Tomek knackt Wallnüsse. Mit-seinen-Händen. Wir, die Mädchen (Gosia und ich) gucken uns kurz an, fallen dann fast in Ohnmacht. Tomek ist der Held des Tages. Er reicht uns den Inhalt. „Hier.“ Und an meinen Onkel gewendet: „Willst du auch eine Nuss?“
Nach einer sehr kurzen Nacht packe ich meine Sachen. Wie kann es sein, denke ich mir – dass man auf Reisen so wenig schläft und dabei so gut mit seinen Ressaurcen auskommt? Was lässt uns so wach sein am Tage, was lässt uns funktionieren? Sind es die Aufregung, die Neugier, das Adrenalin? Gar das Glück, hier sein zu dürfen? Jedenfalls stelle ich fest, dass ich durchaus mit täglich drei- bis vier Stunden Schlaf gut über die Runden kommen kann. Das ändert sich freilich, sobald ich wieder im trauten Zuhause bin. Schlagartig erwacht das Schlaf- und Erholungsbedürfnis, und ohne acht Stunden täglich läuft nichts mehr.
Während Gosia noch schläft, sitze ich auf der Terrasse in der oberen Etage. Wie immer habe ich vergessen, an der Treppe den Kopf einzuziehen, wenn die Stufen um die Ecke biegen. Das Haus ist gebaut wie diese Traum- oder Geisterhäuser, wo man eine Treppe hinaufsteigt und diese immer kleiner und immer enger wird, so dass man sich irgendwann als Riese in einem Zwergendomizil wiederfindet. So ähnlich hier, nur dass die Decke mit jeder Stufe niedriger und niedriger hängt. Ich habe längst aufgehört, mich über manches in Georgien zu wundern – der Baumeister muss besoffen gewesen sein.
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis meine Leute endlich wach sind und wir uns beim Frühstück zusammenfinden. Üppig wie immer, es fehlt an gar nichts, und immer wieder werden neue Gerichte zum Tisch getragen. Diesmal sind wir nicht alleine im Essraum, ein deutsches und ein amerikanisches Pärchen sind auch hier. Als wir gegessen haben und unsere Sachen verstaut im Auto liegen, verabschieden wir uns tränenreich von unseren Gastgebern. Na gut, tränenreich vielleicht nicht, doch unsere lieben Georgier sind uns ans Herz gewachsen. Tomek drückt dem Hausherrn unsere letzte Flasche Zubröwka in die Hand, die er in weiser Voraussicht am Flughafen speziell für solche Gelegenheiten erstanden hatte, und wir machen ein gemeinsames Abschiedsfoto mit der Dame des Hauses.
Das Auto bringt uns diesmal außerhalb der Stadt, zu einem Ziel, welches wir bereits zur Beginn unserer Reise besichtigen wollten; der Prometheus-Höhle, eine der bekanntesten Tropfsteinhöllen Georgiens. Sagt euch Prometheus etwas? Dieser alte Rabauke, der den Menschen Feuer brachte und zur Strafe für dieses Vergehen hoch oben an einem Berg gekettet wurde, wo sich jede Nacht ein Adler an seiner Leber bediente? Nun, in Georgien ist man der Meinung, dass es der Berg Kasbek war, wo der arme Held seine Strafe absitzen musste. Daher stammte, so meine naheliegende Vernutung, auch der Name der Höhle.
Prometheus-Höhle
Die Prometeus-Höhle liegt nördlich von Kutaissi und ist bei guten Straßenverhältnissen in circa dreißig Minuten zu erreichen. Normalerweise fahren auch Marschrutkas dorthin, die jedoch aufgrund der Coronalage aktuell nicht im Betrieb sind. Dies war auch der Grund, weshalb wir die Karsthöhlen nicht gleich am zweiten Tag unseres Georgientrips besucht haben – als der Mietwagen dann kam, fuhren wir los in südliche Richtung nach Achalziche.
Gute Straßenverhältnisse sind in Georgien relativ. Die Kühe und sonstiges Getier auf der Fahrbahn gehört hier zur Normalität. Das beste, was wir auf unserer Reise bislang gesehen haben, war ein Schwein, welches an einem Zebrastreifen die Straße überquerte. Nachdem es sich nach links und rechts umgeschaut hatte, natürlich. Ihr denkt, ich scherze? „Selbst wenn als nächstes das Schwein auf einer Kuh angeritten kommt, wird mich das nicht mehr überraschen.“ Sagt Tomek. Und meine Mitreisenden ergehen sich im beißendem und politisch unkorrektem Humor darüber, wie frei die Tiere hier leben können, während ihre deutschen und polnischen Verwandten noch hinter Stacheldraht ihr Dasein fristen. Ich grinse und schalte auf Durchzug. Wer mit meinen Leuten unterwegs ist, muss hart im Nehmen sein.
Die fast siebzig Millionen Jahre alten Karsthöhlen befinden sich nahe des Dorfes Kumistawi. Von den 25 Hallen sind sechs für Besucher begehbar. Sie erstrecken sich auf einer Fläche von über einem Kilometer länge. Die Tour findet zu Fuß mit einem englischsprachigem Guide statt. Das Endstück kann je nach Wunsch auch mit einem Boot über einen unterirdischen See befahren werden. Wir parken, erstehen unsere Tickets im Besucherzentrum und warten. In der Halle hat sich bereits eine größere Anzahl an Besuchern eingefunden. Schließlich ist auch unser Guide da und es kann losgehen.
Wir tauchen ein in eine Märchenwelt. Untermauert wird die Atmosphäre stellenweise von klassischer Musik. Die Höllen sind beeindruckend, riesig und uralt. Stalaktiten bilden unvorhersehbare Muster, die die Fantasie spielen lassen. Aufragende Türme, mitten im Fluss erstarrte Wasserfälle, Tiere, Gestalten, alles versteinert vor Millionen von Jahren, in nur einem Augenblick. Nein, so war das natürlich nicht. Die Gebilde, die mich nun so nachhaltig zu Tagträumen inspirieren, während wir von Halle zur Halle wandern, sind Tröpfchen für Tröpfchen entstanden, langsam und stetig. Und das sickernde Wasser schuf hier etwas Wundervolles. Meerestiere. Quallen. Ein geöffnetes Maul voller scharfer Zähne. Pilze, poröse Strukturen. Manche schneeweiß und im Licht glitzernd. Lange Säulen spiegeln sich im stehenden Wasserspiegel der Tümpel, die sich hier angesammelt haben. Das einzige, was ein wenig den Eindruck des Geheimnisvollen bricht, ist die stellenweise kitschbunte Belichtung. In Pink und Blau kommt sie daher und erinnern mich eher an Weihnachten oder an eine Kirmes.
Während ich mich so umsehe, tritt ein Bild ganz deutlich hervor und verdrängt die anderen. Es ist das verfluchte Schiff aus der ersten „Fluch der Karibik“-Folge, die Flying Dutchman, mit ihren im Schiffsleib selbst eingesperrten Matrosen, Gesichtern, die unbewegt in den Wänden stecken. Jeder Matrose, in ein Seeungeheuer verwandelt; und eben jene Seeungeheuer erscheinen mir nun im diffusem Licht. An manchen Stellen sind die Kalksinterfäden so fein und fragil, dass sie einem Fadenvorhang gleichen. Wieder woanders ist es, als wäre die Decke geschmolzen. Ich möchte die Kamera zur Seite legen und einfach nur genießen, doch mein Onkel stupst mich immerfort in die Seite. „Hier, kannst du das noch fotografieren? Und dies auch…“ Seufzend ermahne ich ihn, sich für die Zukunft selbst mit einer gescheiten Kamera auszustatten und gehe unwillig meiner Pflicht nach. Ich hätte nicht gedacht, dass mal ein anderer noch fotoverrückter sein kann als ich. Es muss irgendwie in den Genen liegen…
Als wir wieder ans Tageslicht tauchen, befinden wir uns über einen Kilometer vom Ausgang entfernt. Es entbricht eine kurze, leidenschaftliche Diskussion darüber, ob wir das Stück zurück zum Eingang zur Fuß gehen („Der kleine Spaziergang, das wird uns allen gut tun…“) oder einen der Shuttlebusse nehmen wollen, die die Besucher zurück zu ihrem Ausgangspunkt befördern („Aber bei der Hitze zu Fuß gehen?“). Die „zu Fuß“-Fraktion setzt sich durch und so schlendern wir langsam den Weg entlang und ergötzen uns an der eigenartig frisch und krautig schmeckenden, pappsüßen Limonade, die einer von uns in einem der Souvenirshops erstanden hatte. Apropos Souvenirshops, selbst der Hunger meiner Familie nach neuen Kühlschrankmagneten ist inzwischen erloschen, gelangweilt werfen sie einen kurzen Blick auf das Angebot.
Wallnussbäume wachsen am Rande des Weges. Tomek klettert kurz die Böschung herunter und pflückt ein paar Wallnüsse und während ich noch überlege, was er damit anfangen will, fängt er an, sie in den Händen zu zerdrücken. Gosia und ich gucken uns an. Sind wir sprachlos? Ein wenig. Tomek, der irgendwie zufrieden mit sich wirkt (er würde das nie so deutlich zeigen), drückt uns die Wallnusskerne in die Hand. „Andrzej, willst du auch?“
Schließlich, am Auto angekommen, überlegen wir, was es zu tun gibt – und was sich heute noch lohnt. Unser Rückflug geht von Kutaissi am frühen Abend, doch große Sprünge sind heute nicht mehr drin. Kurz fällt der Vorschlag „Rafting“ in der Runde, doch die Zeit scheint uns dafür zu knapp. So besuchen wir eine Parkanlage die mit ihrem protzigen Aussehen den Charme der sowjetischen Zeit aufleben lässt, heute jedoch so verlassen ist wie selbige Vergangenheit sind. Ein überdimensionaler Torbogen bildet den Eingang, an dem niemand steht und ein Spazierpfad windet sich um einen mittelgroßen, künstlichen See. Auf der anderen Straßenseite entdecke ich ein verlassenes, baufälliges Sanatorium. Wäre ich alleine hier, ach, wie hätte es mich gereizt, sie zu umrunden und nach einer Lücke im Zaun zu suchen. So setzen wir uns in den Schatten und trinken Kaffee; so ein Kiosk mit kühlen und heißen Getränken lohnt sich fast immer, irgend jemand wird immer anhalten, wenn es ihn nach einem heißen Kaffee verlangt.
Abschied von Kutaissi
Ein paar letzte Dinge gibt es noch zu tun. Noch eine letzte Runde durch Kutaissi drehen. Ein letztes Mal Chinkali essen, in unserem Lieblings-Chinkalirestaurant. Ein letztes Mal im Schatten der Bäume umherwandern. Ich spüre, wie sich Traurigkeit breit macht und mir in der Seele zwickt, die gleiche Traurigkeit, die uns am gestrigen Abend schon ereilte. Aus uns ist ein eingespieltes Team geworden. Und diesmal tut der Abschied von Georgien fast schon körperlich weh. Wer hätte das gedacht. Ein letztes Bier im Park. Die Kids sind sofort Feuer und Flamme.
Was? Werdet ihr euch fragen, wenn ihr unsere Georgien-Tour vom ersten Moment an mitverfolgt habt – meint sie etwa die Kids, die sich am ersten Tag in Kutaissi empört von uns abseilten? Ja, dieselben, meine Lieben. Dieselben, mit denen ich nun im Kutaissi-Park am Rioni Fluss an einer Mauer stehe und Faxen mache, das goldene Kayak-Bier in der Hand. Mein Onkel sitzt auf der Parkbank und grinst zufrieden. Denn – wie Gosia in Batumi so treffend sagte: „Seit unserem ersten Tag hier ist viel Zeit vergangen…“
Nachtrag
Am Flughafen auf unseren Rückflug wartend schmieden wir bereits Pläne für unsere nächste Reise. Auch die Ukraine ist im Gespräch, da diejenigen von uns, die bereits dort waren (also alle außer mir), von dem guten Essen und den gastfreundlichen Menschen schwärmen. „Die Ukraine ist so, wie man sich Polen wünschen würde.“ Sagte einer. Doch wie wir alle wissen, werden wir mit einer Reise dorthin wohl etwas warten müssen.
Zu Hause bei meinem Onkel. Erschöpft vom Flug und von der Reise an sich kommen wir am späten Abend an. Jetzt ist jeder in seinen Gedanken wieder in seinem alten Leben zurück, lange bleiben wir nicht mehr wach. Tomek bricht bereits früh am nächsten Morgen auf.
Vormittags sitzen wir, die Übriggebliebenen, im Wohnzimmer um den großen Tisch herum. Auf dem Tisch ausgebreitet: Souvenirs, alles, wirklich alles, was jeder von uns im Verlauf dieser Reise erstanden hatte. Die Magnete zieren stolz den heimischen Kühlschrank. „Das sind wirklich viele geworden.“ Sagt mein Onkel zögernd.
Trinkhörner werden gehoben, Schals und Mützen aufgezogen, Stalin-Streichhölzer, die wir wider Willen geschenkt bekamen, liegen auf dem Tisch. Und dann holt Jacob stolz sein gut gehütetes Geheimnis aus dem Rucksack: den heimlich ergatterten Josef Stalin Trinkbecher (was es damit auf sich hat und warum kitschige Souvenirs größenwahnsinniger Diktatoren in diesem Kontext okay sind, könnt ihr hier nachlesen). „Ich kann nicht sagen, dass ich nicht neidisch bin.“ Sage ich.
Jaja, da stählt man seinen Körper, bräunt sich auf dem Asi-Toaster, trägt die VoKuHiLa-Frisur, lässt beim Cabriofahren die Uhr mit der Rolex locker über die Türkante baumeln – und dann kriegt der Typ die Mädels, der mit den Händen die Nüsse knackt. Was für eine verrückte Welt.. 🙂
Aber Walnüsse mit den Händen knacken ist gar nicht so schwierig, kann ich nämlich auch – Du bestimmt auch: der Trick ist die Nuss auf den langen Seite in den Handballen zu legen und dann mit dem anderen Handballen auf die „Sollbruchstelle“ (die feine Naht mit dem Riss) zu pressen.
Und dass ein Schwein die Verkehrsregeln besser kennt als mancher Mensch sehe ich hier leider auch täglich an Fußgängerampeln. Bei Rot anhalten ist da eher die Ausnahme. Nenn mich psychotisch aber ich meine, dass nach den ganzen Corona-Einschränkungen die Menschen sich kaum noch an Regeln halten wollen. Mal eben schnell über eine rote Ampel huschen, wenn’s keiner sieht – merkt ja keiner..
Ich glaube ich wäre in Georgien auch besser aufgehoben – am besten in einem der Kloster in der hintersten Knüste – dann müsste ich mich hier nicht über die ganzen Deppen aufregen.. 😉
War ein toller Reisebericht!!
Bleib gesund
P.
Hey, dann muss ich das mit den Nüssen selbst mal probieren. Das wird mir die männliche Stärke zwar entzaubern, aber stell dir mal vor, wie es wäre, einem das nächste Mal zu sagen: „Pah, kann ich auch…“
Ich glaube, in Georgien müsstest du dich wirklich in ein Kloster sperren lassen und nicht mehr rausgucken, denn die Leutchen dort halten sich noch weniger an die Regeln. Im Ausland gelten wir Deutschen als regelbesessen, da hat sich schon meine Familie über mich lustig gemacht… tja…
Was ist denn falsch daran, wenn man „Regelbesessen“ ist. ICH LIEBE ES REGELN ZU BEFOLGEN – JE SINNLOSER, JE LIEBER…😄
Regel Nr. 1: Dr. Nerd hat immer Recht. Regel Nr. 2: Ist dies einmal nicht der Fall, tritt Regel Nr. 1 in Kraft… 😉
Die Tropfsteinhöhle hat sich voll gelohnt. Klasse Fotos! Und ja, der Die-Reise-ist-zu-Ende-Blues tut erst einmal weh. Der Anblick der vielen Magnete am Kühlschrank allerdings auch 😜! Zum Glück sind die Geschmäcker verschieden. Und nach der Reise ist vor der Reise 😎.
Glücklicherweise hängt diese Magnetensammlung nicht an meinem Kühlschrank (nicht dass ich an meinem Kühlschrank keine Magnetensammlung hätte, irgendwie haben sie mich angesteckt…). Dieses Jahr wird das Team doch ein wenig modifiziert, wie es aussieht, fährt noch eine Horde Mädels mit an den Balkan. Ich bin ja mal sowas von gespannt… 🙂
Massenauflauf 😂!
Magnetauflauf 😉