Europa, Polen

Wir, Kinder, reinigen den Fluss

Meine alte Heimatstadt Błonie in Polen, rund dreißig Kilometer westlich von Warschau entfernt. Ruhig und beschaulich ist das Leben hier, als „Kleinstadtmentalität“ wird meine Mutter dies später bezeichnen. Doch dazu ein anderes Mal etwas mehr. Jetzt, in diesem Augenblick, laufe ich entschlossenen Wanderer-Schrittes über das Pflaster, denn ich möchte zum Haus meiner Mutter. Die dreieinhalb Kilometer vom Dorf bis hierher sind ein Klacks gewesen. Und doch möchte ich nicht allzu oft mehr stehen bleiben, sondern, wenn möglich, heute noch ankommen.

Warum ich das so explizit erwähne? Weil die Reise hierher sich anfühlt wie eine Zeitkapsel. Wer meinen Blog länger schon verfolgt, hat sich das eine ums andere Mal mit mir gemeinsam mit meinen Kindheitserinnerungen auseinander gesetzt (auseinander setzten dürfen? …müssen?). Ich kann nichts dafür, dass ich euch ständig damit belästige; mein Kopf wird wohl erst Ruhe finden, sobald ich diesen Ort verlassen habe.

Und da auch jeder Blogbeitrag so etwas wie eine Zeitkapsel ist, lasst euch sagen, dass ich diese Zeilen gemütlich von meiner heimischen Couch in Mannheim in die Welt hinaus tippe und bereits seit zwei Wochen wieder daheim bin. Aber versetzt euch mal in Gedanken in diese niedliche, polnische Kleinstadt, in der so vieles bereits getan wurde, um sie zu verschönern, so vieles hatte sich verändert, seit ich hier als kleines Gör mit Rucksack, Rad und (manchmal) guter Laune zur Schule ging. Wie der großflächige, neue Erholungspark, der sich hinter dem alten, inzwischen abgerissenem Kino „Bajka“ (…Märchen…) erstreckt. Oder das Freiluft-Trainingsgelände mit Sportgeräten für die engagierten Junggebliebenen von heute. Oder einer Uferpromenade an Rokitnica, dem kleinen Flüsschen der Stadt, die sich klangvoll als das Błonie-Boulevard bezeichnet. Błonie-Boulevard. Würde ich sitzen, fiele ich nun vom Stuhl.

Wie gerufen steht eine Gruppe Schüler oben auf der Brücke und schaut hinunter ins Wasser. Sauber wirkt das kleine Flüsschen, sauber und gepflegt. Dies war nicht immer so. Der Anblick dieser Schulklasse mit ihrer Lehrerin, die die Kinder zur Ordnung ruft, versetzt mich schlagartig in eine andere Zeit; in die Zeit der Neunziger Jahre. Lässt mich schrumpfen auf die Größe eines Schulkindes. Und prompt taucht auch schon die schemenhafte Gestalt meiner besten Freundin aus jener Zeit neben mir auf, wie wir zusammen den Schulweg am Fluss vorbei gehen.

Der „Fluss“ ist klein, sehr klein. Wie ein schmales Band zieht er sich durch die Stadt und erinnert vielmehr an ein niedliches Bächlein. Doch ihn als Fluss zu bezeichnen lässt ihn gleichsam größer und wichtiger erscheinen – wie auch die Stadt an sich, die sich mit den schwungvollen „Ufer-Boulevard“ schmückt. Doch ich verzeihe an dieser Stelle jenes Streben nach Größe und nach einem Mehr. Wie sonst könnte sich ein so bedeutungsloses Kaff etwas mehr an Wichtigkeit zusprechen? Und die Promenade ist relativ neu; im Jahr 2019 hat die Gemeinde Geld in die Hand genommen und den schmalen, unattraktiven Gehweg in eine breit angelegte Spaziermeile verwandelt. Schautafeln für Kinder erklären Flora und Fauna am Fluss.

Nicht immer war der „Fluss“ so gepflegt. In den bereits erwähnten Neunziger Jahren schwamm allerlei Unrat im trüben Wasser mit. Die Oberfläche war verseucht mit undefinierbaren Schäumen und Abwässern, die weiß Gott woher kamen. Zwischenzeitlich war ich mir nicht einmal des wahren Namens dieser Plörre sicher, denn die Anwohner nannten das Gewässer liebevoll „śmierdzielka“ (das Stinkerle).

Meiner Freundin und mir tat dies in der Seele weh. Mit unserem zarten Alter von neun Jahren wussten wir bereits, dass Flüsse so nicht auszusehen haben. Und beschlossen, etwas dagegen zu tun. Jeden Nachmittag auf dem Weg von der Schule blieben wir am Ufer und überlegten, wie man all den Unrat, der sich seinen Weg ans Meer bahnte, aufhalten könnte. Und wir kamen auf die einfachste Lösung, die sich ein Kind ausdenken kann: wir bauten Dämme aus langen Stöcken, die wir quer von einem Ufer zum anderen auslegten. Zur Erinnerung: das Flüsslein hatte die Breite eines Bachs. Jeden Tag waren wir da und erneuerten die „Dämme“ vom Vortag, die bereits weggespült wurden. Hin und wieder blieben Leute stehen und sahen uns zu, hin und wieder fragte manch einer, was wir da tun. „Wir reinigen den Fluss!“ Antworteten wir daraufhin stolz. Unser Idealismus kannte keine Grenzen. Und die Leute nickten mit dem Kopf und hin und wieder sagte der eine zum anderen: „Schau mal, die Kinder reinigen den Fluss.“ Ganz so, als ob sie über etwas nachdächten, als ob sie eine Richtung sähen, in die die Reise geht.

Heute sieht es am Ufer der Rokitnica ganz anders aus. Nichts stinkt mehr, und im Schilf haben sich sogar Enten angesiedelt. Es gibt vereinzelt Fische und der Fluss ist zu einem kleinen Schmuckelement der Provinzstadt geworden.

(Kurzinfo: leider werden weiterhin Abwässer aus der örtlichen Kläranlage sowie nahgelegenen pharmazeutischen Unternehmen in die Rokitnica abgeführt. Was das betrifft, scheint sich der Zustand des Flusses nur äußerlich gebessert zu haben.)

Noch einige solcher Aktionen stellten wir damals auf die Beine, woran ich mich heute mit einem Schmunzeln erinnern kann. Zum Beispiel verschenkten wir all unsere Pausenbrote (liebe Oma, verzeih mir…) an die vielen streunenden, obdachlosen Hunde, die uns mit großen, bittenden Augen anblickten. Ein ums andere Mal schleppte ich einen dieser Hunde mit nach Hause an, als er sich treu an meine Fersen geheftet hatte. Mein Opa und meine Oma schauten jedes Mal ein wenig ratlos, und rund eine- bis zwei Wochen später war der neue Anwohner des Hauses auf geheimnisvolle Weise verschwunden. „Er ist weggelaufen“, war die allgemeingültige Erklärung und ich staunte, wie sich so ein Hund selbständig von einer eisernen Kette befreien konnte. Nein, wundert euch nicht darüber, denn damals wurden die Hunde grundsätzlich angekettet. Jedenfalls hatte sich somit die Geschichte mit dem Hund erledigt – bis ich wieder einen neuen, treuen Freund mitbrachte.

Unvergessen, die Hunde-Sammelaktion, die meine Freundin und ich damals, zumindest in der Theorie, auf die Beine gestellt haben. Jedes dieser armen Tiere sollte ein Zuhause finden; sogar in krakeliger Kinderschrift erstellte Flyer haben wir bereits entworfen. Wunderschöne Rassenhunde versprach der von meiner Freundin formulierte Text. Worauf ich, ganz die Realistin, die ich auch heute noch bin, kurz einwarf, dass Rassenhunde zu versprechen und dürre Streuner zu liefern eventuell nicht ganz den Erwartungen entspräche.

Seitdem hat sich jede Menge verändert. Streuner sieht man in den Städten gar nicht mehr, und auch in den Dörfern wird man nicht mehr von nicht angebundenen Hunden quer durch den Ort gejagt. Ich mag nicht fragen, wo die ganzen obdachlosen Hunde hin sind, denn die Antwort könnte mir nicht gefallen. Jedenfalls, die Stadt ist Hunde- und der Fluss vom Unrat frei. Und da soll mal einer sagen, die Welt würde sich nicht zum Besseren wandeln…

Kleines Gör mit Oma und Opa

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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14 Kommentare

  1. Ach, was warst du schon als Kind eine Idealistin! Sehr löblich, eure Aktionen in Sachen Flussreinigung und Hunderettung. Ja, es bleibt Spekulation, was heute dort in deiner alten Heimat letztendlich aus beiden Themen geworden ist.

    1. Ich spekuliere mal lieber nicht weiter in diese Richtung, das würde mich nur deprimieren. Inzwischen habe ich mich voll und ganz dem Pragmatismus verschrieben. Lebte ich noch weitere hundert- zweihundert Jahre, wäre es wohl ein tiefsitzender Sarkasmus. Oder ich wäre total entrückt und unerreichbar für die weltlichen Themen, wie ein Priester in seinem Kloster auf einem hohen Berg… 😉

  2. Hallo Kasia,

    Wie immer ein schöner Einblick in deine Kinder-/Jugendzeit. Mit Wehmut geschrieben und wohl auch nacherlebt. Bist du schon wieder im „Diesseits“ angekommen. Wenn ich zwischen den Zeilen lese, liegt doch ein großer Unterschied zwischen Ost und West wobei es im Osten wohl ruhiger und menschlicher zugeht, als im hektischen Westen.

    Liebe Grüße
    Harald

    1. Lieber Harald,

      menschlicher, kann ich nicht sagen. Vielleicht an manchen Stellen weniger bürokratisch. Vielleicht drückt man in richtigen Momenten mal ein Auge zu, wenn der Mensch an sich im Vordergrund stehen soll. Ob es hingegen ruhiger ist? Hm, als Besucher bekommt man vieles nicht mit und lässt sich oft von der Beschaulichkeit der Orte täuschen. Doch auch an idyllischen Plätzen sind die Menschen am Rennen, sie rennen der Arbeit nach, sie rennen dem Geld nach… ähnlich wie hier, würde ich sagen 😉

      Liebe Grüße
      Kasia

      1. Du kannst das natürlich besser beurteilen als ich.

        1. Nicht wirklich, ich bin nur alle Schaltjahr mal für eine- bis zwei Wochen drüben 🙂

          1. sagt:

            Also dann wieder 2024. 😉

          2. sagt:

            Lach, nein, schon noch früher 😉 Eventuell bereits diesen Herbst.

  3. Immer wieder gerne…

  4. Man sollte wirklich nicht genauer wissen wie es zu den „Reinigungen“ gekommen ist. Mein Stiefvater ist Serbe und im Sommer sind wir immer dort hin gefahren. Es gab immer Hunde. Meistens sogar extra für mich – ich weiss nicht was aus ihnen geworden ist, als unser Urlaub vorbei war…besser ich weiss es nicht….aber ich schwöre dir – wenn ich dort gelebt hätte – unser Hof wäre auch voll von Streunern….

    1. Sie werden schon ihren Platz irgendwo auf einem Hof gefunden haben 😉

      1. Genau – was anderes/darf kann nicht sein. 😊

  5. Schön, dass Du uns mal wieder auf eine Deiner Zeitreisen mitgenommen hast!

    1. Schön, dass du mal wieder mitgekommen bist 🙂

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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