Eine Street Art Tour im Viertel East End, einem ehemalig jüdischen Viertel, wo der Whisky günstiger versteuert wurde als in der Londoner City. Hier befanden sich die Docks, hier war das Arbeiter- und Migrantenviertel, hier gab es Pubs und leichte Mädchen und hier war das Reich des Jack the Ripper. Versteinerte Drachen stehen Wache, Bänker aus dem Bankenviertel kommen hierher zum Feiern. However, hier sind wir auf unserer ersten Streetart-Tour!
„Was ist für euch Streetart? Wie unterscheidet es sich von Graffiti?“ Fragt uns der Junge mit dem erdbeerrotem Schirm. Ich denke nach. Doch die Antwort lässt nicht lange auf sich warten.
„Also, wenn ihr mich fragt, ist Graffiti einfach etwas, das auf eine Wand gesprüht wurde, ein Schriftzug oder ein Name. Streetart ist mehr, es ist Sprache in Bildern; Streetart ist Kunst.“
Wir laufen weiter. Verschiedene Nationalitäten, darunter ein paar Deutsche, haben sich in der Gruppe eingefunden. Die Führungen von Erdbeertours (oder orig. Strawberry-Tours) sind immer kostenlos und es gibt sie zu ganz unterschiedlichen Bereichen. So kann man beispielsweise neben der Streetart-Tour auch eine Jack-the-Ripper-Gruseltour machen. Doch das Kostenlose heißt hier nicht: unentgeltlich, denn jeder gibt ein Trinkgeld nach seinem Ermessen. Und wenn die Tour gut war (und die wird gut, Spoiler!), wissen das die Stadtbesucher durchaus zu würdigen.
Ich mache mir so meine Gedanken. Just in diesem Moment hätte ich die Frage nun wirklich nicht beantworten können, doch inzwischen habe ich eine befriedigende Antwort für mich gefunden. Graffiti ist zunächst mal Farbe auf der Wand. Es kann ein Bild sein, ein Schriftzug, ein Name. Es kann Kunst sein oder Gekrakel. Es kann über eine ganze Wand gehen oder schnell in eine Ecke gesprüht worden sein.
Streetart beinhaltet Kunst schon im Namen. Streetart geht über sinnloses Gekrakel hinaus. Es ist besonders. Es kann ein Graffito sein oder auch etwas ganz anderes wie Sticker, Gehäkeltes oder Sonstiges. Streetart ist Aussage verbunden mit Kunst. Oder nur Letzteres. Wobei Kunst doch auch immer eine Aussage ist, oder?
Das Londoner East End hat viel zu bieten und auch der Tourguide ist, wie er uns erklärt, auf manches unvorbereitet. Er kennt „seine“ Ecken, doch er weiß nie so genau, was er als nächstes antrifft, denn Straßenkunst hat kein Bleiberecht. Sie ist nicht statisch, sie ist nicht starr. Sie ist vergänglich, schafft Platz für Neues, schafft sich selbst ab. Werke, die heute da sind, können schon morgen weg sein, übersprüht, entfernt. Durch andere ersetzt. Nichts wird konserviert. Und vielleicht ist das das Spannende daran.
Die Anfänge des Streetart finden sich in den sechsziger Jahren, als die Gangs in New York und Chicago ihre Gangnamen mit Farbe auf die Wände sprühten. Es war die denkbar einfachste Form von Graffiti, es war, als wenn ein Hund eine Wand anpinkelt, um zu zeigen: ich war da. Erst nach und nach hatte sich das Ganze zu einer Stilrichtung, zu einem Underground Lifestyle entwickelt.
Die Straßenkunst in London hat einen halblegalen Charakter. Nein, eigentlich ist sie illegal, zumindest was das Besprühen der Wände angeht. Wer erwischt wird, muss mit Konsequenzen rechnen, doch auch die Londoner Stadtverwaltung ist nicht blind und hat inzwischen gemerkt, dass das East End Jahr für Jahr Besucher anzieht. So werden die Murals toleriert und es gibt zunehmend legale Graffiti Walls in London.
Unser Guide macht das gut und hat sichtbar Freude daran. Wir sehen Murals, die über die ganze Wand gehen, Hinterhöfe, die aus nichts als Bildern bestehen. Nicht alles ist nur „schön“ anzusehen, viel aus der aktuellen Politik und noch mehr Satire findet sich vor allem in den Stickern und kleineren Bildern wieder. Unzensiert und ungefiltert. Und das ist auch gut so. Die größten Murals erklärt er uns ausführlich wie die Ratte, die sich aus den Wänden und Eingeweiden der Stadt windet oder den Fuchs an der Garagenwand. Am Ende der Tour verspricht er uns einen Banksy.
Der Banksy ist ein pinkenes Auto auf einem Dach in der Nähe von Brick Lane. Es weiß niemand so genau, wie er das Auto dort oben hin geschafft hat. Inzwischen wurde es, da wertvoll, von einer schützenden Plastikhülle umgeben. Ursprünglich saß am Steuer ein Geisterfahrer, ein schwarzweißes Skelett, doch dieses wurde entfernt und durch eine Holzplatte ersetzt. Geblieben ist der Wagen.
Banksy ist sozusagen der bekannteste Streetart Künstler überhaupt und selbst wer sich nicht wirklich mit der Thematik auskennt, hat diesen Namen schon mal gehört oder die dazugehörenden Werke gesehen, an einer Wand, als Poster oder als Druck auf T-Shirts. Hat Banksy deine Wand signiert, bist du gesegnet, denn seine Kunst wird regelmäßig für horrende Beträge von bis zu 400 000 Pfund versteigert. Banksy-Kunst wird regelmäßig mitsamt den dazugehörenden Wänden geklaut oder landet im Museum, was freilich nicht im Sinne des Erfinders ist. Doch der unbekannte Künstler, der sich die größte Mühe gibt, anonym zu bleiben, hat seine eigene Art, dagegen zu protestieren. So ließ er vor einiger Zeit aus Protest einige seiner Drucke für kleines Geld auf der Straße verkaufen und wohl jeder hat die Geschichte um das selbstzerstörende Bild des Mädchens mit dem Luftballon, das sich 2018 selbst schredderte, nachdem es für 1,2 Millionen Euro ersteigert worden war – ein Geniestreich.
Ich wandere umher, bin den anderen voraus, entdecke immer wieder etwas Neues, traurig, als es dann heißt, dass wir weiter laufen sollen. Ich bin ganz bei mir und könnte mich glatt selbst verlieren; das alles spricht mit mir und ich suche die Wände Zentimeter für Zentimeter ab. Ich habe wieder dieses unbestimmte Gefühl, dasselbe wie im Camden Town.
Die Tour endet mit einem Mural, das sinnbildlich ist für die heutige Zeit und dessen Bedeutung sich erst auf den zweiten Blick eröffnet. Es ist ein schwarzer Jack the Ripper auf rotem Untergrund und er hat gerade ein frisches Opfer vor sich. Doch er steht nicht alleine da; er ist umringt von einer Traube Menschen. Es recken sich Hälse, Smartphones und Kameras strecken sich in die Höhe. Das tote Opfer ist Teil der Inszenierung, was wirklich zählt, ist die Freude am Makabren, was zählt, ist Blut und Schrecken, so gut wie möglich eingefangen und geteilt in den sozialen Netzwerken. Sensationslust, Sensationsgeilheit, die beinahe an die anwesenden Menschenmassen bei mittelalterlichen Hinrichtungen erinnern. Was zählt, ist das beste Bild…