Deutschland, Europa

Hauptfriedhof Mannheim – Gedanken über das Sterben

Was mich fasziniert, sind die Zahlen. Zahlen auf den Grabsteinen, die die Lebensspanne eines Menschen umfassen. Ich nähere mich und bleibe stehen, starre auf das, was einmal ein Menschenleben war. Achtzehnhundertsechsundvierzig geboren. Neunzehnhundertzwanzig gestorben. Danach – lange Zeit nichts. Schließlich, neunzehnhundertdreiundachtzig, kam ich (auf die Welt). Als ob sich die Zeitrechnung am Datum meiner Geburt orientieren würde.

Was sind für mich Friedhöfe? Eine Pause im Leben, ein Innehalten, wenn ich im beinahe meditativem Zustand zwischen den alten Steinen umherstreife. Rein nach Gefühl, wohin ich als nächstes gehe. Normalerweise begegne ich dabei Menschen, Menschen, die genauso umherstreifen wie ich; die mir erklären, was ich da sehe und mir Anekdoten erzählen, die ich noch nicht kenne. Doch diesmal ist es mir vergönnt, alleine hier zu sein.

Ich bin bei diesen Begegnungen immer zwiegespalten. Ich lausche, nehme das Wissen und die Erfahrung des anderen entgegen – und doch bin ich irgendwie auf dem Sprung, denn in Wahrheit bin ich hier lieber allein.

Der erste Weltkrieg, der Helm eines Soldaten. Wie bist du gestorben? Was hast du erlebt? „In Erinnerung an…“ Was ist eine Seele? Es gibt ein Hier und ein Nicht hier. Und du bist nicht hier. Ihr alle – seid nicht hier. Nur eure Geschichten. Und Geschichten werden von Lebenden geschrieben…

Statuen, mitten in der Bewegung erstarrt. Die sanften Schwingen des Greifvogels, den ich erst dann bemerke, als er mit einem Rauschen in den hohen, tiefgrünen Baumkronen verschwindet. Kleine Fliegen schwirren in hellen, lebendigen Bündeln ein Stückweit über dem Boden. Gräber aus dem ersten Weltkrieg. Gefallen, lange vor meiner Zeit. Menschen, die zu Geschichte werden. Geschichten, die ein Gesicht bekommen. Ich beginne, nicht zum ersten Mal übrigens, mir Gedanken zu machen, Gedanken darüber, wie ich begraben werden möchte. Was soll auf meinem Grabstein stehen? Welche Form, welche Inschrift soll er haben? Will ich überhaupt einen?

Ich bin jung. Diese Gedanken, so weit im voraus. Ist das irgendwie schräg?

Die europäische Kultur hat keinen Platz fürs Sterben. Man stirbt still, für sich alleine. Man spricht nicht (gern) darüber. Das Sterben, das tot sein wird tabuisiert. Doch die Rechnung geht nicht auf, denn wenn es soweit ist, kommt es für viele zu plötzlich. Wie sollen wir damit umgehen, wenn wir es nie gelernt haben? Warum empfinden wir das Sterben, auch nach einer langen Lebensspanne, noch immer als eine Ungerechtigkeit, eine Art Verrat am Leben selbst?

Nicht alle empfinden wie ich. Dass der Tod ein Teil von allem ist. Manch einer erträgt den Anblick von frisch gemeißelten Grabsteinen nicht. „Es ist ein Zeichen dafür, dass etwas endet.“ Sagte mir einst ein lieber Mensch. „Und warum muss es enden?“

Klar können wir darüber philosophieren, dass der Tod das Leben wertvoll macht. Doch das ist nicht die Richtung, in die ich gehen möchte. Hey, vielleicht ist es zu privat. Vielleicht zu persönlich. Wie akzeptieren wir den Tod? Wie schaffen wir es, Frieden damit zu schließen? All der Fortschritt um uns herum, all die medizinischen Möglichkeiten, unsere Gesundheit zu erhalten, unser Leben zu verlängern, hat eines zufolge. Es fällt uns zunehmend schwerer, den Abschied vom Leben als solcher zu akzeptieren. Das Leben ist etwas, das aufrecht erhalten werden soll, um jeden Preis. Doch ab wann ist der Preis zu hoch? Ist es ein Mensch, für den eine Maschine atmet? Wann gehen wir zu weit, ab wann ziehen wir die Grenze?

Wann lässt man jemanden gehen?

Wann lässt man sich selbst gehen?

Und inwieweit (dürfen wir) entscheiden wir das selbst (entscheiden)?

Leseempfehlung:

Viele Gedanken über Friedhöfe und unsere tabuisierte Einstellung zu ihnen macht sich Ulrike in ihrem Beitrag: Friedhof Hamburg – Ort des Lebens. Sie nimmt dich mit auf einen Rundgang über den Hamburger Friedhof und erzählt dir, warum sie so gerne auf Friedhöfen spazieren geht…

Stefan von digitalPainting erzählt euch vom Heidelberger Bergfriedhof und Menschen, die dort begraben sind: Mathematiker, Professoren, Astronomen, Kriegsgefallene und ein gewisser „Rassenforscher“… 

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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5 Kommentare

  1. Schwierige Fragen Karia, die Sie nicht in eins, zwei, drei beantworten können. Außerdem wird jeder darauf eine andere Antwort geben (vermute ich).
    Die Bilder der Friedhöfe sind sehr schön und ich gebe zu, dass ich mich manchmal wage, über einen Friedhof zu wandern. Auch wenn Sie wissen, dass hier jeder seine letzte Ruhestätte finden wird, ist es dennoch etwas Unwirkliches, sich das vorzustellen.

    1. Die zeitlichen Dimensionen sprengen manchmal das Vorstellungsvermögen. Trotzdem gehe ich gerne auf Friedhöfen spazieren, sie haben eine so ruhige Atmosphäre.

  2. Es gibt viele schöne Friedhöfe, in Wien, Salzburg und überall sonst. In München ist mein „Lieblingsfriedhof“ der Alte Südliche Friedhof in der Isarvorstadt. Dieser aufgelassene Friedhof ist eine Oase der Ruhe. Einige Prominente sind auch hier, Fraunhofer, diverse Brauereifamilien und – mein Lieblingsgrab – das eines Clowns…

    1. Das eines Clowns? Jetzt bin ich sehr gespannt… schreib doch mal einen Beitrag darüber. Du kannst dir vor Ort auch gerne eine Alibi-Tasse Kaffee eingießen… 😉

      1. Ich packe es gerne auf die Liste!

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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