Heute nutze ich das schöne Wetter und die leichten Schleierwolken, um mich wieder freiwillig einen Berg hochzupeitschen. Ihr werdet allerlei mit mir zusammen erleben. Ich war müde, habe geflucht, sah wilde Tiere, landete im Brombeerfeld, wurde euphorisch, dann neidisch, dann traurig und am Ende suchte ich einmal mehr das Auto. Was sonst.
Ein normaler Wandertag also. Kommt mit!
Die Kalmit
Die Kalmit ist ein Berg bei Maikammer im Pfälzischen Wald in der Südpfalz an der südlichen Weinstraße. Er hat 672 m Höhe. Ihm anliegend befindet sich das Kalmit Felsenmeer, vergleichbar mit dem Felsenmeer in Odenwald, auf dem man klettern und kraxeln und sich zwischen seinen vielen Spalten verstecken, ja, theoretisch sogar übernachten kann. Der Berg und sein „Meer“ sind in mein Visier geraten (entschuldigt die Ausdrucksweise, ich schaue in letzter Zeit recht viele Krimiserien), als ich zuletzt mit meiner Mädchenclique hier rund um Maikammer wandern war. Seitdem war für mich klar, dass ich irgendwann wieder kommen würde; ich wusste nur nicht, wann. Heute ist so ein Tag.
Dünne Schleierwolken verhüllen den frühjährlichen Himmel wie ein Gazetuch und der schwache Schein schafft es nicht, den Waldboden zu erreichen. Meine Wanderung beginnt mit der Suche nach einem geeigneten Parkplatz und damit, ewig nach der Karte auf dem Handy zu suchen, auf der ich doch meine geplante Rundwanderung gespeichert habe. Unzuverlässige Elektronik (oder sitzt das Problem davor?), dann eben die Wegmarkierungen. Ganz Oldschool beginne ich, mich nach den Markern des Pfälzer Weinsteigs zu orientieren. Gut, wenn man sich seine Route im Vorfeld angeschaut hat.
Doch vom Parkplatz aus gehe ich zunächst ein Stück weit entlang der Esskastanienroute (da staunt ihr, was wir hier alles in der Pfalz haben…), passiere eine steile, bemooste Treppe und eine Brücke, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Gekonnt (ha-ha…) springe ich über die klaffenden Löcher, um nicht in den Abgrund (…das Mini-Bächlein) zu fallen. Der Pfad mutet jetzt schon spannend an. Da habe ich es, denke ich mir: mein Abenteuer light. Genau wie ich es mag. Ja, ich glaube, wenn man mich beschreiben würde, dann würde auf meinem Grabstein stehen: „Kasia, Abenteuerin light. Sie schlief auf ihrer Terrasse und bezwang den Kalmit.“
Die Wegmarkierungen schicken mich ansteigend nach oben. Na ja, ich will ja schließlich einen Berg erklimmen, denke ich mir schnaufend. Es ist anstrengend und wie immer bei solchen Geschichten, habe ich auch jetzt bereits auf den ersten Metern den Gedanken, einfach umzudrehen und zurück zum Auto zu laufen. Der Kalmit liegt auf fast siebenhundert Metern, denke ich mir, das wird noch eine Weile so gehen. Schnauf, schnauf. Glücklicherweise bleibt genügend Zeit für meine Bilder, ohne das Gefühl zu haben, jemanden aufzuhalten.
Bis auf Rentnerpaare, die mir hin und wieder entgegen kommen, bin ich hier fast komplett allein. Es ist unter der Woche und dieser Streckenabschnitt scheint nicht sehr frequentiert zu sein. Viele ziehen es auch vor, mit dem Auto hinauf zu dudeln. Nicht so ich.
Schnauf.
Wilde Tiere
Wie ich so in der Einsamkeit einen Fuß vor den anderen stelle, erscheinen wie magisch Rehe auf meinem Weg; geisterhaft lautlos rennen sie von links nach rechts, über den Wanderpfad den Abhang hinauf. Drei sind es an der Zahl; zwei große und ein kleineres. Sie verschwinden oben zwischen den grau-braunen Baumstämmen und als ich diese Stelle erreiche, ist von ihnen im Dickicht nichts mehr zu sehen. Das sind diese Geschenke, die man manchmal, unerwartet, gemacht bekommt. Diese stillen Augenblicke, die nur dir gehören. Als mir just einen Moment später ein weiteres, älteres Paar entgegen kommt, weiß ich genau: sie haben sie nicht gesehen. Da bin nur noch ich, wie ich mit glänzenden Augen den Wald zu meiner rechten taxiere. Dies hier war nur für mich.
Überhaupt hat sich seit der Wanderung damals mit Moni über den Bergsträßer Blütenweg einiges geändert. Es ist noch immer anstrengend und ich leide weiterhin, doch es fühlt sich nicht mehr so sehr nach Strafe an. Mehr noch: wenn ich eine leichte Wanderung vor mir habe, langweile ich mich. Ist der Berg „zu niedrig“, ist es mir zu einfach. Und habe ich mich nicht mindestens einmal gequält, so fühlt sich das nicht richtig an. Nicht falsch verstehen, ich bin durchaus imstande, auch übers Wochenende mit der Couch zu verschmelzen, aber wenn ich schon loslaufe, dann sollte es was richtiges sein.
Ab durch die Botanik
So wie jetzt. Mehr durch Zufall stoße ich auf einen neuen Pfad. Dieser führt mich, anstatt sich sachte und in Schleifchen um den Berg zu winden, schnurstracks hinauf und durchs Gestrüpp. Um uns klar zu verstehen; es handelt sich um einen „richtigen“, allerdings nicht markierten Pfad, der einen hochkant und sehr steil auf kürzestem Wege auf den Berg zu bringen verspricht. Komplett offroad durch den Wald würde ich nicht gehen. Ihr wisst schon; die Tiere und die Pflanzen und so.
Der Pfälzer Weinsteig versucht wohlgemeint, mich auf einen weniger steilen Weg zu lotsen. Ich schaue einmal links, einmal rechts, denke mir: „Zu einfach!“ und spurte mitten durch. Steil nach oben. Meine Gelenke verfluchen mich und die Spannung in den Waden wird auch bei Stillstand zum Dauerzustand. Einmal sogar kommt mir jemand entgegen, eine Wanderin mit ihren Wanderstöcken. Sie hat ein vor Anstrengung ganz rotes Gesicht und als ich sie begrüße, schaut sie mich nur aus verstörten Augen an.
Wie sehe ich selbst eigentlich aus?
Der Pfad wird nicht leichter. Zwischendurch kreuzt er eine quer verlaufende Schnellstraße und ein Radfahrer schaut auf mich herunter, wie ich mich den steilen Abhang hochziehe. Ich grinse und winke kurz. Ja, guck nicht, Kasia weiß genau, was sie hier macht.
Doch wenn ich nach hinten schaue (Achtung… nur schauen… nicht fallen lassen…), sehe ich, welche Strecke ich bereits hinter mich gebracht habe und zum ersten Mal macht sich das Gefühl breit, diesen Berg tatsächlich schaffen zu können. Die ersten riesenhaften, grün bemoosten oder mit Flechten bewachsenen Felsen tauchen auf. Oben zwischen den Bäumen sehe ich die Umrisse des Kalmithauses. Sollte ich tatsächlich schon fast da sein? Das ging ja verhältnismäßig schnell. Schon macht sich das leise Gefühl von „zu leicht“ in mir breit. Doch noch bin ich nicht da oben.
Mein Telefon weist eine Nachricht auf. Es ist Moni, die mich fragen möchte, wann wir mal wieder wandern gehen. Ich muss lachen – ich habe gerade den Rucksack abgelegt und stütze mich an einem Baumstamm ab, um den steilen Abhang nicht hinunter zu purzeln. Stolz schicke ich je ein Foto von der Strecke und meinem angestrengtem Gesicht.
Die stabilisierenden Felsen im Untergrund verschwinden und schließlich deuten nur die im Laub ausgetretenen Spuren darauf, dass hier ein Pfad ist, der auch genutzt wird. Ich finde mich im dornigen Brombeerfeld wieder. Die gute Nachricht ist: ich bin fast am Berg. Ich kann schon das Kalmithaus sehen. Die schlechte Nachricht ist: ich stehe mitten in einem Dornfeldgestrüpp und gucke wie ein wundes Reh aus der Wäsche.
„Oh, das sieht dort aber nicht gemütlich aus.“ Ruft mir ein Mann zu, der mit seiner Gattin entlang des Weges kommt. Immer diese Pärchen. Ist heute Pärchentag oder was? Beide schauen sie leicht verwundert, leicht fassungslos auf mich herunter und ich möchte fast schon rufen, dass ich kein Reh bin, nein. Nicht schießen bitte.
„Fragen Sie mich nicht, was ich hier mache.“ Rufe ich stattdessen zurück. „Denn das weiß ich selbst nicht so genau.“ Die beiden gehen weiter den gemütlichen, flachen Pfälzer Weinsteig entlang, den ich vorher verschmäht habe. Klar, was sonst. Mühsam ziehe ich mich aus den Dornen, damit mich peinlicherweise nicht noch mehr Leute da stehen sehen.
Das Kalmit-Haus
Gemütlich und entspannt spaziere ich weiter. Der Weg ist eben, die Felsen belegt von Leuten, die, ihrem Schuhwerk nach zu urteilen, ganz offensichtlich mit dem Auto hier hinauf gefahren sind. Nicht wie echte Helden. Im Geiste klopfe ich mir auf die Brust und gebe einen urtümlichen Siegesschrei von mir. In der Realität grüße ich freundlich, wie es sich gehört.
Unten im sonnig-dunstigem Tal breitet sich die Pfalz vor mir aus. Kleine Dörfer aus Legosteinen, sonnenbeschienene Dächer, glänzende Fenster. Die blaue Ferne. Da unten parkt irgendwo mein Auto und von dort bin ich hinauf gekommen. Eine kleine, graue Echse verschwindet schnell, als ich mich auf einen großen Stein stelle, um besser zu sehen.
Dann stampfe ich etwas schwerfällig in Richtung Kalmit-Hütte. Der Inhaber bietet während der Corona-Zeit eine Testmöglichkeit an. Nach einer erfolgreichen, hier: negativen Testung kann sich der müde Wanderer an eine der vielen Bänke mit Ausblick setzen und eine Stärkung ordern. Außengastronomie vom Feinsten.
Ich frage nach einem solchen Test, muss aber aus Mangel an einer ausreichenden Menge Bargeld passen. Wann trennt sich Deutschland endlich von seiner bedingungslosen Liebe zum Bargeld zugunsten moderner, nicht mittelalterlicher Zahlungsmethoden?
Doch ich bin euphorisch, ich weiß selbst nicht, warum. Hat es etwas mit meinem schwierigen Aufstieg zu tun? Fakt ist: gerade schüttet mein Körper alles Dopamin in den Blutkreislauf, das er erübrigen kann. Ich fühle mich leichtfüßig und fröhlich. Singend, obwohl ich nicht singe. Meine nächsten Schritte führen mich nun zum eigentlichen Ziel der Kletterpartie: dem Pfälzer Felsenmeer.
Das Felsenmeer Hüttenberg
Das Pfälzer Felsenmeer, oder: Felsenmeer Hüttenberg am Kalmit ist eine Ansammlung an größeren und kleineren Steinen und Felsbrocken, die vor etwa 2,5 Millionen Jahren durch eine Sprengung von eingelagertem und zu Eis gefrorenen Wassers erfolgte. Dadurch wurde der Fels in kleinere Stücke zersetzt.
Es beginnt, von oben aus gesehen, recht unspektakulär. So unspektakulär, dass ich Moni eine Nachricht schicke mit dem Hinweis, dass das Felsenmeer in Odenwald doch um einiges toller sei. Hier hingegen stehen ein paar einzelne Felsbrocken in der Weltgeschichte rum, die schließlich dünner werden. Doch da ahne ich noch nicht, dass das erst den Anfang der Kletterpartie darstellt.
Auf einem der grünen, bemoosten Sandsteinfelsen entdecke ich einen tief eingeritzten Schriftzug. Ein Name. Ein Datum. Das Jahr 1948. Und ein Ort: Landau. Um den Schriftzug herum sind Einschusslöcher zu sehen, davon ganz schön viele. Diese unausgesprochene Geschichte eines einzelnen bringt mich dazu, darüber zu recherchieren. Es wird darüber einen separaten Artikel geben.
Die Vagabunden
Als ich den ersten von ihnen noch auf dem Kalmit-Parkplatz den Berghang hinaufkommen sehe, denke ich mir noch: was für ein Exzentriker. Ein müde aussehender Mann mit hagerem Gesicht und Dreitagebart, der seine eigene Matratze auf dem Rücken trägt, die fast so groß ist wie er selbst. „Das ist ja wie in Nepal.“ Sage ich zu einem unbeteiligten Ausflügler neben mir, der mit seiner Frau die Erscheinung vor uns ebenso verwundert anstarrt wie ich selbst. Ich fühle mich bei seinem Anblick an meine Zeit in Nepal erinnert, wo die Menschen Lasten auf dem Rücken trugen, die sie teilweise völlig verdeckten.
„Ja,“ antwortet der Mann. „Ein Sherpa…“ Doch was fehlt, sind die Touristen, für die die Matratze vermeintlich getragen werden sollte.
Einige Meter weiter sollte sich das Rätsel dann auflösen.
Das Felsenmeer erinnern mitnichten an jenes in Odenwald in Lautertal, wo die Kinder toben und wie Berserker von Fels zu Fels springen. Im Gegenteils scheinen die Felsen hier recht schnell zu ende zu sein. Hm, wie lahm… denke ich mir nach ein paar Metern Fels und weiche auf einen Pfad, der in Richtung St Martin führt. Erst der kleine Junge, der sich unter wachsamen Blick seines Vaters den Abhang hinauf bugsiert, macht mich indirekt darauf aufmerksam, dass hier, ein ganzes Stück weiter, das „richtige“ Fels-Geschehen erst beginnt. Kurz stehe ich unentschlossen neben dem graubärtigen Vater, bis ich dann mehr zu sich selbst sage: „Ich glaube, ich will da auch rauf.“ Zu sich selbst deshalb, da der Mann mit keinem Lebenszeichen reagiert. Die Leute sind heutzutage mehr denn je mit sich selbst beschäftigt, so sehr, dass sie kaum merken, wenn sie jemand anspricht.
Dank Wanderschuhen mit Profil (diese sollten eigentlich für meine Vulkanbesteigung in Äthiopien dienen, Scheiß COVID…) bin ich im Nu wieder draußen und finde mich wie in einem Kindermärchen neben und zwischen riesenhaften Felsen wieder.
Und da sind sie, die Männer und Frauen, die allen Anschein vorhaben, hier ein Abenteuer zu starten.
Dachte ich zu Anfang noch an einen einzelnen Sonderling, so muss ich dies nun korrigieren. Nach genauerem, unauffälligen Blick scheint es sich hier um eine Art Challenge zu handeln, ähnlich jener, die ich neulich mit meiner Freundin absolviert habe. Nur dass wir zum Karfreitag auf der heimischen Gartenterrasse schliefen; die Vagabunden hier machen es sich indessen in den vielen Felsspalten bequem. Sie breiten ihre mobilen Matratzen aus, wo immer es geht, nutzen die Hohlräume, wo die Felsen Überhänge bilden, um bei eventuellem Regen im Trockenen zu sein. Und es kommen immer mehr dazu. Manche haben das Bedürfnis, Freestyle die Felsen zu erklettern und sich so die Zeit bis zum Abend zu vertreiben. Viele haben Musik dabei. Ein Pärchen hat seine Hängematte zwischen Fels und Hang aufgehängt.
Ganz neidisch betrachte ich das Treiben. Am liebsten würde ich mitmachen, jetzt, hier, sofort. Doch ich kann sie schlecht fragen: „Hey, Kinners… was macht ihr hier?“ Vor allem, da sie gerade gegen alle COVID-Auflagen verstoßen, die die grauen Eminenzen dort oben sich soeben ausgedacht haben. Doch wie riskant ist denn schon das schlafen an der freien Luft, mit den definitiv vorhandenen Abständen?
Ich scharwenzle ein bisschen auffällig unauffällig um die Leute herum. Es ist wie damals auf dem Schulhof, wenn man davor steht, den anderen beim Spielen zuguckt und sich wünscht, dass einer sagt: „Hey, magst du nicht mitspielen? Hier, du hast den Ball!“ Doch da mir niemand „den Ball zuwirft,“ gucke ich nochmal sehnsüchtig, seufze einmal schwer und schleiche schwerfällig weiter. Und bin ganz neidisch. Oh wie neidisch ich gerade bin, auf all die Leute hier und ihre Aktion. Und beschließe sofort, ein eigenes Ding zu starten. Auch eine Übernachtung, genau hier. Mit Schlafsack und sonst nichts. Na, vielleicht mit guten Freunden, ein bisschen Alki zum Aufwärmen, ein bisschen Mucke für die gute Laune. Warte ab, Welt!
Der Abstieg
Indessen schleiche ich weiter. Springe von Fels zu Fels. Die Schuhe geben so guten Halt, als wäre ich ein Gecko, der an einer Hauswand hochrennt. Einen Augenblick sitze ich noch auf einem der Felsen, schaue runter in den Wald und lausche auf die fröhliche Musik hinter mir, die nun etwas ferner geworden ist. Wenn ich jetzt noch jemanden hochgehen sehe, mit eigener Schlafgelegenheit auf dem Rücken bewaffnet, dann frage ich, was das für eine Aktion ist. Denn ich bin neugierig. Und vorhin habe ich mich nicht getraut. Ja, zum verdeckten Ermittler tauge ich sowas von überhaupt nicht…
Doch es scheinen sich nun, gegen halb sechs am Abend, alle Abenteurer bereits versammelt zu haben. Es kommt mir bloß noch eine kleine Familie entgegen und ein Wanderpaar. Der Mann fragt mich: „Na, sind genug Felsen im Felsenmeer?“ Und es dauert einen Moment, bis ich dies auch kapiere. Genug Felsen im Felsenmeer, aah, ja, lustig. Ich bin verstimmt, eigentlich hätte ich jetzt auch hier irgendwo eine Schlafstätte vorbereiten sollen. Schnief.
Doch je tiefer ich absteige, umso mehr verfliegt es, das „ich will auch“ Gefühl. Am Ende meines Pfades kommt eine Hütte mit Ausblick, die Hüttenberghütte. Hier geht es nicht weiter, also drehe ich um und laufe ein Stück zurück. Der Pfälzer Weinsteig und diverse Beschilderungen lotsen mich zuverlässig zum Ort Sankt Martin, der südwestlich von Maikammer liegt. Hin und wieder bleibe ich kurz stehen und betrachte die Bäume und die tiefer sinkende Sonne, die sich zwischen den Kiefern zeigt. Ich bin alleine, hier im Wald. Bis auf zwei Power-Biker, die sich mit ihren Rädern den steilen, sandigen Weg hoch quälen (warum macht jemand das?) ist niemand zu sehen. Nur das abendliche, intensive Zwitschern der Waldvögel in der Stille. Welch ein wundervolles Gefühl, einen Wanderweg für sich allein zu haben. Das hat man nicht alle Tage.
Neben dem Wanderpfad hat jemand, vermutlich Kinder, aus Steinen eine Armee an Steinmännchen gebaut. In einem Baumstamm sind eingeritzt die Namen zweier Liebenden und das Datum: 2000. Wie oft bei solchen Gelegenheiten, so frage ich mich auch diesmal, ob die beiden wohl noch zusammen sind. In zwanzig Jahren kann auch nach den innigsten Liebesbekundungen noch vieles passieren.
Sankt Martin
Welch wundervoller, schöner Weinort Sankt Martin doch ist! Ich passiere staunend das kleine und sehr schmucke Zentrum. Wie schon Wachenheim an der Weinstraße, so auch jetzt erinnern mich die Orte in der südlichen Pfalz sehr stark an Italien oder Südfrankreich. Was kein Zufall ist, denn wir befinden uns nicht mehr weit von der Grenze zu Frankreich entfernt, und wie immer die gemeinsame Geschichte im einzelnen gewesen sein mag, wechselhaft war sie auf jeden Fall.
Alles deutet hier auf Wein. Die großen, hölzernen Tore, die zu den Innenhöfen führen. Ich liebe die pfälzischen Innenhöfe, sie sind meist voller Blumen, Terrakottatöpfe und landwirtschaftlicher Geräte. Glasvitrinen präsentieren die Erzeugnisse der letzten Weinlese und alle fünf Minuten ist fußläufig ein Winzerhof erreichbar. Auch die Tradition der Weinprinzessin wird hier gepflegt. Die letzte „Prinzessin“, Marie, wurde 2019 gewählt.
Und doch ist Sankt Martin, trotz all seiner Schönheit, ein eher unbekannter Ort. Bah, ein sehr unbekannter Ort sogar, einer von vielen hier in der Südpfalz. Die ganze Gegend wird stark unterschätzt, wie so oft bei schönen Gegenden und Orten, die noch nicht auf dem Influencer-Radar aufgetaucht sind. Genau das mag ich an Instagram nicht: anstatt dabei zu helfen, die Menschenströme zu entzerren, führt das Medium Menschen an immer dieselben, bekannten Destinationen, wo sie dann blindlings hinströmen wie Lemminge.
Wo ist mein Auto?
Doch meine Wanderung ist hier längst nicht zu ende. Denn mein fahrbarer Untersatz, mit dem ich hierher gekommen bin, steht in Maikammer; genauer gesagt, in einer Parkeinbuchtung entlang der Kalmithöhenstraße. So fit ich mich bisher fühlte, jetzt merke ich, wie die Energie langsam aus meinem Körper entschwindet. Ähnlich der Sonne, deren letzte Strahlen noch hinter den Bergen hervor die Weinrebenfelder fluten. Spaziergänger nutzen die Abendstunden, um ihre Hunde oder sich selbst auszuführen. Zu meiner rechten leuchtet Maikammer in gelblicher Helligkeit, ein schöner Anblick. Ebenso wie der des Kalmit-Berges zu meiner linken, der zwischen zwei weiteren Hügeln emporragt und an dem Telefonmast und der Kalmithütte erkennbar ist. Da oben bin ich gewesen, denke ich mir nicht ohne eine gewisse Zufriedenheit. Und nun, da dies geschafft ist, kommen mir die letzten zwei, vielleicht drei Kilometer unschaffbar lang vor. Um das ganze abzukürzen, gehe ich querfeldein durch die bereits zugeschnittenen Weinrebenfelder.
Doch auch hier hilft die Orientierung am Pfälzer Weinsteig, dessen Markierungen schon bald vor meiner Nase auftauchen. Über einen weiteren Schleichweg, an einem Brunnen vorbei (oh, Wasser, wie schön…) und durch ein altes, verrostetes Gatter hindurch (ist das da ein alter Bunker? Was zum Teufel war hier?) erreiche ich schließlich die löchrige Holzbrücke von heute Morgen. Eine steile Treppe taucht vor meiner Nase auf und ich weiß, dass sie mich zuverlässig zum Parkplatz führen wird. Inzwischen bin ich auf den Esskastanienpfad abgebogen.
Der Parkplatz ist völlig leer, bis auf mich und einen einsamen Wohnwagen, dessen Insassen es sich gerade beim Abendessen und mit Weingläsern in der Hand gemütlich machen. Man ist ja Spanner, also winke ich von weitem kurz durchs Fenster, eher ich mich auf meinem eigenen Autositz niederlasse.
Am nächsten Morgen
Der nächste Morgen ist schnell erzählt. Beine tun weh. Muskeln tun weh, Gelenke tun weh. Und meine Hüfte tut weh (wie alt bin ich, siebzig??). War ne tolle Wanderung, das machen wir bald wieder.
An dieser Stelle ein ganz lieber Gruß an die Elke von Elke unterwegs, dem Original ;-), die mich mit ihren Wednesday-Walks dazu inspiriert, die Welt um mich herum mit anderen Augen zu sehen.
[…] eine Art. Ihr Name im Fels. Manchmal das Datum, manchmal der Ort, so wie „Landau“ am Kalmiter Felsenmeer. Sie wollen, dass etwas von ihnen übrig bleibt, aus dieser Zeit, aus diesem Augenblick. Sie […]
Danke für den lieben Gruß! Es freut mich natürlich sehr, dass ich dich mit meinen Wednesday Walks dazu animiert habe, der näheren Wanderumgebung eine Chance zu geben, genauer betrachtet zu werden – bis wir wieder „richtig“ reisen können 😎.
Als gebürtige Saarländerin kenne ich natürlich den Pfälzer Wald, aber von der Kalmit habe ich bisher noch nie gehört. Wieder was gelernt! Danke! Die Esskastanienroute wäre ich sicher auch gelaufen – zumindest, wenn an deren Ende eine ordentliche Portion davon serviert worden wäre.
Ein richtiger Berg also dieses Mal. Er scheint dir ja das richtige Maß an Herausforderung geboten zu haben 👍. Dornen und sonstige Hindernisse inklusive!
Bei euch ist – bzw. war, bis der Bund auf die Notbremse getreten hat – die Außengastronomie geöffnet? Schade, dass du mangels altmodischer Zahlungsmittel nicht davon profitieren konntest. In der Tat: wir sind hier in Deutschland, was Kartenzahlungen angeht, teilweise so was von hinter dem Mond … In Schweden kannste selbst auf den öffentlichen WC’s nur noch mit Kreditkarte zahlen! Die haben das Bargeld de facto schon so gut wie abgeschafft. Allerdings habe ich den Eindruck, dass Corona zumindest in dem Zusammenhang für etwas technischen Fortschritt gesorgt hat. Seitdem zumindest akzeptiert unser Bäcker Kartenzahlung. Doch ich schweife ab …
Felsenmeere sind voll mein Ding! Da schwimme ich auch gerne drin 😅. Deine Fotos machen mich ja schon heiß drauf, eines Tages auf deinen Spuren zu wandeln. Hoffentlich kannst du deine Spezial-Wanderschuhe nächstes Jahr doch noch in Äthiopiens Vulkanlandschaft zum Einsatz bringen!
Und solltest du dich tatsächlich dazu aufraffen, deine Übernachtungspläne nach dem Vorbild der Matrazen-Horden umzusetzen, vermute ich mal schwer, dass das dann deutlich weniger komfortabel (auch was das Kulinarische betrifft 😅) ablaufen wird als auf der heimischen Terrasse. Aber du wirst uns sicher virtuell teilhaben lassen, gell?
Selbstverständlich lasse ich euch an allen Verrücktheiten teilhaben 😉 Inzwischen, nach einigen Erkundigungen, vermute ich stark, dass es sich hierbei um Kletterer gehandelt haben musste. Es scheint unter Kletterern sowas wie Tradition zu sein, draußen an den Felsen unter freiem Himmel zu biwakieren. Ich habe mir einen neuen Schlafsack bestellt, der unbedingt ausprobiert werden will. Die Komforttemperatur von dem Ding sollen angeblich minus fünf Grad sein, also für Frauen plus zehn Grad Außentemperatur *lach* Es besteht die Chance, dass ich darin nicht friere.
Das mit der Kalmithütte war nicht so schlimm, ich wollte dort nur was essen, um die Gastronomie zu unterstützen… in Wahrheit hatte ich selber Proviant dabei und war bestens versorgt 🙂
Unser Bäcker nimmt inzwischen auch die Karte, aber mal ehrlich, das ist ein kleiner Schritt… ich lobe mir da Island (in Schweden war ich noch nicht), dort habe ich ganze zwei Wochen verbracht, ohne auch nur ein einziges Mal Bargeld benötigt zu haben. Jede einzelne Hotdog-Bude nahm meine Visa an. Ich weiß manchmal bei solchen Dingen nicht, wo hier bei uns das Problem liegt…
Die Inspiration deines Blogs berief sich auf die Fotobeschriftungen, von denen einige doch sehr Elke-inspiriert geworden sind – ist es dir aufgefallen? 😉 Allerdings hatte ich nicht bei jedem Foto die Geduld dazu. Manche Formen im Wald waren so skurril, dass ich dabei sofort an dich und deine Wendesday-Walks denken musste (wann kommt da übrigens eine neue Runde? Ich warte jede Woche…).
Ja, der Schlafsack sollte dann spätestens ab Mai Kasia-tauglich sein, wenn wir hoffentlich nur noch Temperaturen im zweistelligen Bereich haben werden.
@Kreditkarte: ich verstehe es auch nicht …
@Bildunterschriften: ja, mir ist eine gewisse Anlehnung aufgefallen 😎.
@Nächster WW: ich hatte nach 13 Touren das Bedürfnis, eine Brandenburg-Pause einzulegen. Mal schauen, wann ich wieder losziehe! Vielleicht schon im Mai, vielleicht aber auch später.
Eventuell bekommst du Lust, ein wenig in Saarland zu wandern? Das wäre doch mal was anderes 😉 Ooder du schaust dir Mannheim an… *grins*
Beides eine ziemlich gute Idee 😎
Hallo Kasia,
jetzt bin ich aber ganz außer Atem.
Es freut mich, dass es dir in der Pfalz so gut gefällt. Das war bestimmt eine schöne Wanderung, wenn auch anstrengend. Du musst natürlich diretissima aufsteigen. Das rächt sich natürlich. Beim Aufsteigen mit fehlender Luft und später, wie du ja auch schreibst, mit Muskelkater und zwicken und zwacken an anderen Stellen des Körpers.
Schöne Bilder hast du mitgebracht. Von wegen Sankt Martin ist nicht bekannt. Da musst du mal die Massen sehen, die an schönen Sonntagen, vielleicht auch gerade noch im Herbst, dort einfallen. Da gibt es irgendwie zu wenig Ort und zu viele Menschen. Die Menschen haben mit der Zeit festgestellt, dass man in normalen Zeiten, das heißt, wenn Hütten und Wirtschaften geöffnet sind, gut und preiswert einkehren kann.
Ich bin mal gespannt, was deine Recherche zu den Punkten 1948 und Landau ergibt. Die Pfalz war öfter Schauplatz von Kriegen, wobei 1948 eher nichts mit dem Krieg zu haben dürfte.
Liebe Grüße und einen schönen Abend
Harald
Hallo Harald,
so voll kann Sankt Martin sein? Na, an einem Abend unter der Woche hatte ich wohl ziemlich Glück… ich sehe schon, dass mich die Pfalz noch überraschen wird.
Du wirst lachen, aber solche Aufstiege mache ich seitdem hin und wieder. Und es wird immer besser mit dem Leiden am nächsten Tag. Vielleicht alles eine Frage der Kondition… 🙂
Liebe Grüße
Kasia
Na, das war ja wirklich ein Abenteuer light. Kalmit erinnert mich an Calamity Jane, die in meiner Jugend in irgendeinem Comic-Heftchen mitgespielt hat.
Das mit den Influencer-Lemmingen sehe ich genau wie du. Wir meiden manchmal auf Reisen ganz bewusst die Hot Spots, wo sich alle tummeln und weichen auf Nebenschauplätze aus. Und wir haben es noch nie bereut.
Danke für deinen spannenden Bericht
Marco
Ich denke mir schon, dass die bekannten Destinationen was an sich haben, vielleicht weil sie besonders schön oder besonders wichtig sind (mal waren…). Doch dann entdeckt man nebenan Orte, die einen komplett überraschen. Die Aufmerksamkeit der Menschheit ist sehr ungleich verteilt. Es lohnt sich fast immer, sich an Nebenschauplätzen umzusehen, damit habt ihr ja super Erfahrungen gemacht 🙂
Liebe Grüße
Eine fein abwechslungsreiche Wanderung 😊 ich liebe solche Felskraxeleien.
Schön dass du uns auf diese Tour mitgenommen hast 🤗
Liebe Grüße
Sabine vom 🕷 🕸
Freut mich, dass dir die Tour gefallen hat. In der Pfalz gibt es jede Menge schöne Routen. Ich bin gerade erst dabei, sie zu entdecken 🙂
Liebe Grüße
Kasia
Das erinnert mich an einige Ausflüge mit meinem Vater im Harz. Mit 80 war er noch ziemlich fit und wir sind quer über die Felsen geklettert. Das hat auch immer zu einigem Kopfschütteln von Spaziergängern gefürhrt, die die ‚bequemen‘ Wege genommen haben. Und abends ist das erste Bier im Restaurant irgendwie verdunstet. 😀
Je schwieriger der Weg, umso spannender in der Regel 🙂 Dein Vater muss ja ein ganz fitter gewesen sein. Ob ich mir das mit achtzig noch zutraue, mal sehen 😉
Vielen Dank, dass Sie diesen Bericht über Ihren Spaziergang geteilt haben. Es scheint dort ziemlich abenteuerlich und der Name Felsenmeer ist sicherlich nicht ungerechtfertigt. Was für eine schöne Aussicht von der Spitze des Berges! Die sehr schönen Fotos gaben mir das Gefühl, auf einem Spaziergang zu sein. Einen schönen Tag noch 🙂
Vielen Dank, es freut mich, dass Ihnen der Artikel gefallen hat. Das Felsenmeer ist ein toller Ort zum Klettern und Wandern. Vor allem wenn es wärmer wird, finden sich hier viele Familien mit Kindern ein.
Ich wünsche Ihnen auch einen schönen und sonnigen Tag! 🙂