Belgien, Europa

Gent – Das Lichterfestival

Lust haben wir eigentlich keine mehr. So wie man am Wochenende eigentlich keine Lust hat, wegzufahren. Am liebsten würde man zu Hause bleiben, ein natürlicher Impuls eines arbeitenden Menschen. Doch wie so oft entpuppt sich der Gedanke, seine Bequemlichkeit hinter sich zu lassen, als ein durchaus lohnender. Wie jetzt auch. Denn eigentlich haben wir nach einem langen, ausgiebigen Spaziergang am Strand von Blankenberge und über die Dünen, von denen Stefan behauptet, dass es sie nicht gibt, Lust auf ein Nickerchen.

Als wir nach einer Stunde losfahren, nieselt der Regen fein an die Fensterscheibe des Wagens. Vor uns türmen sich Wolken. Doch wir können Gent nicht Gent sein lassen, denn eigens dafür sind wir hier.

Die belgische Stadt mit seiner UNESCO-Altstadt liegt circa eine Fahrtstunde nordöstlich von Blankenberge. Alle zwei Jahre findet hier, im Zentrum Europas, das Lichterfestival statt. Installationen werden planweise über der ganzen Altstadt verteilt. Das will ich mir nicht entgehen lassen und kurzentschlossen nahm ich Stefan mit.

Gent gehört zu den drei belgischen Umweltzonen. Die anderen beiden sind Antwerpen und Brüssel. Für diese Umweltzonen ist für ausländische Kennzeichen eine Registrierung vorgesehen. Was zumindest in Gent wenig Sinn macht, denn der Nahverkehr fährt pünktlich und zuverlässig. Für die Zeit des Lichterfestivals haben die Stadtverwalter das Parkproblem geschickt gelöst: bereits an der Autobahn sind an strategisch wichtigen Ausfahrtsstellen Hinweistafeln auf Gratis-Parkplätze verteilt. Die großen Flächen im Industriegebiet sind auch vonnöten, will man die Menge an Besuchern aus aller Welt unterbringen. Regulär belaufen sich die Parkkosten auf fünfzehn Euro am Tag. Doch heute sind die Schranken oben und die anwesenden Ordner nur dazu da, die ankommenden Fahrzeuge zu verteilen.

Von hier aus fährt in Minutentakt eine Straßenbahn in die Innenstadt. Schon während der Fahrt, als wir durch das Fenster spähen, fallen uns alte, hohe Villen auf. Schön sehen sie aus, doch die Stadt wird noch viel schöner. Während einer historischen Bootsfahrt dürfen wir das erleben.

Die Bahn hält am Justizpalast. Die Ankunft in der Genter Altstadt erlebe ich wie im Traum. Das ist einer leichten Augentrockenheit und nicht dem leckeren, starken, belgischen Bier geschuldet (zu diesem Zeitpunkt zumindest noch nicht). Wir kommen gegen halb fünf am Nachmittag an, es ist noch hell. Nur langsam bricht die Blaue Stunde an, die alles noch fotogener, noch sehenswerter erscheinen lässt. Wie hypnotisiert folge ich den Menschen, die alle auf ein bestimmtes Ziel hinzuströmen scheinen. Wie im Traum springe ich von Eck zu Eck auf der Jagd nach einem noch besseren Fotomotiv. Und davon hat die Stadt so viele.

Die alte Brücke zum Beispiel, die berühmte Sint-Michielsbrug, die in der Altstadt die Leie umspannt. Früher eine Drehbrücke, wurde sie im 20 Jhd. durch eine Bogenbrücke ersetzt. Oder die Sint-Niklaaskerk, eine Pfarrkirche der wohlhabenden Bürger der Stadt, die die Altstadt dominiert und wie eine Kathedrale anmutet. Die Sint-Niklaaskerk ist kein Bischofssitz. Sie wurde im 13 Jhd. errichtet und dem hl. Nikolaus von Myra, dem Schutzheiligen der Handels- und Fuhrleute geweiht. Zu Napoleons Zeiten nutzte man sie als Pferdestall. Göttlicher Schutz für Mensch und Tier.

Des weiterem die St. Michaels-Kirche. Die Sankt Michaels-Kirche hat ein interessantes Detail: die fehlende Turmspitze. Der Bau begann im 15 Jahrhundert und wurde von reichen Bauern finanziert. Doch die Bauarbeiten zogen sich in die Länge. Als im 17 Jhd. die Einnahmen sanken und das Geld ausging, war es vorbei mit der Finanzierung.

Oder Belfort von Gent, mit 91 Metern Belgiens höchster Glockenturm. Die Sankt Bavo Kathedrale aus dem 12 Jahrhundert. Gemeinsam mit dem Belfort (Belfried) und der St. Nicolaus Kirche stellen sie die drei Türme der Altstadt.

Oder… oder… oder…

 

Belgien vom Wasser aus

Von der alten Brücke aus buchen wir eine vierzigminütige Bootsfahrt an den reichen Häusern der Altstadt entlang. Gent war über Jahrhunderte hinweg eine reiche Stadt, was an den prunkvollen Fassaden gut zu erkennen ist. Jeder wichtige, betuchte Bürger wollte sich hier ein Denkmal hinstellen. Da wäre dann das Kapitänshaus, mit einem Segelschiff auf dem Dach und zwei Löwenköpfen an den Seiten. Über die Tiere weiter oben können wir nur spekulieren, bis der Bootsführer das Geheimnis lüftet. Es sind Delphine, die hier so aussehen wie beschuppte, geflügelte Schlangen. Ja, meine Kinder: so hat man sich im elften Jahrhundert Delphine vorgestellt.

Wir erfahren viel über die Stadt. Seinen Reichtum hat die Stadt einem Handelsprivileg zu verdanken. Hier auf der Leie, zwischen zwei Brücken, befand sich bereits im 11 Jhd. der wichtigste Hafen der Stadt. Es wurde hauptsächlich Getreide umgeschlagen. Und das ließen sich die Genter Bürger versilbern. So hatte die Stadt das Recht, ein Viertel allen Getreides, das über die Leie oder die Schelde verfrachtet wurde, für sich zu beanspruchen. Der Rubel rollte, und die Häuser der Genter Kaufleute wurden zu Prachtbauten. Jeder, der was auf sich hielt, wollte dies auch zeigen. Die Häuser waren wichtige Statussymbole. Gent ist nicht nach dem Baustil eines oder zwei Jahrhunderte erbaut, hier finden sich Bauweisen aus allen Epochen. Das ist der Grund, weshalb die Altstadt den Schutzstatus der UNESCO hat.

Und die Fahrräder. Um die dreihunderttausend Fahrräder sind hier auf den Straßen unterwegs. Geparkt werden können die Drahtesel in einem der drei großen Parkhäusern, die auf einem großen, beleuchteten Verzeichnis markiert sind. Ein viertes Parkhaus wird gerade in der Halle des ehemaligen Fleischmarktes fertiggestellt.

Als die Tour nach fast einer Dreiviertelstunde endet, ist auch die Blaue Stunde vorbei. Es ist dunkel, doch nicht minder schön. Fast ist es so, als entfalte die Stadt gerade in der Dunkelheit ihre eigentliche Wirkung. Ich will Bier haben. Die Tische am Wasser sind belegt, doch in einem der Lokals direkt an der Bootsanlegestelle werden wir fündig. Das in einem Keller liegende Lokal bekommt durch das historische Deckengewölbe seinen ganz eigenen Charme. Es wird von einem asiatischem Pärchen betrieben und führt unter anderem eine lokale, köstliche Sorte Bier, das in der Region Gent gebraut wird, das Gruut. Nach dem Zauber der Bootsfahrt bedarf es einer Stärkung. Das zweite Bier, das der Stärkung dienen sollte, entpuppt sich als ein bierhaltiges Mischgetränk mit künstlichem Kirscharoma. Da habe ich wohl nicht aufgepasst. Stefan lacht sich schief, während ich den Mund verziehend an dem süßen Missgeschick der belgischen Braukunst nippe. Danach widmen wir uns dem Zauber der Nacht. Am Ufer amüsieren wir uns über die Herzchenbeleuchtung, die in den Fenstern anscheinend anlässlich des Valentinstages angebracht wurden. Die Scheibe der Turmuhr leuchtet blutrot.

Langsam schieben wir uns mit dem Strom der anderen Besucher mit, derer unzählige zum Lichtfestival gekommen sind. Und noch immer strömen Menschen in die Altstadt. Die lose in der Stadt verteilten, illuminierten Anlagen werden belagert. An manchen der Anlagen bin ich mir wirklich nicht mehr sicher, ob Hunderte Menschen einen wie von Zauberhand schwebenden Lichtfisch in einem Käfig sehen wollen oder ob irgendwo an der Ecke Bitcoins verteilt werden. Wenn ich die Massen so anschaue, dann wohl eher Letzteres.

Lieber zukünftiger Besucher der schönen Stadt Gent: ein kleiner Tipp von mir an dich. Wenn du hinreisen und die sehenswerte Altstadt besuchen willst, dann mach es. Gent ist ein Ort, für den man auch mal einen weiteren Abstecher oder eine längere Anfahrt durchaus in Kauf nehmen könnte, es lohnt sich. Doch für das alle zwei Jahre stattfindende Lichterfest würde ich nicht nochmal hin. Es ist eine tolle Idee, Gent bekannter zu machen und Besucher in die Stadt zu locken. Und das klappt gut. Überaus gut. Doch die beleuchteten Installationen sind nichts, was ich nicht schon mal so oder ähnlich gesehen hätte und dafür war es mir zu voll. Ich bin sicher, man kann den zauberhaften Ort auch ohne größere Menschenmengen genießen.

Aber sie sind gut organisiert, die Genter. Bereits nach einem kurzen Rundgang um die Kathedrale haben wir genug gesehen und steuern langsam wieder die Haltestelle an. Die Bahnlinie T1 fährt wieder vom Justizpalast ab. Für heute lassen wir den Abend auf der fabelhaften Terrasse unseres Hotels in Blankenberge ausklingen. Mit einem weiteren, leckeren Bier.

Noch ein Tipp von mir an euch, und der kommt vom Herzen. Wenn ihr auf einer Veranstaltung in Belgien seid und den Fahrer geben müsst, trinkt nichts. Wirklich nichts. Auch nicht ein Gläschen Bier. Sie kontrollieren. Auf unserer Fahrt zurück zum Hotel war strategisch günstig an einem Kreisel, an dem man vorbei musste, ein Kontrollposten eingerichtet und mein Stefan musste ins Röhrchen pusten. Natürlich hatte er nichts getrunken (er hatte da so ein Gefühl…). somit war er „sauber“. Also denkt dran. Nicht mal ein Bisschen.

 

Ein letzter Spaziergang

Ein gemütlich-gechillter Morgen am nächsten Morgen. Anstatt den Sonntag der Heimfahrt noch mit Plänen und Sehenswürdigkeiten vollzupacken, beschließen wir, es entspannt angehen zu lassen. Ein langer, langer Spaziergang nach dem Frühstück muss sein. Es ist windig, doch wärmer als am Vortag. Baustellenfahrzeuge düsen über den Strand und befördern Sand von einer Stelle zur nächsten. Der Strand muss wohl immer mal wieder künstlich aufgeschüttet werden, durch die häufiger vorkommenden Wetterereignisse aufgrund der Erderwärmung wird mehr Material den je von den Stränden abgetragen.

Unendliche Weiten

Wir laufen diesmal nach links, die Promenade entlang. Am Casino entdecke ich Installationen, die so manchen Kunstliebhaber unter uns wohl in Entzückung versetzt hätten. Es sind die Babys des tschechischen Artisten David Černý, die hier angebracht wurden. Ich stupse Stefan an. „Wie findest du die?“ Stefan schaut hoch und fragt mich ratlos: „Gollum?“ „Ja, genau! Danke!“ Rufe ich aus. Ungläubig schaue ich auf die Skulpturen. Die Dinger sind schwarz und übernatürlich riesig. Statt einem Gesicht haben die Babys ein Loch mit einem Lüftungsgitter (einem Strichcode, wie ich später erfahren soll). Sie krabbeln die Fassade entlang, als seien sie empor gekrochen, um die Menschheit zu fressen. Wie ein nuklearer Vorfall sieht das aus. Bevor ihr anfängt zu schimpfen, möchte ich erwähnen, dass ich von solcher Kunst nichts verstehe. Und mich auch nicht darum bemüht habe. So, jetzt dürft ihr schimpfen. Ich stehe zu meiner unqualifizierten Meinung.

Alienangriff Kunst

Noch ein Wort zu den Tankstellen. Gleich drei Mal hintereinander bin ich auf folgendes System gestoßen: an den Zapfsäulen befinden sich an der Seite Terminals für Kartenzahlungen. Man gibt den zu tankenden Betrag ein, bezahlt, dann wird besagter Betrag an der Zapfsäule freigegeben. Oft sind solche kleineren Dorftankstellen deshalb unbemannt.

Alles in allem ein schönes Wochenende, sage ich mir, als ich nach rund sechs Stunden am Sonntagabend wieder zu Hause bin. „War das nicht ein schönes Wochenende?“ Frage ich Stefan. Wir sind getrennt angereist, da uns die Arbeit am Freitag an verschiedene Orte geführt hat: ich kam aus Wittlich, mein Stefan aus Luxemburg. Jetzt kommt er etwa eine Stunde nach mir an. Ja, sagt Stefan. Ein schönes Wochenende. Wir schmieden Pläne für Belgien. Das kleine, unterschätzte Land in Europa, das in erster Linie durch „was machen die da schon wieder in Brüssel“ bekannt ist. Wir schmieden Pläne für Brügge.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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8 Kommentare

  1. stefantaege sagt:

    Das schönste Gebäude in Gent war für mich der Bahnhof.

    1. Ich weiß gar nicht, was für mich das schönste war, die ganze Stadt ist schnuckelig.

  2. Gent macht einen richtig tollen Eindruck. Das kommt jetzt glatt mal auf meine Liste, außerhalb des Lichterfestes, deinen Ratschlag befolgend. Ja, mit derlei Veranstaltungen ist es ein wenig wie mit der Menge an Ländern, Orten oder Landschaften, die man schon gesehen hat. Irgendwann bleibt der Reiz des Neuen auf der Strecke.

    Von den Niederlanden und Dänemark wusste ich, dass sie vorbildliche Radinfrastruktur bieten. Dass Belgien auch in dieser Liga mitspielt, war mir bisher nicht bekannt. Gut zu wissen!

    Bei der Vorstellung, an ein Bier mit Kirschgeschmack zu geraten, habe ich auch noch im Nachhinein ordentlich mitgelitten. Da musste zum Trost doch gleich ein richtiges Bier her!

    @Strichcode-Babies: na das wäre ja voll mein Ding! Haste doch sicher nur für mich hier in den Beitrag gesetzt, nicht wahr 😁?

    @Brügge: da war ich vor vielen Jahren mal. Ist richtig schön. Unbedingt hin mit euch!

    1. Strichcode-Babies: jaa, richtig erkannt, liebe Elke… ich wollte es ja nicht so direkt sagen, aber mit „manche von uns“ und „jetzt dürft ihr schimpfen“ hatte ich durchaus jemand Bestimmtes im Sinn 😉

      Brügge: das steht fest auf unserem Reiseplan. Problem ist nur, dass selbiger bereits überquillt. Und irgendwann sind auch mal die „langen Wochenenden“ ausgeschöpft.. aber ja, wir kommen da sicher mal hin.

      Kirschbier: das war irgendwie bäh… ich weiß auch nicht, Auch wenn ich solche Spielereien von Polen her gewöhnt bin (wir verhunzen unser Bier mit allen möglichen Säften und Sirups), ich habe in Belgien einfach nicht damit gerechnet.

      Radfahren: das Fahrradparkhaus hat mich tief beeindruckt. Man kann nicht nur eine Klimawende fordern, man muss den Menschen eine Infrastruktur dafür schaffen. Dann ergibt sich alles andere von alleine.

      1. Ich schimpfe fast nie 😁!

        1. Das ist gut 😉

    2. Sinnlosreisen sagt:

      Sehr schön, dieses Städtchen. Wir mussten leider schon zweimal unsere Belgienplanung wegen schlechtem Wetter verschieben. Als ich mal geschäftlich in Brüssel war, lernte ich auch die belgischen Biere kennen. Leffe Blonde hat mir sehr geschmeckt, aber diese Pfirsich, Waldmeister- Biere waren sehr gewöhnungsbedürftig.

      1. Diese seltsamen, fruchtigen Sorten sind auch nicht so meins. Entweder ich trinke Bier, ober eben kein Bier. Schlechtes Wetter in Belgien? Soll vorkommen… Wird es einen dritten Versuch geben?

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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