Reblog: der Artikel erschien bereits 2020
Die Frau nimmt ihr Stativ in die Hand und wandert noch ein Stückchen auf die Wellen zu. Die Kamera wird sorgfältig platziert, bis sie schließlich genau den richtigen Winkel erfasst. So nah am Meer stellt man sicher, dass einem niemand von hinten ins Bild läuft. Dann entfernt sie sich vom Objektiv – für die richtige Perspektive. Noch ein paar Schritte in Richtung Ozean.
Und dann… „Nein, tue das nicht.“ Denke ich mir. Doch die Frau tut es, sie dreht den Wellen den Rücken zu. Die Aufnahme startet – sie beginnt zu sprechen.
Renisfjara Black Beach – der schönste Strand Islands
Überall warnen die Schilder davor. Sie sind eigentlich das erste, was mir auffällt, als ich aus dem Bus steige, nur ein paar hundert Meter weiter von dem, was für mich bisher der schönste Ort der Reise war. Ein traumhafter Ausblick auf die schwarzen Strände von Islands Südküste (lies auch: „Von schwarzen Stränden und Trollfelsen“.)
Der Reynisfjara Black Beach soll das ganze noch toppen, hier ist der Spot schlechthin, zu dem alle Besucher strömen, der Platz, den man „in Island gesehen haben muss“, einer der Strände, die du „nicht verpassen darfst“, glaubt man einschlägigen, SEO-orientierten Blogs. Der schwarze Strand von Vik ist von Islands Magazine 1991 zu einem der schönsten Strände der Erde gekürt worden.
Und so stehe ich schließlich da, mit gefühlt tausend anderen, die sich in der sowieso nicht allzu großen Bucht drängen. Ich stehe da und staune.
Der Reynisfjara Black Beach, diese spezielle, berühmte Bucht – ja, er ist schön, keine Frage. Pechschwarz verläuft die Strandlinie, glänzend und schwarzblau schimmert der vulkanische Sand dort, wo ihn das Wasser des Ozeans berührte. Links von mir – eine Höhle mit hohen, schlanken Basaltsäulen, die aussieht wie eine Kathedrale. Tatsächlich ist die große Kathedrale Hallgrímskirkja in Reykjavik genau dieser Höhle nachempfunden worden.
Auf den schwarzen, rund geschliffenen Lavasteinen setzt sich weißer Raureif ab. Der Strand ist bedeckt von tausend Fußspuren. Und auch hier irrt auf der Oberfläche des tobenden Ozeans ein fahles, messingfarbenes Licht. Im Sommer brüten hier Papageientaucher, die jetzt allerdings, den kalten Winter über, lieber auf offener See überwintern.
Ja, es ist ein schöner Ort, keine Frage. Doch vergebens suche ich nach dem Besonderen, nach etwas, was den Andrang rechtfertigen könnte, zumindest was diese eine Bucht betrifft – denn der Strand von Vik zieht sich die gesamte Küste entlang. Und da gibt es durchaus schönere Abschnitte.
In Island, in einem Land, das fast ausschließlich aus besonderen, wunderschönen Orten besteht, muss es schon mehr geben, um so einen Hype um einen einzigen Strandabschnitt zu rechtfertigen. Etwa, dass hier an diesem Strand Filme gedreht wurden. Die Küste hier besteht nur aus solchen, irre schönen Spots – und jedes davon ist speziell. Und die meisten davon sind verlassen, an die meisten schwarzen Abschnitte des Reynisfjara Strandes kommt keiner hin, außer die Einheimischen. Nur hier in dieser einen Bucht – hier tummeln sich die Menschen.
Wie Touristen uns lehrten, unser Land zu lieben
„Der Ort ist doch völlig überhyped, oder?“ Frage ich später Sculi, unseren Guide. „Ja.“ Sagt er, froh darüber, dass es mal jemand ausspricht. „Aber ich muss euch dorthin bringen, es ist Teil des Programms. Wenn ich ein paar Kilometer weiter die Straße entlang fahre, finden sich viele solche Strände. Sie unterscheiden sich in nichts von diesem hier. Nur sind sie menschenleer und ich habe ihn für mich alleine.“ Sculi zieht öfters mit seiner Kameraausrüstung los, einfach nur, um zu fotografieren; um die Schönheit dieses Landes aufzunehmen. Es gibt viele schöne Plätze auf Island.
„Früher haben sich die Menschen hier in Island nicht so sehr darum gekümmert.“ Weiß er zu erzählen. „Sie hatten keinen Blick dafür, ob es hier schön ist oder nicht. Es war halt ihr Leben und ihr Alltag, und in den Urlaub wollte jeder woanders hin fliegen, am liebsten ins Ausland, an warme Strände.“ Er selbst, sagt er, hat schon immer Island geliebt. Und dann sagt er etwas, das mir zu denken gibt. In Zeiten, in denen Overtourism in aller Munde ist; in denen sich jeder beklagt, Länder und Orte nicht mehr für sich alleine zu haben, bringt er mich zum Umdenken.
„Erst seit Island touristisch erschlossen wurde, haben wir erkannt, wie besonders es ist. Seit hunderttausende jedes Jahr auf unsere Insel strömen, sehen wir das Land mit ihren Augen; immer mehr Isländer machen Urlaub in ihrem eigenen Land. Die Besucher haben uns gelehrt, die Schönheit Islands zu erkennen und unser Land zu lieben.“
Ja, es stimmt schon: Island ist überlaufen. In 2016 hat die Zahl der Besucher zum ersten Mal die Zwei-Millionen Marke geknackt und seitdem sind es nicht weniger geworden. Justin Bieber war hier, Angelina Jolie auch, hier wurden Game of Thrones und James Bond gedreht.
Die Besucherzahlen übersteigen um ein Vielfaches die Einwohnerzahl des Landes, die irgendwo bei 350 000 liegt; etwas höher also als, sagen wir, Mannheim. Doch dieses Land ist tatsächlich etwas Besonderes, Besuchermassen hin oder her. Es ist großartig. Nur sind wir eben nicht mehr die ersten.
Doch dürfen wir so egoistisch sein? Für uns bedeutet Overtourism vielleicht, dass wir nicht mehr die ersten sind, nicht mehr die Entdecker, dass wir uns nicht mehr „Marco Polo“ auf unser Ego-Fähnchen schreiben können. Doch was bedeutet Tourismus für die Menschen? Schon mal auf die Idee gekommen, dass sie eventuell stolz sein könnten auf das, was ihr Land zu bieten hat?
Der Wiesenkurier (unbeauftragte Werbung) hat sich in seinem Artikel: „Wie Island den Massentourismus bewältigen will“ von Oktober 2019 damit beschäftigt, welche Auswirkungen der immer stärkere Tourismus auf Island hat und wie die isländische Regierung damit
umgeht.
Die gleiche Anekdote erzählt Sculi zu den Nordlichtern. Immer, wenn er die Begeisterung der Besucher sieht, muss er schmunzeln. Die Nordlichter sehen, das ist das Highlight beinahe jedes Menschen, der nach Island reist. „Nordlichter waren für uns früher nichts Spezielles. Sie waren mal da, dann wieder nicht; ab und zu habe ich sie gesehen auf dem Weg zur Arbeit oder in die Stadt. Seit ich als Guide arbeite und sehe, wie begeistert die Menschen bei ihrem Anblick sind, fange ich an, es mit ihren Augen zu sehen. Langsam verstehe ich das.“
Seitdem sind Nordlichter auch Sculis Faszination. Er kauft sich eine entsprechende Ausrüstung und wird zum Nordlichtjäger. Stolz zeigt er uns seine vielen Aufnahmen. Sculi ist nun genauso fasziniert wie wir.
Reynisfjara Beach – gefährliche Snake Waves
So überhyped ich den Ort finde, so gebe ich ihm doch noch eine Chance. Längere Zeit bleibe ich stehen und schaue den tobenden Wellen zu. Die Beschilderung warnt eindringlich vor der größten Gefahr, die hier im Wasser lauert und nein, für Haie ist es hier zu kalt. Es ist der Ozean selbst, der dir, lieber Besucher, ans Leder und ans Leben will.
Schon im Bus schärft uns Sculi eindringlich ein: „Seid vorsichtig! Geht nicht zu nahe an die Wellen heran. Sie sehen auf den ersten Blick harmlos aus, doch das täuscht. Es kommen immer zwei Wellen hintereinander. Die erste Welle macht eure Füße nass. Ihr lacht, ihr rennt weg, es ist lustig. Doch gleich danach kommt unerwartet die zweite Welle nach, das ist die Snake Wave. Sie ist so stark, dass sie euch von den Füßen reist und mitzieht. Wir haben schon Menschen hier verloren, wir wollen nicht noch mehr verlieren.“
Vielleicht ist es auch die Gefahr, die hier die Menschen reizt, denke ich mir, als ich am besagten Strand stehe. Es ist ein sehr gefährlicher Ort und ich habe großen Respekt vor den Gewalten der Natur, die sich hier hemmungslos austobt. Der schwarze Strand ist bis in weite Bereiche hinein nass und das sollte den Leuten eigentlich Warnung genug sein, denn daran kann man sehen, wie weit das Wasser vordringen kann.
Doch denkste. Die Menschen stellen sich so nahe an die Wasserlinie, als würden sie förmlich darum beten, eingezogen zu werden. Genauso wie die Frau mit dem Stativ, die nun den Wellen den Rücken zukehrt und fröhlich in ihre Kamera plappert. „Kehrt niemals, niemals dem Meer den Rücken zu.“ Schärft uns der Guide noch im Bus ein. Doch für eine gute Insta-Story kann man schon mal sein Leben riskieren, oder?
Fotografe mit Stativen, Familien mit Kindern, ein Hochzeitspaar, das für die Bilder ihres Lebens posiert. Ich komme mir vor wie auf einer großen Kirmes. Der Popcorn und die Gaukler fehlen, doch auch ein Restaurant ist da. Und die Menschen gehen so leichtsinnig mit der Gefahr um, dass mir schwindelig wird, wenn ich das sehe. Ein kleines Mädchen tanzt kurz vor der Wasserlinie herum, die Eltern haben sich abgewandt, sind beschäftigt. Das Kind kann es nicht besser wissen, die Eltern schon.
Menschen gehen so nahe ans Wasser heran, dass in meinem Kopf alle Radare angehen. Gefahr, Gefahr…
Und wenn dann doch eine noch größere Welle herangerollt kommt, dann heißt es: Stativ und die Beine in die Hand nehmen, das Brautkleid festhalten und rennen…
Na, wen kassiert es diesmal ein? – Schießt mir der gehässige Gedanke durch den Kopf.
Natürlich will ich nicht, dass es irgend jemanden einkassiert. Niemand will, dass es irgend jemanden einkassiert. Doch bei so viel Dummheit, da fehlen mir die Worte.
Einen guten Artikel zu der Gefahr, die Snake Waves am Reynisfjara Beach mit sich bringen, gibt es auf dem Blog Ankerherz nachzulesen, inklusive Video. Andreas von Reisewut hat einen sehr informativen Beitrag geschrieben darüber, was man am Reynisfjara Black Sand Beach beachten sollte und auf dem Blog Wanderlust wird der Strand als einer der gefährlichsten Strände Islands beschrieben.
Ich weiß auch nicht was diese Menschen dazu treibt so leichtfertig mit ihem Leben umzugehen. Ist es Dummheit, Leichtsinn oder Abenteuer-/Sensationslust?
Ich vermute, es ist einfach Leichtsinn. Vielleicht denkt man auch, mich erwischt es nicht?
Die Stativ-Lady spielt wohl gerne mit ihrem Leben. Ich kapiere das auch nie, wieso Besucher die Warnungen an Orten, mit denen sie selbst nicht vertraut sind, buchstäblich in den Wind schlagen. Wie ist die Story mit ihr denn schlussendlich ausgegangen?
Ja, irgendwie unverständlich, wieso sich alle, eure Truppe inklusive, in der gleichen Bucht tummeln und stapeln, wenn andere Abschnitte dieses Strandes genauso schön sind. Merkwürdig. Auch dass euer Guide das nicht bei seinem Arbeit- oder Auftraggeber durchsetzt, einfach eine anderen Abschnitt anzufahren.
Spannend, dass euer Guide es so sieht, dass es seine Landsleute auch den Touristen verdanken, dass sie die Schönheiten ihres Landes als solche wahrnehmen und wertschätzen. Interessante Sichtweise! Hatte ich so noch nicht gesehen, überzeugt mich aber.
Mich hat es auch stark zum Nachdenken gebracht, diese Sichtweise. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Isländer recht verständnisvoll mit Touristen sind.
Der Strand mit den Trollfelsen ist ein sehr bekannter Hotspot, ich glaube, der gehört bei vielen Tourenanbietern einfach dazu. Es gibt meiner Meinung nach schönere oder genauso schöne Strände, aber eventuell haben viele die Erwartung, in Island genau diesen einen zu sehen.
Die Dame mit dem Stativ: ich weiß nicht mehr, was aus ihr wurde, aber ich glaube, sie hat es überlebt 😉 Um mal wieder ernster zu werden, der Guide hat noch im Bus zu uns gesagt: Seid vorsichtig, wir werden keinen mehr verlieren. Und bei „keinem mehr“ ist es mir kalt den Rücken runter gelaufen. Keine Ahnung, ob die Leute es unterschätzen, oder nicht informiert werden? Ich kann es nicht sagen. Wir wurden mit einer Ernsthaftigkeit gewarnt, die keinen Zweifel übrig ließ. Und ich gehöre ja nicht eben zu der ängstlichen Sorte 🙂
Also, wenn Skuli eine Tour „Die Schönheiten Islands abseits der Touristenpfade“ anbietet, mache ich die sofort mit. Island ist ohnehin auf meiner Unbedingt Noch Sehen-Liste.
Mit Sicherheit gibt es solche Touren. Die Nordwestküste ist weniger überlaufen, und im Winter ist weniger los (gut, wir waren mit dem Bus unterwegs, da bist du zu jeder Zeit von einer Traube Menschen umgeben). Es gibt auf Island viele unentdeckte Orte. Es ist wie überall: geht man den Hotspots aus dem Weg, wird es auf einmal ganz einsam um einen herum 😉
Wieder mal eine Dankeschön für deinen tollen Beitrag. Leider konnte ich zu meiner Zeit diesen Strand nicht besuchen, daher war es umso spannender deinen Beitrag zu lesen.
Liebe Grüße, Roland
Schwer zu sagen, ob du etwas verpasst hast oder nicht… der Strand ist sehr schön, aber überlaufen und mir hat der Strand davor mit diesem riesigen, schwarzen Lavablock viel besser gefallen. Viele Orte auf Island sind wundervoll, manche sind einfach etwas gehypter als andere. Liebe Grüße