Asien, Nepal

Kathmandu – Chaos am Asan-Basar

Es ist bereits recht spät, als ich mich aufmache in Richtung Stadt. Die Kumari würde ich an diesem Abend wohl nicht mehr sehen, es ist bereits zu spät dafür. Ihre göttliche Hoheit erscheint gegen vier am Durbar Square, an einem der Balkone des Kumari-Palastes. Es ist bereits fünf. Der Bus brauchte eine Ewigkeit, um eine dieser unvermeidlichen Baustellen am Berghang zu passieren.

Dafür kann ich einfach hinausgehen und die abendliche, lebendige Stadt entdecken. Nach dem ruhigen Landleben in Chitwan, ja, selbst in Pokhara, habe ich das Chaos der Millionenstadt Kathmandu vermisst. Ich mag Chaos, das geht mir in diesem Augenblick auf.

Also packe ich aus, dusche und verbringe etwas Zeit damit, Mails zu beantworten. Dann ziehe ich mich an, mache mich schick, binde mir meinen üblichen Mundschutz auf die Nase und ab gehts. Ich verlasse das Avalon-Hostel und tauche wieder ins Getümmel von Kathmandu ein.

Diesmal will ich das Touristenviertel Thamel auf eigene Faust entdecken. Dafür muss ich zunächst diese lebhafte Straße überqueren, wo die Todesgefahr allgegenwärtig ist. „Für Selbstmörder optimal geeignet,“ müsste da als Hinweis stehen.

Gekonnt wie die Einheimischen habe ich gelernt, mich risikoreich und doch wohlberechnet zwischen den einzelnen Fahrzeugen hindurch zu manövrieren. Hier und da wird ein Fahrzeug mittels Handzeichen zum Anhalten gebracht, bis auch die unübersichtlichsten Stellen überquert sind. Machen die Locals genauso, in aller Seelenruhe. Wie oft es dabei kracht? Keine Ahnung, will ich gar nicht wissen. Vermutlich gar nicht so oft, denn die Fahrer sind äußerst aufmerksam und geübt. Wer sich an ungeschriebene Regeln hält, kommt durch. Welche Regeln das sind? Wo wäre denn der Spaß, wenn man es nicht selbst herausfinden dürfte? 😉

Tag für Tag für Tag…

 

Thamel

Thamel ist am Abend ein faszinierender Stadtteil. Hier hat man nicht mehr dieses Traditionelle; nein, er pulsiert von Leben, von Sprachen und Nationen. Zurück tritt dieses viel besungene „authentische“, ein Begriff, der bereits bis auf die Nähte abgedroschen ist. In Thamel weht internationales Flair. Hier kommen einem auch mal blonde Menschen entgegen, hier sieht man auch mal Europäer.

(Kann es sein, dass ich Heimweh habe?)

Hier weht der internationale Wind der großen Weltbühne. Gut, das war jetzt dick aufgetragen. Doch es erscheint tatsächlich so, wenn man aus anderen Ecken des Landes zurückkehrt. Es gibt Berlins Street Food und Deutsch Home Guesthouse. Es gibt hier keine verwunderten Blicke mehr, wenn ich meinen Blondschopf durch die Straßen spazieren trage.

Dafür sind die Preise entsprechend angehoben und jeder, der dich ansieht, sieht einen kleinen, wandelnden Geldautomaten in dir.

„Madame, Rikscha, Madame? Rikscha, Madame?“
„Taxi?“
„Kommen Sie in mein Geschäft, schauen Sie sich um…“

Inzwischen antworte ich knapp und freundlich und gehe weiter, ohne meinen Schritt auch nur verlangsamt zu haben. Mein Ziel ist diesmal kein bestimmtes, ich will einfach Thamel, das belebte Viertel, sehen.

Doch etwas entdecke ich doch: dass die Straßen zum Abend hin zu einem riesengroßen, nächtlichen Markt werden, sowohl für Einheimische als auch für Touristen. Alle Shops haben geöffnet. Doch auch auf den Straßen haben sich Händler mit ihren Waren ausgebreitet.

Und dann, ohne es zu wissen, befinde ich mich auf dem Asan Basar, der erst in der Dunkelheit des Abends bis in die späten Stunden hinein zum Leben erwacht.

 

Asan-Basar

Obstverkäufer, die mit ihren Fahrrädern, mit ihren großen Körben dastehen. Streetfood vom Feinsten. Und mit Streetfood meine ich mobile Händler, die einem in einer Tüte aus Zeitungspapier im Nu ein leckeres Reisgericht mit Gemüse zaubern oder gewürzte, geröstete Erdnüsse hineinfüllen.

Gewürze, verschiedene Samen, Fleisch, das ungekühlt in der Auslage eines Geschäftes liegt und von Fliegen besetzt wird. Und dazwischen – Gedränge. Rund um den kleinen Platz nahe des Durbar Square, wo sich um den Tempel in der Mitte so etwas wie ein Kreisel aus Motorrädern, Rikschas und Fußgängern gebildet hat – nur Gedränge.

Thamel ist seit einiger Zeit zur autofreien Zone erklärt worden, doch mit Blick auf das Chaos kann ich nur darüber lachen, denn das Autoverbot schließt Motorräder nicht mit ein. Und das nutzen die Menschen. Das nutzen sie bis aufs Äußerste aus.

Es gibt so vieles an motorisiertem Verkehr, das nicht unter den Begriff „Auto“ fällt und sich hier ungehindert bewegen kann. Na, ungehindert vielleicht nicht, denn die Blechlawine aus Mopeds und Rollern behindert sich gegenseitig. Es herrscht ein Gedränge und Gehupe, und zwischen Fußgängern und den Maschinen passt buchstäblich kein Blatt dazwischen. Und doch schaffen es Fußgänger, irgendwie vorwärts zu kommen.

Ein Fußgänger, der es auf die schüchterne Art versucht, hat hier wenig Chancen. Doch auch ich habe Schwierigkeiten. Wer sich nicht mutig zwischen die Räder stürzt und seinen Körper als Rammbock einsetzt, der kommt nicht weiter. Das verständliche Gehupe, das alles unverständlich macht, sollte besser vollständig ignoriert werden. Wenn alle hupen, verliert das Warnsignal schließlich jede Bedeutung.

Ich werfe mich mitten hinein, denn ich mag Chaos.

Hier einen Fuß platzieren, da noch einen Fuß, dann mit der Schulter dazwischen, den Körper nachziehen, das Gewicht verlagern, schon hat man einen weiteren Fleckchen Boden für sich erobert. Jeder freie Zentimeter muss hart erkämpft werden. Das bedeutet, dass du ohne Rücksicht deinen Fuß auf die freien, sichtbaren Flächen zwischen die Motorräder – und vor die Motorräder – stellen musst, um vorwärts zu kommen. Niemand hält für dich an und niemand wird auf dich warten. Außer, wenn du bereits ein Hindernis gebildet hast.

Ich schaue mir diese Taktik von den Einheimischen ab. Anfangs habe ich Hemmungen, mich einfach so vor ein Fahrzeug zu werfen. Es ist diese kleine Stimme in meinem Kopf, diese deutsche Stimme, die mir sagt: „Sag mal, du blöde Kuh! Pass doch auf! Hast du keine Augen im Kopf?“ Über Jahre anerzogene Angst vor Aggression.

Doch hier ist es anders. Hier erkämpft sich jeder sein kleines bisschen Freiraum. Wenn man von einem solchen überhaupt sprechen kann. Keiner ist wütend oder verärgert, keine brüllt oder verhält sich aggressiv. Denn jeder möchte vorwärts kommen.

Die Mopedfahrer haben das Nachsehen – das haben sie immer. Ich für meinen Teil kann nicht verstehen, wieso man die Maschinen nicht irgendwo abstellt und sich diesen Stress erspart, aber ich denke, der „benachteiligte“ Fußgänger will am Ende keiner sein. Auch bewundere ich insgeheim die absolute Kontrolle, die die Motorradfahrer über ihre Maschinen haben und von der wir hierzulande nur träumen können. Die Fahrer handeln weitestgehend vorausschauend. Um diesen Verkehr zu beherrschen, muss man mit seiner Maschine eins sein.

Ich achte dieses Mal bewusst darauf und schaue mir die Maschinen an. Es verhält sich unterschiedlich mit dem ABS, doch viele haben tatsächlich eins. Aber es gibt auch genügend Motorräder, die über kein ABS verfügen, von den Rollern ganz zu schweigen. Der Aspekt der Sicherheit liegt immer noch beim Fahrer. Koordiniertes Fahren.

Motorräder drängen sich dicht an dicht. Und doch bleibt Platz für die Händler, die auf dem bloßen Bürgersteig ihre Waren feilbieten, für den Käufer, der stehen bleibt und schaut, für die Familie, für Menschen, die nur schlendern, für den Touristen, für mich. Die Menschen nehmen den Verkehr mit einer stoischen Ruhe hin, gehört er doch schließlich zu ihrem Leben dazu und ist nicht wegzudenken. Niemandes Adrenalinpegel schießt in die Höhe, niemandes Atmung wird schneller. Niemand regt sich auf. Gehupt wird andauernd, in erster Linie, um auf sich aufmerksam zu machen. Achtung, ich komme. Mach keine plötzlichen Bewegungen, denn der Abstand, mit dem ich dich überholen werde, ist präzise und auf den Millimeter bemessen. Vorausgesetzt, du behältst deine jetzige Laufrichtung bei.

Als ich das Gedränge des motorisierten Verkehrs sehe, die sich über den klein gewordenen Platz schiebt, wo die Anzahl der Zweiräder die der Menschen zu Fuß bei weitem übersteigt, komme ich nicht umhin, mich zu fragen: warum? Mensch, Leute, warum macht ihr das nur? Warum tut ihr euch das an? Dieses Viertel ist recht übersichtlich und im Grunde ganz einfach abzulaufen. Oder, er wäre es, wenn jeder mal seine Füße benutzen würde. Der Gedanke bleibt hängen und setzt sich fest. Was stimmt nicht mit euch? Wieso steigt ihr nicht ab und geht zu Fuß? Es wäre für alle viel schöner, die Luft wäre besser, der Lärm so gut wie weg. Und so weitläufig ist der Basar nicht…

Darf man so urteilen, als Fremder in einem fremden Land?

Sicher, man darf. Natürlich muss man die Gegebenheiten als gegeben hinnehmen, aber der Kopf ist frei. Wer einen Vergleich hat, weiß, wie es besser gehen könnte. Doch meine Sache ist es nicht. Ich wundere mich nur. Und das ausgiebig. Und selbst nachdem ich diese Stadt, dieses Land und diesen Kontinent längst verlassen habe, werde ich mich noch immer wundern. Aus der Ferne. Und sehnsüchtig an das Chaos hier denken.

Immer wieder werde ich angesprochen. Rikscha? Dies? Das? Ein Sadhu kommt auf mich zu und malt mir ein Tika mit roter Farbe auf die Stirn, streut mir gelbe Ringelblumenblütenblätter über den Haaransatz. Ich sehe ihn kommen, sehe, was auf mich zukommt, doch ich lasse mir die Segnung gefallen, denn ich glaube an den Kram. Ich gebe ihm hundertfünfzig Rupien. Ich glaube, fünfzig hätten gereicht. Die Umstehenden wundern sich über meine Großzügigkeit und ich komme mir wie der kleine, doofe Touristendepp vor.

Wie auch immer, jetzt laufe ich mit einem Tika und ein paar trockenen, gelben Blüten in meinem Haar herum. Und mache einen weiten Bogen über weitere Sadhu, die hier gefühlt zu Dutzenden herumstreifen. Mein Kopf ist ganz offensichtlich gesegnet, doch die Sadhu stören sich nicht daran und steuern zielstrebig darauf zu. Segen kann es gar nicht genug geben und jeder möchte ein Stück vom Kuchen… ähm, vom Kopf abbekommen.

Doch wer sind diese Sadhu, die so gerne für Indiens und Nepals Postkartenaufnahmen posieren?

Sadhu sind heilige Männer, die mit klimpernden Eimerchen umherziehen und Spenden sammeln. Sie sind Anhänger des Gottes Shiva. Doch jemand hat mir mal gesagt, dass die richtigen Sadhu in den Bergen bleiben und sich in Askese üben. Dass sie kein Geld verdienen mit ihrem Aussehen. Sich nicht fotografieren lassen, sondern nur meditieren.

Und was ist mit diesen Männern hier in Kathmandus Straßen, sind sie keine Sadhu? Der Mensch, der mir das erzählt, schüttelt den Kopf. Na ja, fast. So gut wie. Aber wir respektieren sie auch.

 

Ich streife durch das Nachtleben von Thamel…

Quadratmeter für Quadratmeter durchkämme ich die Gassen. Kathmandu verfügt über ein China Town, diesen Tipp bekomme ich unterwegs von einem Local. Auf das chinesische Viertel, bestehend aus einer oder zwei Straßen, stoße ich trotzdem mehr oder minder zufällig. Chinesisches Essen, chinesische Schriftzeichen. Und die Straßen sind ruhiger, leerer. Vereinzelt huschen Menschen vorbei. An jeder Ecke Zeichen der nepalesisch-chinesischen Partnerschaft, die sich in einem gewissen, chinesischen Einfluss bemerkbar macht.

Schon etwas müde geworden streife ich ziellos umher. Mal verirre ich mich in komplett leere Gassen, wo einzelne Buden mit Snacks und kantineartigen Gerichten den Local versorgen, wo Menschen vereinzelt draußen sitzen und sich wundern, was ich hier mache. Hunde streifen zwischen Müll umher. Dann stoße ich wieder auf eine belebte, breite Straße, hell beleuchtet und voller Menschen. Doch egal, wohin mich meine Füße auch tragen, Thamel fühlt sich sicher an. Freilich versuche ich mich in den dunklen Ecken nicht länger aufzuhalten als nötig, doch es ist nicht so, als müsse man sofort seltsame Gestalten und ein Messer an der Kehle befürchten. Nein, seltsam fühle ich mich zu keinem Zeitpunkt. Meine Antennen signalisieren Entspannung

Und Erschöpfung.

Der Lärm und die Enge werden mir bald zu viel. Ich rette mich schließlich auf einen kleinen Platz. Hier setze ich mich auf die niedrige Mauer, die einen Schrein umgibt. Abseits von allem. Ich schaue im Handy nach, suche dieses Lokal, wo mich vor mehr als einer Woche mein Guide Jitu das erste Mal ausgeführt hat. Es war gemütlich, etwas versteckt, nicht voll. Es gab Shisha und gutes, lokales Essen. Mit Ausblick von oben herunter auf eine dunkle, verlassene Straße.

Das Lokal war irgendwo in der Nähe der Purple Baze, einer Musikbar, der stylischten von Kathmandu, wo jeden Abend andere Bands auftreten. Den ganzen Abend verbringe ich damit, nach einem solchen zu suchen. Viele sprechen mich an, wollen mich in ihre Restaurants locken. Ich finde zwar das Purple Baze, doch dieses kleine Shisha-Restaurant finde ich nicht.

Als meine Beine nicht mehr wollen, bleibe ich in einer beliebigen Lounge hängen. Hier geht es schicker und längst nicht so gemütlich zu und die laute Musik wirkt irgendwann ermüdend. Ich rauche meine Shisha, nippe an meinem Gin Tonic und lasse meine geschundenen Füße sich erholen.

Als ich wieder draußen bin, beginnt es gerade, in Strömen zu regnen. Na super, denke ich mir, Kasia hat das perfekte Timing. Es ist nicht das erste Mal, dass ich nach draußen gelange und es gerade gießt wie aus Eimern. Da kommt mir die Fahrradrikscha, die um die Ecke biegt, wie gerufen. Es ist das erste Mal, dass ich in so einem Ding gefahren werde, angetrieben von reiner Muskelkraft des Fahrers. Als ich drin sitze, sicher und trocken unter dem Dach aus Folie, tut mir der arme, sich abstrampelnde Mann regelrecht leid. Was für ein Job, tagtäglich Menschen auf diese Weise zu kutschieren.

Für dreihundert Rupien lasse ich mich ins Hostel bringen.

Was den Asan-Basar betrifft, diese Märkte in der Nacht, dieses Gedränge, dieses Dicht-an-dicht, Motorräder, Verkäufer, Fußgänger, fliegende Händler, der Lärm… man kuschelt sich quasi zwischen den Maschinen hindurch, wenn man auf die andere Seite möchte – hey, so etwas habt ihr noch nie gesehen, außer ihr seid hartgesottete Südostasien-Fans.

Es ist unvorstellbar. So einen Markt muss man einmal erlebt haben…

 

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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