusammenarbeit bezeichnen. Doch diese Zusammenarbeit entwickelte sich zusehends in eine für das polnisch-litauische Königreich ungünstige Richtung. Der Deutsche Orden breitete sich im heutigen Pommern aus und sicherte sich den Zugang zur Baltischen See. Der aus der Gesamtsituation resultierende Große Krieg Polens-Litauens und des Deutschen Ordens hatte seinen Höhepunkt in der Schlacht am Tannenberg (pln. Bitwa pod Grunwaldem). Der Sieg brachte Polen Frieden, doch brachte nicht die verlorenen Gebiete von Pommern zurück. Doch der erzwungene Frieden schwächte den Deutschen Orden ökonomisch, so kam es erst zu einem Handelskrieg, der sich in erhöhten Zöllen und Blockaden äußerte und schließlich in einem Aufstand der preußischen Staatsbewohner auf dem Staatsgebiet des Ordens und in einem zweiten Krieg mit Polen gipfelte. Dieser zweite Krieg war für die Polen siegreich und sicherte ihnen Pommern und Teile des ehemaligen Staatsgebietes einschließlich der Hauptstadt des Deutschen Ordens, der Marienburg, zurück.
Natürlich war das nicht das letzte Wort und es kam im Laufe der Jahre zu weiteren Zusammenstößen zwischen den beiden Staaten. Wir wollen nicht mehr näher darauf eingehen, denn das würde den Rahmen sprengen. Nur damit ihr wisst, weshalb sich die Marienburg (Malbork) zu einer der größten Attraktionen in Polen entwickelt hat, derer Faszination immer größer wird. Und wie groß war meine Verwunderung, als ich während meiner Recherche feststellte, dass der Deutsche Orden noch heute existiert und mit seinem Hauptsitz in Wien der direkte Nachfolger des Ritterordens aus Zeiten der Kreuzzüge darstellt. Sein Motto: Helfen und heilen. Seit 800 Jahren.
Wie hole ich euch am besten zurück in die Gegenwart? Das überlasse ich Koki, der ganz euphorisch an seiner Leine reißt, während wir über die Straße gehen. Wir überqueren die Außenanlagen, denn zum Kassenhäuschen ist es noch ein ganzes Stück Fußweg. Währenddessen ist meine Mama mit den Nerven am Ende. Menschen, Hunde, ein neuer Ort und der Bewegungsdrang ihres vierbeinigen Schützlings verlangen ihr Geduld ab, und schon bald landet die Hundeleine in meiner Hand. Als wir die langersehnten Tickets in unseren Händen halten, möchte Mama eigentlich wieder nach Hause fahren.
Doch die Marienburg hat einen besonderen Service anzubieten: Hundesitting für die Zeit der Besichtigung. Wohlwissend, dass es in einem Drama münden wird, suchen wir den gutgelaunten Wachmeister auf. Mit Leckerli und List wird Koki in ein Gehege gelotst und ehe er merkt, wie ihm geschieht, biegen wir um die Ecke und entfernen uns schnellen Schrittes. „Lauf!“ Sage ich zu meiner Mutter. Völlig unnötig, denn sie läuft vor mir. Zufrieden lassen wir uns zum Verschnaufen auf einer Bank nieder, während hinter uns ein jämmerliches Lamento ertönt. Endlich frei.
„Was meinst du, wie lange es so weiter geht?“ Frage ich Mama und mache einen Kopfzeig in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Sie wisse es nicht, sagt sie. „Bestimmt noch die nächste Stunde.“ Mir ist bewusst, welche Verlustängste der junge Hund gerade durchleben muss. Und doch kann er nicht überall mit. So langsam muss er sich daran gewöhnen, hin und wieder alleine zu bleiben. Wir rüsten unsere Audioguides, betreten den Burghof und beginnen mit der Besichtigung.
Die Festung ist von hohen Mauern und einem Verteidigungswall umschlossen. Sie liegt am rechten Ufer der Nogat, einem Mündungsarm der Weichsel und gliedert sich in Vorburg, Mittelschloss und Hochburg. Die Altstadt Malborks war mit seinen Stadtmauern mit den Mauern der Marienburg zu einem einheitlichen Verteidigungssystem verbunden. Im Stil der Backsteingotik erbaut gilt das UNESCO-Welterbe als eine der größten Burgen der Welt. Seine Verteidigungsanlagen bestehen aus einer Kombination eines Graben-Zwinger- und Viermauersystems.
Die Vorburg beherbergt Wirtschaftsgebäude. Hier in einem davon wurde unser armer Koki zurückgelassen untergebracht. Hier waren auch die Gebetsräume der niederen Ordensmitglieder. Das Mittelschloss beinhaltete den Sitz des Hochmeisters, wie auch die repräsentativen Räume, wo Staatsgäste empfangen wurden. Die beiden Refektorien (hier: Speisesäle), das Sommer- und Winterrefektorium, wurden durch unzählige Spitzbogenfenster gesäumt. Das Gewölbe wird von einer einzigen Säule getragen. Im Sommerrefektorium ist eine Kanonenkugel in der Wand über dem Kamin zu sehen. Eine vom Orden verbreitete Legende besagt, sie sei das Ergebnis eines versuchten Angriffs des polnischen Königs Jagello, der die Mittelsäule zum Einsturz bringen und die anwesenden Würdenführer unter den Trümmern vergraben wollte. Dank einer göttlichen Fügung verfehlte die Kugel ihr Ziel und blieb über dem Kamin stecken. Historiker sind sich hingegen ziemlich sicher, dass die Kanonenkugel nachträglich in die Wand angebracht wurde, um die Moral der Ordensbrüder zu stärken.
Der Audioguide führt uns, von der rechten Seite an beginnend, durch die Säle, Treppen rauf und Treppen runter. Mehrere Stunden würde eine ausführliche Führung vermutlich in Anspruch nehmen. So viele Flächen gibt es zu sehen. Doch bereits nach einiger Zeit – wir sind noch nicht allzu weit vorgerückt – hat Mama genug. Das Knie meldet sich. So bleiben wir nur noch in der stimmungsvollen Burgschenke hängen, ehe es daran geht, den verlassenen Koki wieder abzuholen. Als wir uns dem Zwinger nähern, ist alles ruhig. Erstaunt treten wir näher. „Wie lange hat er noch geklagt?“ Frage ich den Wachmann. Lange, sagt dieser. Doch das sei nicht ungewöhnlich. Als wir den Zwinger öffnen, sieht uns ein zitterndes, verängstigtes Häufchen Elend an. Koki klagt nicht, doch von nun an weicht er keinen Millimeter mehr von meiner Mutters Seite.
Toller Bericht über die Heimat meiner Vorfahren. Danke dafür!
Danke fürs Lesen 😉
Ich bin noch nicht durch alle Beiträge durch, aber ich bemühe mich! 😄
Ja, genau, es geht mir auch so 🙂 Ich glaube, wir gehören beide zu den Vielpostern, das ist unser Problem *lach*
Hi Kasia,
schon erstaunlich was sich der deutsche Orden da für ein Bauwerk hingeknallt hat. Etwas Oversized würde man denken – ist so ein bißken wie der Porschefahrer, der damit ein gewisses körperliches Defizit ausgleichen will..
Dass der deutsche Orden eher so was wie die Hells Angels auf Pferden waren wusste ich nicht – dass eine gewisse positive Verklärung der Geschichte auf der Seite der Gewinner auftritt ist ja leider üblich. Aber letztlich es ist wie Du sagst: kommt drauf an ob die Gewehrmündung auf dich oder von dir weg zeigt.
Viel Spaß noch mit Koki.. 🙂
wir lesen uns!
P.
Hells Angels auf Pferden, das gefällt mir 🙂 Trifft es ziemlich genau. Eventuell bin ich auch voreingenommen (Gewehrmündung und so), aber Koki wollte auch schnellstmöglich da weg 😉
Wie gut, dass du die Mutter trotz des nicht ganz so passablen Wetters nach draußen gejagt hast. Und noch besser, dass du dich mit harter Hand bzw. mit strengeren Sitten in die Erziehung des Vierbeiners eingemischt hast 😁.
Die Marienburg ist ja ein echt fetter Kasten! Ich muss gestehen, dass ich mich mit der Geschichte des Deutschen Ordens nie beschäftigt habe. Danke deshalb für die Aufklärung im groben Zügen.
Der Deutsche Orden ist in Polen berüchtigt und darf in keinem Geschichts-Schulbuch fehlen. Über die heldenhaften Kämpfe (der Polen) mit den Schurken (dem D.O.) wurden bereits Romane geschrieben, die zu wichtigen literarischen Werken des Landes zählen. Diese wurden vielfach verfilmt. Du siehst, es ist schier unmöglich, die „Krzyzacy“ als Pole nicht zu kennen 🙂
Ob das gut war, dass ich mich in die Kindes… pardon: Hundeerziehung eingemischt habe? Ich weiß nicht. Eigentlich habe ich keine Ahnung von Hunden. Und meine Mutter auch nicht. Und das hat man uns angesehen, fürchte ich *ähm* Die Hundeflüsterer waren wir nicht gerade 😉
Besser zu streng als zu lax! Sagt eine, die von Hunden auch keine Ahnung hat 😅.
Dann bin ich ja beruhigt 🙂
Liebe Kasia, danke für’s Mitnehmen und die interessanten Erläuterungen. Es war damals schon so wie es heute noch immer ist. Starke Staaten überfallen kleinere oder ziehen sie über den Tisch um Macht, Land und Bodenschätze zu gewinnen. Die Menschen haben aus der Vergangenheit nichts gelernt.
Liebe Grüße, Harald
Lieber Harald, vielen Dank für deinen Kommentar. Du hast Recht, die Welt entwickelt sich in keine gute Richtung. Lange war ich naiv genug zu glauben, wir hätten derlei hinter uns gelassen, doch Krieg kommt nie aus der Mode. Meine Familie in Polen schaut momentan sorgenvoll in die Zukunft.
Liebe Grüße
Kasia