„Ja, doch. Rausgehen schon.“ Sagt Stefan und meint den Strand vor unserer Haustür. „Wenigstens einen Zeh ins Wasser stecken.“ Ich gebe zu bedenken, dass er sich eher die Turnschuhe nass macht als dass er nahe genug an das Wasser, Objekt seiner Begierde, herankommt. Als nächstes höre ich die Dusche laufen.
Ich schaue aus der verglasten Balkontüre nach draußen. Der Blick auf die Nordsee ist gigantisch, hier, im zehnten Stock eines Hotels in Blankenberge, Belgien. Die See ist von einem hellen Bleigrau, der Horizont noch ein wenig heller. Die Linie zwischen beiden Elementen zeichnet sich weich ab, für klare Konturen ist es nicht das richtige Wetter. Vielleicht auch nicht das richtige Wetter, um am Meer zu sein, doch wir verreisen gerne antizyklisch. So gibt es gute Hotels für günstig Geld und die schönsten Hotspots gehören uns allein. Gut, vielleicht haben die meisten Restaurants geschlossen. Vielleicht kann man sich nicht auf einem Handtuch am Strand ausstrecken. Doch das raue Wetter hat auch seinen Reiz. Beim Frühstück wirft Stefan als Anregung in den Raum, wir könnten ja von nun an jedes Jahr in der Zeit zwischen Januar und Februar ans Meer fahren.
Gelegenheiten dazu gäbe es genügend. So wie das Lichterfestival, welches alle zwei Jahre in Gent stattfindet, und wegen dem wir jetzt eigentlich hier sind. Blankenberge ist nur ein Zwischenstopp, nur ein kleiner Ort, an dem wir übernachten. Denn Stefan wollte ans Meer.
Die Anreise – gechillt
Gestern nach der Arbeit startet die Reise, fast unmittelbar sozusagen. Wir reisen getrennt an, da unsere Termine uns in verschiedene Teile der Bundesrepublik führen. So komme ich aus der Eifel und mein Freund aus Luxemburg. Nach der Eile der deutschen Autobahnen stelle ich mich auf die entspannte, belgische Fahrweise ein. Die Höchstgeschwindigkeit auf belgischen Autobahnen beträgt gemütliche 120 Kilometer die Stunde. Ich erinnere mich noch gut, wie mir früher jemand sagte: es ist einfach entspanntes Fahren. Und so empfinde ich es jetzt auch. Entspanntes fahren. Nur um den Brüsseler Ring wird es hektischer. Mit dem Stau habe ich gerechnet. Egal, um welche Uhrzeit und an welchem Wochentag ich meine Route überprüfte, immerzu sah ich in dieser Zone rot. Stockender Verkehr, der sich nach und nach auflöst, sobald wir uns von der Europahauptstadt entfernen.
Noch ein Wort zur einheimischen Fahrweise. Ruhig, zurückhaltend, lässt sie meinen Blutdruck sinken. Nicht überall und nicht alle Belgier fahren so gechillt, aber im Großen und Ganzen hält sich die unterschwellige Hektik in Grenzen.
Zunächst mal fahre ich durch Wallonien. Bergige, bewaldete Landschaften, die Eifel geht hier nahtlos über. Dann, hinter Brüssel, wandelt sich die Landschaft, wird flach und eben. Kleine und größere Höfe dominieren das Bild, Felder, dicke Weiden und hoch aufschießende Pappeln. Backsteinromantik. Das ist Flandern. Scharen von weißen Möwen lassen sich auf Feldern nieder.
Bei Brügge wird es wieder hektisch. Die strategisch wichtigen Zufahrten zur Stadt sind gesperrt, Traktoren und Polizei blockieren jeden Zugang. Gut, dass ich nicht nach Brügge will. Als ich mich einem Kreisel nähere, fährt gerade eine Kolonne Bauern hupend und blinkend hindurch. Die deutschen Bauernproteste haben sich auf Europa ausgeweitet. In Frankreich werden Reifen angezündet, in Deutschland Gülle ausgekippt. Und der ganze wütende Haufen bewegt sich nun in Richtung Brüssel. Dieses Wochenende wird es in der Hauptstadt rundgehen.
Blankenberge – touristisch
Blankenberge ist ein recht kleiner Badeort, der hauptsächlich vom Tourismus an der Küste lebt. Und vom Umschlaghafen, wo die Containerschiffe anlegen. Der Ärmelkanal zwischen Frankreich, Belgien und GB gehört mit circa 400-500 Schiffen pro Tag zu den meist befahrenen Seestraßen der Welt. „Es ist ein Verkehr wie auf der Autobahn.“ Wird Stefan später sagen, als wir zusammen auf dem Balkon stehen und in die Nacht hinaus schauen. Es ist dunkel, die See ist schwarz, wir sehen viele Lichter. Der beleuchtete Strand wirkt wie mit Puderzucker bestreut.
Doch noch ist Stefan nicht da. Es ist hell und auch, wenn die Sonne nicht scheint, zieht es mich nach draußen. Bis zu Stefans Ankunft habe ich noch anderthalb Stunden, Zeit für einen Strandspaziergang. Der Wind zerrt an der Kleidung, doch es ist nicht kalt. Typisches Küsten-Schmuddelwetter, wo die Schafe keine Locken mehr haben (ein Glätteisen-Schaf, auch interessant…). Vereinzelt sind tatsächlich Menschen unterwegs. Ich wähle den Weg mitten durch die Dünen, wo sich Gräser biegen im Wind. Am Strand dann folge ich den Muscheln und Steinchen, und den Lichtern, die mich ostwärts führen. Böen treiben den feinen Sand in Wellen vor mir her. Und die See rauscht und tost. „Baden verboten“, steht auf strategisch verteilten Schildern. Wer will den aktuell baden, denke ich, wie ich so vor der Wasserlinie stehe und auf die schäumenden Kämme der Wellen schaue. Die Wellen kommen näher, zerschlagen sich vor meinen Füßen und fressen sich tief ins Land. Hastig mache ich ein paar Schritte rückwärts. Meine wasserfesten Wanderschuhe liegen im Rucksack im Auto, da liegen sie gut.
Zurück laufe ich durch die Dünenlandschaft, da es gegen den Wind geht und die Dünen den Windzug einigermaßen abhalten. Es ist die gleiche Dünenlandschaft, von der Stefan später hartnäckig behaupten wird, dass es sie nicht gibt. Doch nun ist Stefan noch immer nicht da, ich schaue kurz auf die Uhr. Der Hunger treibt mich in die Nähe eines Restaurants, dort setze ich mich auf eine Bank und warte auf die Ankunft meines Liebsten. Doch soweit reicht die Liebe nicht, um weiterhin in der Kälte zu harren. Seufzend schleppe ich mich ins Hotel und aufs Zimmer.
Essen – köstlich
Später sitzen wir gemeinsam bei einem Abendessen in einem der wenigen Lokale, die in dem Badeort zu dieser Jahreszeit geöffnet haben. Es gibt lecker Hühnerfrikassee in Blätterteig und dicke, belgische Fritten. Außen knusprig, innen schmelzen sie dahin. Flandern hat eine ausgezeichnete Küche anzubieten. Die Menschen im Service sind freundlich und meist vielsprachig: sobald sie heraushören, dass wir Deutsche sind, versuchen sie je nach Fähigkeiten, ein paar Brocken mit uns zu sprechen. Ansonsten verständigen wir uns in englisch und kommen damit gut weiter. Ich sehe ihn nicht, diesen in Deutschland unterschwellig vorhandenen Rassismus, der sich in Sätzen äußert wie „dann sollen sie doch deutsch lernen.“ Nein, Belgien ist anders, zumindest das, was ich hier zur Beginn sehe und erlebe.
Die Preise an diesem Badeörtchen außerhalb der Saison sind gesalzen. So werden pro Bier rund acht- bis neun Euro berechnet. Wie in Island, denke ich mir sehnsüchtig – nur dass das Bier hier schmeckt. Aber zurück zum Thema: wollt ihr original belgisches Bier probieren, geht lieber in einen Supermarkt. Ja, selbst am nächsten Morgen in der Altstadt von Gent hatten die Getränke nicht so viel gekosten.
Am späten Abend sitzen wir auf dem Balkon, der zum Meer ausgerichtet ist. Ab und zu schreit eine Möwe, ansonsten ist da dieses stetige Meeresrauschen. Die See ist schwarz, der beleuchtete Strand sieht aus wie gepudert. Es war eine lange Anfahrt und es gibt nicht mehr viel zu tun, so sind wir recht früh im Bett.
Der Morgen beginnt mit einem hoteleigenem Sektfrühstück. Ja, richtig gehört: was tut man nicht für seine Gäste. Das Angebot wird so gut angenommen, dass die auf Eis gekühlte Sektflasche bereits leer ist, als ich näherkomme. So muss Kasia an diesem Morgen nüchtern ihr Dasein fristen (hier bitte eine Runde „Ooooh!“). Doch das ist halb so schlimm, denn was gibt es Schöneres, als einen langen, ausgiebigen Strandspaziergang. Ich nehme Stefan bei der Hand und wir laufen los. Und es macht gar nichts, dass der Wind stark bläst und es nach Regen aussieht. Stefan schaut immer wieder aufs Meer und sieht glücklich aus. Wir laufen an der Strandlinie entlang, den Wind im Rücken. Vor uns liegt in der dunstigen Ferne (doch so weit weg auch wieder nicht) der Hafen Zeebrugge. Hier hindurch fließt der Verkehr zwischen Süd- und Kontinentaleuropa, Großbritannien und Skandinavien. Es ist der zweitgrößte Hafen nach Antwerpen und einer der größten Häfen der Welt und Umschlagplatz für europäischen Handel.
Strandwandern
Das Meer sieht gelblich grau aus. Es hat die Farbe von Smog. Das ist wohl dem mitgeführtem Sand geschuldet. Schaumig kommen die Wellen am Strand an. Gerade ist Ebbe, „Niedrigwasser“, wie Stefan sagt. Genauso wie er etwas von „Hochwasser“ erzählt. Stefan, sage ich, Hochwasser ist dann, wenn das Wasser im Keller steht.
Wir sind nicht einmal ansatzweise allein am Strand. Die wenigen Gäste des Hotels so wie die Anwohner, sie alle scheinen spazieren zu sein. Die Hunde toben und haben Spaß, sie rennen über die flachen Wasserflächen in den Senken und fliegen mit dem Wind davon. „Das da,“ sage ich, „ist ein Windhund. Nur im falschen Körper geboren.“
Ich habe ehemals vom Meer geträumt. Nicht dieses warme, tropische Meer. Es war eine raue See mit angespülten Muscheln und Unrat, kalt und bewölkt und grau. Ich stieg auf ein Schiff, vielleicht ein Transportschiff, und fuhr davon, weit nach Norden, wo Eisschollen schwimmen und man sich durch Packeis kämpfen muss. Irgendwohin, wo ich noch nicht war.
Zurück gehen wir über nicht vorhandene Dünen, von denen Stefan im Vorfeld steif und fest behauptet hatte, dass es sie nicht gäbe. Es handelt sich um einen künstlich angelegten, aus einem ehemaligen Damm entstandenen Dünenstreifen. Dahinter befinden sich Senken, in denen sich Meerwasser sammelt. Diese Senken sind für Tiere und Vogelarten ein Ruckzugsort und Refugium. So wundert es nicht, dass die Dünen mit Zäunen abgesperrt und nur über fest vorgegebenen Wanderwege begehbar sind.
Wir sind müde, als wir am Nachmittag zum Hotel zurück kommen. Doch die Müdigkeit will dieses eine Mal ignoriert werden. Nach einem Stündchen Entspannung machen wir uns auf in das rund eine Stunde entfernt gelegene Gent. So eine UNESCO Welterbestätte besichtigt sich nicht von alleine…
Umweltzonen:
Belgien hat genau drei Umweltzonen, die sich jeweils in Gent, Antwerpen und Brüssel befinden. Für Ausländer sind diese Umweltzonen nur mit einer vorherigen Registrierung befahrbar. Man kann das Fahrzeug im Vorfeld online registrieren lassen. Die Registrierung ist kostenlos; bei Nichtbeachtung drohen Geldstrafen.
Parken:
Das Parken in Blankenberge ist in Zonen eingeteilt, die an den jeweiligen Parkautomaten wie auch an den Parkscheinen selbst erkennbar sind. Am teuersten ist die rote Zone, diese kostet bis zu 25 Euro pro Tagesticket und bis zu 2,50 Euro die Stunde. Orangene Zonen kosten rund 7,50 Euro pro Tagesticket und diese Option hat für uns den meisten Sinn ergeben. Blaue Zonen sind kostenlos, man kann bis zu zwei Stunden mit Parkscheibe parken. Privat geführte Parkhäuser sind ebenfalls eine Option, sie liegen preislich unwesentlich teurer als die orangene Zone.
Hidiho liebe Kasia,
Belgien kenne ich so ein bißchen vom durchfahren. Als ich noch in der Textil-Industrie tätig war, musste ich häufig nach Antwerpen in den Hafen um dort Rohstoffe aus China abzuholen. Und während meiner Zeit im Messebau hatte ich auch so den einen oder anderen Auftrag in Belgien. Allerdings ist Gent nicht Genf auch wenn das öfters verwechselt wird und beide die zweitgrößten Städte der jeweiligen Länder Schweiz und Belgien sind.. aber irgendwie ist Belgien ja fast wie die Schweiz.. 🙂
das schöne an Belgien ist in der Tat das gechillte fahren – und dass Autobahnen nacht voll beleuchtet sind! sooo coool! Nix mit angestrengt gucken ob da bei Tempo 250 auf der Überholspur ein polnischer Kleintransporter grade einen LKW überholt – was dein Dasein auf diesem Planeten in Sekundenbruchteilen beenden kann..
Ich finde die Reise schön beschrieben – habe fast so ein bissken Salzgeschmackl auf den Lippen und Sand zwischen den Zähnen.. knirscht schon sogar.. 😉
Bledib gesund und Grüße an Stefan – the Best Sidekick ever.. 🙂
CU
P.
Ich hoffe, du meintest „Zehen“ und dass du keinen Sand zwischen den Zähnen hast 😉 Vielen Dank für das Kompliment. Belgien ist ein Bisschen wie die Schweiz, nur flacher… seeehr viel flacher. Ansonsten habe ich noch nicht wirklich viel von dem Land gesehen. Ich habe nur festgestellt, dass die Menschen supernett und entspannt sind (außer die aus Raum Brüssel). Ein polnischer Kleintransporter wird nie ohne Vorwarnung überholen, die haben Respekt vor Fahrzeuge, die schneller sind als sie. Eine beleuchtete Autobahn ist was Feines, und entspanntes Fahren sowieso. Und man könnte wieder mal ans Meer. Hm, ich bin aktuell aus dem Urlaub zurück, bin aber übernächste Woche wieder weg an der polnischen Ostseeküste, beklagen kann ich mich also nicht…
Lg
Ja, antizyklisch ist beim Reisen immer gut. Das handhabe ich wenn möglich auch immer so. Ein Winterwochenende an der rauen Küste kann richtig toll sein trotz Kälte, wenig Tageslicht und vielen geschlossenen Restaurants. Die Leere und Beschaulichkeit machen da vieles wett. Ich bin schon gespannt, was du über Gent erzählen wirst!
Was die Sprachtoleranz betrifft, so habe ich da auch andere Erfahrungen gemacht. Wir hatten vor einer Weile deutsche Freunde besucht, die in Antwerpen leben und sehr gut niederländisch sprechen. Als wir einen gemeinsamen Tagesausflug nach Brüssel machten und ein Café besuchten, wurde es schräg. Ich bestellte für Stefan und mich auf französisch. Der Kellner verhielt sich super freundlich und zuvorkommend. Als unsere Freunde dann auf niederländisch bestellten (sie sprechen kein französisch), kippte die Stimmung sofort. Der Kellner schaute drein, als ob man ihn persönlich beleidigt hätte. Und er ignorierte die beiden beharrlich, schaute sie noch nicht mal mehr an und machte Anstalten, einfach wegzugehen. Da wir zu faul und vielleicht auch zu konfliktscheu waren, um den Laden unverrichteter Dinge zu verlassen, bestellte ich um des lieben Friedens Willen dann auch für die Freunde auf französisch mit. Wenn das ein reines Sprachproblem gewesen wäre, hätte er ja einfach darum bitten können, auf englisch oder über mich auf französisch zu bestellen. Es wirkt aber so, dass er es als Provokation aufgefasst hat, dass es jemand wagt, in Brüssel auf niederländisch zu bestellen. Dabei ist Brüssel die Hauptstadt Flanderns und beide Sprachen sind dort Amtssprachen. Da war ein waschechter Wallone am politischen Werk 😂.
Lach, was für eine Geschichte! Vor allem als Außenstehender blickt man so eine Situation zunächst nicht und staunt Baumklötze. Bin momentan in Moldawien, hier ist es auch schwierig mit englisch (am Flughafen kein Problem, doch sobald man außerhalb ist, sprechen vielleicht nur Schulkinder etwas…), aber die Menschen sind super bemüht. Meist holen sie dann ihre Sprößlinge zur Hilfe..
Ah, schön! Wieder auf Wanderschaft? Ja, wo ein Wille ist, klappt auch die Verständigung. Dir eine schöne Reise!
Man bemüht sich. Es gibt hier viel mehr Bemühen, sich zu bemühen, als anderswo. Dankeschön 😉
Wie schön es ist zu lesen, dass du Belgien besucht hast 🙂 Außerdem hast du das ganze Land von Ost nach West durchquert 🙂 Kleines Land, eh LOL
Du wirst kein Glück mit dem Wetter haben, fürchte ich, hoffentlich das Kulinarische Genüsse entschädigen dafür 🙂
Ach deshalb gibt es da so gutes Essen? 😉 Ich glaube schon, dass es hin und wieder ein paar sonnige Tage geben muss. Bei meinem Besuch in Brüssel vor einigen Jahren war das Wetter schön 🙂
Hier kommt das bestellte „Oooohhhhh“!
Jaa, nicht wahr? *schnief*
Das hört sich gut an! Muss ich auch mal hin. Und auch in der Nebensaison. LG Ulrike
Hi Ulrike, die Nebensaison ist für viele Orte genau die richtige Zeit, vor allem wenn man etwas Ruhe haben möchte. Lg Kasia