Für heute habe ich einen Besuch im Breslauer Afrikarium geplant. Das Afrikarium zählt zu den schönsten zoologischen Parks weltweit, übertroffen wird es nur von einigen wenigen in den USA.
Der Park befindet sich circa sechs Kilometer vom Hostel entfernt und ich überlege kurz, ob ich fahren oder tatsächlich laufen soll. Kurz denke ich an meinen tollen, kostenfreien Parkplatz und entscheide mich für zweiteres. Kasia will sowieso (eigentlich immer) abnehmen, also passt es. Ich marschiere los.
Nach einer durchzechten Nacht sollte man an einem Sonntagmorgen aufpassen, dass einem keine leere Bierflasche auf den Schädel fliegt; tatsächlich schlägt eine solche in einiger Entfernung am Bordstein ein. Beim Blick nach oben kann ich keinen Schuldigen ausmachen. Ein Mann läuft lallend und singend durch die Straßen, doch er hat seine noch in der Hosentasche – und es ist Härteres. (Nicht dass an dieser Stelle ein falscher Eindruck entsteht: es ist in Polen verboten, außerhalb ausgewiesener Lokale und Biergärten in der Öffentlichkeit Alkohol zu konsumieren. Also kein Bier auf der Straße. Oder Härteres.
Ein Hochzeitspaar posiert für ihren Fotografen auf dem fast leeren Platz vor der Kunsthalle. Ein Stück weiter wird eine Ausstellung Warhol und Dalis beworben. Solcher frisch vermählten Paare habe ich gestern auf dem Weg zur Dominsel einige gesehen; romantisch-klassisch posierten sie an den Pfeilern der Brücken, im Schatten der Kirchen oder entlang der schattigen Parkwege für ihre Bilder für die Ewigkeit.
Ich weiß nicht, warum ich dachte, die Stadt wäre an einem Sonntagmorgen wie ausgestorben, denn genau das Gegenteil ist der Fall: die Breslauer Altstadt erscheint voller als gestern. Das alte Rathaus leuchtet in der Sonne und eine Zigeunerband singt alte, polnische Lieder zur begleitenden Akkordeonmusik. Geschnitzte Kunst ist am Gehweg ausgestellt und kleine Kinder streicheln Zwergen die Köpfe (das soll Glück bringen…). Das mache ich freilich nicht. Ich werde die kleinen Kerle nicht betatschen, am Ende verhaftet man mich noch. Ne ne.
Auch der Bär mit der langen Zunge ist immer noch da (klar, wo soll er auch sonst hin?). Besucher greifen sich die Zunge, als sie für die Bilder posieren. Wie sinnlos, bemerkt eine junge Frau zu einer anderen im Vorbeigehen.
Ich mag sinnlose Sachen.
Ich mache noch einmal eine Runde um das Rathaus herum, entlang des Breslauer Rings, umringt von diesen wunderschönen, alten Fassaden. Obwohl ich es nicht müsste. Habe ich alles gestern schon gesehen. Doch da kann man immer wieder hinsehen.
Dann verlasse ich wieder die Altstadt und laufe östlich an der Oder entlang. Auf der anderen Seite ragt die Museumsinsel mit den Kirchen und Klostergebäuden auf. Hier an der Brücke kann man Kajaks mieten und gemütlich den Fluss entlang schippern; einige Menschen paddeln gerade los und mir erscheint die Idee mehr als verlockend. Denn es ist warm heute, wärmer als gestern und kein einziges Wölkchen gönnt einem Wandernden auch nur eine Verschnaufpause.
Ich plane das Kajakfahren fest für später ein.
Ein alter Mann auf einem klapprigen Fahrrad versucht, mit mir zu flirten. Ich tue so, als würde ich seinem Fahrrad einen Schub geben. „Fahr weiter, Opa!“ Rufe ich und er gehorcht. Irgendwie habe ich heute keine Geduld für so ein Scheiß. Es ist warm und der Weg zieht sich; immer mal wieder checke ich den Kurs auf Maps, nur für alle Fälle. Auch um zu sehen, wie der angezeigte Weg immer kürzer wird.
Irgendwann komme ich in einen heruntergekommenen Teil der Stadt. Oder, was heißt Teil – es sind eigentlich nur ein paar Blocks, die ziemlich abgegriffen wirken. Eine Gruppe Männer steht am Bürgersteig herum und einige machen den Eindruck, als ob sie leicht gebechert hätten. Ich habe keine Angst, an ihnen vorbei zu laufen, auch nicht mit der Touristenkamera an meiner Schulter.
Ich habe eigentlich fast nie Angst. Doch hier erscheint sie mir noch weniger sinnvoll, da polnische Männer zu Frauen eher zuvorkommend, hilfsbereit und manchmal leicht flirty sind. Zu fremden Frauen natürlich – was da zu Hause in den eigenen vier Wänden abgeht, ist eine andere Sache. Manchmal ist Alkoholismus ein Problem, zumindest war das früher so. Polnische bekannte sagten mir, dass es gar nicht so leicht ist, einen Mann zu finden, der nicht regelmäßig trinkt. Ich weiß nicht, ob und inwieweit sich das geändert hat. Doch es gibt auch Gegenbeispiele, aufzuzählen allein in meiner eigenen Familie. Bei uns daheim gab es Wodka nur bei Hochzeiten, Taufen und zur Ostern. Mein Beitrag Zwischen Wodka und Piroggen mag vielleicht einen anderen Eindruck vermitteln, doch so ist es nicht.
Doch so abgegriffen das Viertel auch aussehen mag, trotzdem stehen ziemlich teure Autos und ein Motorrad in der Gegend rum. Der Eindruck kann also täuschen…
Die Schlange am Breslauer Zoo zieht sich bis einige hundert Meter auf den Bürgersteig hinaus. Kinder mit ihren eleganten Mamis, ganze Familien sind unterwegs. Es duftet aromatisch nach Süßem – kleine Stände verkaufen Obwarzanki, Zuckerwatte und Eis. Afrykarium, ist das hier? In diese Schlange möchte ich mich nicht aufstellen.
Ich frage bei einem Wärter nach. Es gäbe auch einen Hintereingang, sagt er, da wäre auch weniger los. Einfach wieder zurück und an der Brücke links rein. Ein bis anderthalb Kilometer. Müde folge ich der angezeigten Richtung.
Am Seitenarm der Oder lasse ich mich müde im Gras nieder und knabbere an den Nüssen und Zimtäpfeln, die ich gestern in der Markthalle gekauft habe.
Das Internet sagt eine „ungewöhnlich hohe Besucherzahl“ für die jetzige Zeit voraus. An den Schlangen zum Eingang habe ich das ja gesehen. Das Afrykarium ist ein Teil des Breslauer Zoo und es wird für den gesamten Zoo ein Ticket gekauft. Das Gelände ist groß, aber ob sich das so gut verteilt?
Andererseits – auf dieser Seite an der Brücke vermieten sie auch Boote. Tretboote, Kajaks und kleinere, lizenzfreie Motorboote. Eine Schippertour im Kajak erscheint mir immer verlockender.
Einige Minuten und ein gekauftes Ticket später sitze ich in einem schicken Einpersonen-Kajak, welches man hier für ein Appel und ein Ei für eine Stunde mieten kann. Die Kajaks kosten fünfzehn Zloty die Stunde. Familien paddeln an mir vorbei und ein kleines Entchen wippt auf den Wellen auf und ab. Meine Schultern protestieren ob der ungewohnten Bewegung, doch ansonsten geht mir das Paddeln leicht von der Hand. Das Paddel durchschneidet fast lautlos die Wasseroberfläche. Im Schatten unter den Bäumen lasse ich mich treiben und genieße die kühle Luft. Das Wasser ist so grün, dass es fast schon phosphorisierend leuchtet; schaut man ganz genau hin, sieht man viele kleine, grüne Algen darin treiben. Ob das so gesund fürs Ökosystem ist? Als nächstes sehe ich einen kleinen Wels, der mit dem Bauch nach oben treibt.
Zwischen den Sträuchern haben sich Angler versteckt. Da ich relativ dicht am Rand fahre, versuche ich, möglichst lautlos ihre fast unsichtbaren Angelruten zu umgehen. Hier und da zieht ein schnelleres Tretboot an mir vorbei. Doch ich mache keinen Sport, ich entspanne hier.
Nach einer halben Stunde drehe ich wieder um und fahre auf der anderen Flussseite zurück. Man kann die Stunde mit einer weiteren halben Stunde überziehen, hatte man mir gesagt, das kostet dann nochmal zehn Zloty. Das ist etwas, womit ich leben kann. Als ich drehe, stelle ich fest, dass ich die ganze Zeit 1. mit dem Strom, 2. mit Rückenwind, und 3. mit dem Rücken zur gleißenden Sonne gefahren bin – all diese Vorteile fallen jetzt weg. Und auch sich treiben lassen ist nicht wirklich, denn der Gegenwind drückt das Kajak mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Und wie quälend langsam ich nun voran komme!
„Schau mal, Papa, da ist ein Einpersonen-Kajak!“ Sagt ein kleiner Junge zu seinem Vater. Ja, sagt der Vater, und da sitzt eine Frau drin. Ja, aber alleine? Ja, siehst du? Die Mädels fahren auch alleine Kajak. Manchmal höre ich eine Bemerkung, doch hat sie nie einen negativen Beifall. Die Polen sind absolut für die Emanzipation der Frau und finden es toll – auch die Männer – wenn sich Frauen in den Männerdomänen beweisen. Arbeiten gehen, Kariere machen. Oder, wie ich, auch mal etwas selbständig tun. Natürlich sollte aber die eigene Ehefrau nicht allzu viele Flausen im Kopf haben… 😉
Ich lege einen Zahn zu und arbeite gegen die Strömung an. Wunderlicher weise schaffe ich es (fast) rechtzeitig an die Anlegestelle und schaffe es auch, das Kajak elegant rückwärts einzuparken (wenn es mit dem Auto nur so gut klappen würde…). Über die fünf Minuten länger sieht die Dame am Kassenhäuschen großzügig hinweg.
Zurück laufe ich wieder am Ufer der Oder entlang. Viele kleine Sandstrände und Wiesen locken Sonnenanbeter und in schattigen Gärten laden Clubs mit unzähligen verteilten Liegestühlen buchstäblich zum Verweilen ein. Aus Lautsprechern kommt Musik und als Erfrischung gibt es hausgemachte Limonade. Und während ich am Geländer stehe und so runter schaue, fährt ein Motorrad röhrend die Straße runter. Ich drehe mich um und erblicke in wenigen Millisekunden eine schlanke, blonde Frau auf einem schwarzen Sportler (Kawasaki?), die die Allee entlang schießt. Noch einmal ein Griff am Gas und die Erscheinung ist verschwunden. Mit offenem Mund bleibe ich stehen.
Nicht jeder weiß, dass es in Breslau auch eine Seilbahn gibt, die eine Seite der Stadt mit der anderen verbinden. Die Tickets lassen sich am Automaten erstehen und die Info ist in vier Sprachen, darunter deutsch, zu lesen. Die deutsche Version liest sich ein bisschen wie eine Maßregelung mit ganz vielen Grammatikfehlern. Zuerst lesen, dann fragen stellen! Lautet die Überschrift. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen und überlege, ob ich dem Betreiber freundlicherweise eine korrigierte Version dieser Maßregelung zukommen lasse.
Die Chopper-Bar
In der Chopper-Bar bleibe ich kurz hängen. Vor allem deshalb, weil mir die Einrichtung gefällt. Der Name ist hier Programm und die Räume sind mit allerlei Biker-Schnick-Schnack gefüllt, seien es eine alte Maschine, die an der Decke hängt, Graffiti, Nummernschilder oder eine Reihe ausgemusterter Lenker. Und es sind nicht unbedingt Biker, die hierher kommen, vielmehr ist es eine Lokation, in der man sich, nach Eigenwerbung, einmal „wie ein echter Biker fühlen kann.“
Ein Mann mittleren Alters fällt mir auf – im Grunde nur deshalb, weil er mich seit einer Weile sehr offensiv anstarrt. Anscheinend ist er nicht von hier. Schon einige Male bin ich diesem Verhalten hier begegnet, und jedes Mal waren es augenscheinlich Besucher aus dem Ausland. Nicht jeder Kulturkreis ist einen neutralen Umgang mit Frauen, die alleine unterwegs sind, gewohnt.
In der Chopper-Bar bleibe ich nicht lange, denn eigentlich wollte ich sie nur einmal von innen sehen. Dafür steuere ich jetzt das Przedwojenna-Bistro an, von dem ich in einem Blog gelesen habe. Alles soll dort wie vor dem ersten Weltkrieg eingerichtet sein, worauf ja quasi schon der Name (Przedwojenna, übersetzt: vor dem Krieg) hindeutet.