Tag: Dienstag. Sehr windig heute, müssen aufpassen, dass uns keine Mary Poppens auf den Kopf fällt. Regenschauer oder nicht? Wer weiß das schon so genau. Traue niemals – niemals dem Londoner Wetter. Egal, ob es dich mit strahlendem Sonnenschein oder Wolken empfängt, nimm vorsichtshalber eine Sonnenbrille und immer – immer einen Regenschirm mit. Seit ich meinen die ganze Zeit dabei habe, hat es noch kein einziges Mal geregnet. Egal, die Knips-Dinger sind so klein und so federleicht wie eine Packung Tempo – eine echte Londoner Erfindung.
Der Regent’s Park
Wie ich schon in einem der vorherigen Beiträge schrieb – der Hyde-Park ist in London mit Sicherheit der größte, jedoch bei Weitem nicht der schönste. Woher ich das weiß? Einen der schönsten Londoner Grünanlagen hatten wir die ganze Zeit nahe der Baker Street, direkt vor unserer Nase – nur dem Zufall ist es geschuldet, dass wir nun den Weg durch den stimmungsvollen und bei weitem nicht so überlaufenen Regent’s Park wählen.
Zum Camden-Town hin gibt es eine Metro-Verbindung – doch die Füße sind heute unsere Metro. Es ist kalt und windig und die Sonne ist ein abwesender Gast. Diesmal führt uns unser Weg in die entgegengesetzte Richtung als sonst, durch den Regent’s Park, wo sich auch der Zoo London befindet. Ein kleiner, grüner See schimmert uns entgegen, eine Schar Vögel spaziert ungerührt den Gehweg entlang. Aufgescheucht heben sie ab, kreisen, nur um dann wie eine flatternde Sturmflut aus Flügeln und Federn auf uns zuzurasen. Janine hat Angst. Ich bin fasziniert.
Auch von den uralten Bäumen, kleinen, versteckten Teichen, Weiden, die sich im Wasser spiegeln. Verschnörkelte Bänke, auf denen momentan niemand sitzt, leere, verlassen wirkende Gartenpavillons. Ein hübscher, englischer Garten. Duftende Rosen. Ein großes, geschmiedetes Eisentor.
Und kein einziger Tourist weit und breit. Außer uns natürlich – vielleicht zerschießen wir ein wenig die Statistik. Das ist einer der Parks, wo Einheimische spazieren gehen. Wo eine Dame Hundesitting betreibt und gerade zehn oder mehr ihrer Lieblinge abholt. Wo die Menschen, dick eingemummelt, entlang gehen und reden und wo uns ein älterer Herr sofort fragt: „Do you need a direction?“, als wir unschlüssig mit unserer Karte stehen bleiben. Ach, in die Menschen hier könnte ich mich, Brexit hin oder her, glatt verlieben.
Englische Rosen. Ihr Duft ist unbeschreiblich schön, kein Parfüm kann ihn nachahmen. Immer wieder bin ich erstaunt, wie gut es doch war, nicht U-Bahn gefahren zu sein. Immer wieder entdeckt man etwas Tolles. Wie diesen Rosenduft. Ich höre von Janine ein kleines „wow“.
Eine Frau versucht, die Tauben aufzuscheuchen, doch die spazieren ganz cool, ganz träge auseinander, ohne auch nur aufzublicken, ganz so wie ein Londoner, wenn er die rote Ampel an einer stark befahrenen Kreuzung überquert.
Das Camden-Viertel
Irgendwann erreichen wir Camden Town, das Stadtviertel, in dem Amy Winehouse ehemals gelebt hat. Es passt zu ihr, das alternative und unangepasste, und der Camden Town Market hält eine Statue bereit, um an sie zu erinnern. Doch inzwischen werden die Märkte Viertel als eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt angepriesen. Cooles spricht sich eben rum. Und zurecht, denn am Ende des Tages ist Camden Town eines der Dinge, die mir am besten gefallen haben hier in London. Und Janine, meinem alternativen Gruftie? Ihr sowieso…
Als wir an der Metro Station ankommen und unsere Kameras zücken, fährt ein Skateboarder an uns vorbei. „No foto! No foto!“ Ruft er und fährt weiter. Meine Freundin lässt sich verarschen und steckt brav ihre Kamera weg. „Ich glaube, hier dürfen wir nicht fotografieren!“
Die Wände der Häuser sind der Wahnsinn. Bunt und schrill: hier ein Graffito, da was buntes, riesenhafte Drachen, Schuhe und andere Gebilde klettern die Hausfassaden hoch und zeigen an, welche Art von Waren hier angeboten wird. Die Märkte und unzählige kleine Läden erstrecken sich entlang der Hauptstraße und kleine Gassen führen vom Weg ab und in ein Labyrinth weiterer überdachte Stände hinein. Hier haben sich einige Jungdesigner angesiedelt, jedoch ist Vorsicht geboten, denn gerade im ersten Abschnitt der Hauptstraße hängt auch jede Menge Ramsch und Chinaware herum. Um die ganzen Schätze und Unikate zu entdecken, da muss man schon etwas tiefer in die Gewinde aus Buden und Läden eintauchen.
Und Schwupps! – verschwindet meine Freundin in einer der engen, geheimnisvollen Seitengassen, in den vielen Ausläufern des Marktes, wo man inmitten vieler Kleidung schon mal verloren gehen kann. Ich indessen laufe weiter – sie wird vorerst eine Weile beschäftigt sein.
Ich spaziere die Straße einmal rauf, schaue mir oberflächlich an, was es hier so gibt, mache ein paar Bilder und spaziere die Straße wieder runter, in der unruhigen Erwartung darauf, dass mich meine Freundin bereits sehnsüchtig suchen wird. Doch von der fehlt jede Spur, und als ich mich in die Tiefen der kleinen Märkte begebe, finde ich sie schließlich, in ein liebliches Gespräch mit dem sichtlich begeisterten Verkäufer vertieft, am Leib ein opulentes, schwarzes viktorianisches Kleid und drei ebensolche in der Armbeuge. Ja, hier tobt sie sich aus, hier gibt es Kleider genau nach ihrem Geschmack… Teilweise bunt und schrill, teilweise schwarz und kultig, mit viel Spitze und weinrotem Samt. Erinnern wir uns kurz – es sind immer noch bloß zwei (!) Handgepäckstücke, die wir für den Rückflug zur Verfügung haben…
In die Marktzone käme keine Sonne hin, selbst wenn sie scheinen würde, denn alles ist mit Klamotten diverser Art zugehängt. Ich schleiche wie ein Schatten um die Stände herum und shoppe die vielen Kuriositäten erstmal mit den Augen. Es gab mal eine Zeit, da hätte auch ich mich doof und dämlich eingekauft, doch das Buch von Raphael Fellmer „Glücklich ohne Geld“ hat mein Leben verändert. Zumindest meinen Blick auf den Konsum, und das ist schon mal viel.
Oftmals kaufen wir nicht Waren, wir kaufen das wohlige Gefühl, uns etwas Gutes getan zu haben. Mehr steckt nicht dahinter, hinter der Sehnsucht, immer wieder etwas Neues haben, immer mal eine Kleinigkeit einkaufen, konsumieren zu wollen. Natürlich – so hardcore, wie Raphael sein Leben in seinem Buch beschreibt, möchte ich – möchte wohl kaum jemand die Sache durchziehen, doch die Ansätze sind durchaus sinnvoll. Seine Philosophie beruht darauf, dass der Überfluss, in dem unsere Gesellschaft Tag für Tag lebt, reichen würde, um noch einige Menschen mehr zu ernähren. Es werden Tonnen an Lebensmitteln Jahr für Jahr weggeworfen, die noch einwandfrei sind, da die Entsorgung oftmals billiger ist als der Aufwand, etwas Sinnvolles damit machen zu wollen. Doch das Bewusstsein der Gesellschaft ist erwacht – die ersten Foodsharing-Points gehen auf Raphael Fellmer zurück.
Meine Einstellung zum Thema Shopping ist keinesfalls militant. Sie betrifft nur mich; so käme mir nicht im Traum die Idee, Menschen um mich herum diesbezüglich zu „bekehren“. Als wir, nochmals zwanzig Minuten später, die schattige, bunte Marktzone verlassen, trägt meine Freundin mehrere volle Taschen bei sich. „Frag mich nicht, wieviel ich dort ausgegeben habe.“ Sagt sie und guckt mich an. Die Frage ist obligatorisch, denn den Betrag wird sie mir sowieso den nächsten Sekundenbruchteil nennen.
Und als sie das dann tut, muss ich mich vor Entsetzen an einem der Pfeiler festhalten, die eigentlich die Marktbuden stützen sollen. Schon blöd, wenn noch erschwerend die Tatsache hinzukommt, alles mögliche mit der Visa-Karte zahlen zu können, denn ähnlich wie die Straßenkünstler haben auch die Marktleute jeder ein Visa-Terminal an ihren Ständen parat. Die Investition zahlt sich aus, denn die digitale Bezahlmöglichkeit senkt die Hemmschwelle ungemein.
Hier gibt es nicht nur Klamotten – neu oder vintage – sondern auch Live-Musik, Kunst, Streetfood oder diverse Cafes und Pubs. Am Regent’s Canal stehen Trucks mit Spezialitäten aus aller Welt und wer möchte, kann auch eine Bootsfahrt zum Little Venice unternehmen. So viel Zeit haben wir nicht, doch um uns mit Essen einzudecken, reicht es schon. Hier splitten wir uns wieder und stöbern jede für sich um die Stände herum. Es ist voll und als ich endlich mein Essen in der Hand halte, setze ich mich einfach zu irgendwelchen Leuten dazu, die sich anscheinend auch mehr per Zufall an eben diesem Platz gefunden haben. Ich muss grinsen, denn drei von fünf sind Deutsche. Ein sehr reiselustiges Völkchen, diese Deutschen, sie sind überall anzutreffen.
In einer der überdachten Markthallen hole ich mir ein paar Ohrringe und nach dem Essen tauchen wir weiter in die unterirdischen Hallen des Camden Market ein. Hier wird es spannend, denn sofort erkenne ich, dass wir nun uns weit abseits von Mainstream Kleidung bewegen. Junge Künstler verkaufen ihre Kreationen und an jeder Ecke findet sich etwas geiles. Es gibt Geldautomaten (We have your money…).
Um meine Liebe zum Graffiti zu stillen, gibt es für Kasia ein T-Shirt in Spray-Art. Das Motiv: die verrückte blonde Braut von Batmans Jocker. Sie rennt in knappen Shorts und mit einem Baseballschläger herum und verprügelt böse Jungs – ich mag die Lady…
Ja, Camden Town ist eine Welt für sich. Und ja, es gibt sie hier – diese ganz besondere Atmosphäre, die so häufig beschrieben wird. Auch ich spüre sie, kann sie aber kaum greifen und noch weniger in Worte fassen. Es ist dieses Gefühl, einfach nur ein Gefühl und jeder Versuch, es zu beschreiben, würde scheitern. Klar – für viele sind es nur Märkte. Doch da im Untergrund tut sich noch mehr. Wie gesagt – gefühlt…
Leider haben wir nicht den ganzen Tag Zeit, um sie hier zu verbringen, so liebend gerne ich das tun würde. Denn am Nachmittag möchte ich uns zur kostenlosen Streetart-Tour in East End bringen. Die Tour wird von Strawberry Tours organisiert und ist kostenfrei – und doch wieder nicht, denn ein Trinkgeld in angemessener Höhe ist jederzeit willkommen. Und die Touren sind tatsächlich super gemacht…
So entfernen wir uns wieder vom Camden Town Market, nachdem wir das Cyber Dog entdeckt hatten, den Cornflakes-Laden und die großen Cornflakes-Schachteln, vor denen man sich fotografieren kann und nachdem wir Amys Statue huldigten. Wir laufen denselben Weg zurück, diesmal zur Metrostation hin, Janine mit ihren vielen Einkaufstüten und ich mit einem T-Shirt.
Warte ab, Camden Town, du hast mich nicht zum letzten Mal gesehen…
(Unbeauftragte Werbung)