Asien, Nepal

Stay over night – Die nächtliche Jagd des Tigers

Sommer 2019, im nepalesischen Dschungel

Die Übernachtung „in den Bäumen“ findet nicht direkt im Nationalpark statt, sondern in einer Art Pufferzone davor. Diese gehört offiziell bereits zum Nationalparkbereich und es wird ein Permit benötigt, um sie zu betreten. Wir machen uns zu Fuß auf durch die Wälder bis zum Aussichtshäuschen, wo wir den restlichen Abend und die Nacht verbringen werden. Der Wald liegt ruhig vor uns und der Dschungel ist erfüllt mit allerlei Geräuschen. Lebewesen erwachen, die in der Mittagshitze von Chitwan bislang nicht zu hören waren. Dutzende Hirsche schieben sich uns wie Schatten in den Weg, verschmelzen beinah mit dem Beige der aufgeweichten Straße.

 

Das Baumhaus

Während wir vorsichtig einen Fuß von den anderen setzen, beobachten wir aufmerksam die gefleckten Tiere. Sie bewegen sich geräuschlos, sind plötzlich da und im nächsten Moment wieder weg. Dann erreichen wir das hochgelegte Haus auf Stelzen, ein „Baumhaus“, wie es von den Reiseagenturen bezeichnet wird, obwohl es hier im Umkreis von vier- bis fünfhundert Metern rundherum keine Bäume gibt. Wir befinden uns auf einer Lichtung.

Ganze Herden von Axishirschen haben sich hier versammelt, und es werden immer mehr. Inzwischen sind es hunderte, die wie Schemen auf der offenen Fläche stehen. Ein Wildschwein stolziert an ihnen vorbei und zwei Panzernashörner, eine Mutter mit ihrem Jungen, dösen im Schatten am Rande des Waldes.

Wir pirschen uns an die Nashörner heran. Nachdem es zunächst so scheint, als ziehen sich die Tiere in den Wald zurück, setzt die Nashornmutter irgendwann zum Angriff über. Die beiden Guides, die links und rechts von mir Stellung bezogen haben, schaffen es, das Tier mit viel Krach und Geschrei zurück in den Dschungel zu treiben.

Der Krach macht den Wildherden allerdings nichts aus. Mehr und mehr Tiere stoßen hinzu und die Lichtung füllt sich zusehends in der Abenddämmerung. Nachdem die Sonne einmal untergegangen ist, legt sich Zwielicht über dem Dschungel.

Das Aussichtshäuschen besteht aus zwei Etagen und einer Toilette ganz unten. Wir beziehen die oberste Etage und John lässt mich für einen Augenblick allein. Trotz der Dämmerung ist es im Chitwan Nationalpark nicht wirklich kühler geworden und als ich die Tür zu dem aufreise, was mein Zimmer sein würde, scheint die Luft darin zu stehen.

Das Zimmer ist ein kleiner Raum mit zwei Betten, Moskitonetzen und einer Wand, die deutliche Spuren der immerwährenden Feuchtigkeit trägt. Die Decken und Bezüge sehen aus, als seien sie schon lange hier in diesem Zimmer und auf diesem Bett und ich kann mir mit einem Male nur schwerlich vorstellen, dass hier jeden Morgen das Zimmermädchen kommt, um sie zu wechseln. Ich freue mich auf  die Bettwanzen und lege meine Sachen ab. Unten hören ich, wie die Handwasserpumpe betätigt wird; John wäscht sich. Ich ziehe mich schnell wieder in den Raum zurück.

Die beiden Guides beziehen beide einen Raum auf der Etage unter mir. Die überdachte Terrasse oder auch Aussichtsplattform, die das Baumhaus von allen Seiten umgibt, sorgt für einen Rundumblick, doch dankenswerter Weise haben sich die Hirsche genau auf der Seite versammelt, wo auch die Sitzmöglichkeiten für uns vorhanden sind. Sie lassen sich auf der Wiesenfläche nieder, und noch immer kommen neue Tiere hinzu. „Die Hirsche suchen immer offene, freie Flächen.“ Erzählt mir John. „Denn der Tiger folgt der Herde. Er bleibt immer in ihrer Nähe, den ganzen Tag über. Und dann nachts, wenn sie ihn nicht sehen können, beginnt er, sie zu jagen.“ Mir läuft bei diesen Worten ein Schauer über den Rücken. Werden wir heute Nacht hautnah die Jagd des Tigers miterleben?

Ich mache noch ein paar unbeholfene Bilder, gebe es jedoch schnell wieder auf. Dann sitze ich da und beobachte die Herde, die sich herzlich wenig um unsere Anwesenheit zu scheren scheint. Es tut sich nicht viel. Wildhühner grasen in unmittelbarer Nähe und das große, schwarze Wildschwein spaziert im Laufschritt hin und her, den Schwanz wie eine Antenne erhoben. Das Schwein bleibt in der Nähe der Herde, vermutlich, um sich vor Leoparden zu schützen. Wildschweine sind des Leoparden Leibspeise.

Ein großer Greifvogel fliegt zwischen den Bäumen hindurch wie ein grauer Rachegeist und hinterlässt das flatternde Geräusch großer, schwerer Schwingen, das an meine Ohren dringt.

Die Dämmerung kommt herbei. Und die Herde steht noch immer unbeweglich da, mit dem Unterschied nur, dass noch mehr Tiere aus dem Wald auftauchen. Die Hirsche sind sehr aufmerksam. Sie rotten sich zusammen, um einem eventuellen Jäger möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Einzelne Tiere sind als Wachen abgestellt und geben Acht, während die anderen ruhen.

Inzwischen ist auch John zu mir gestoßen und seinen Platz auf dem Klappstuhl eingenommen. Er hat eine Taschenlampe mit einem weitem Strahl mit, sowie ein Lunchpaket. Die Taschenlampe werden wir in der Nacht noch gebrauchen. Die Dunkelheit kommt jetzt rasend schnell heran.

Trotz der späten Stunde ist es keinen Deut kühler geworden. Ich schwitze wie das sprichwörtliche Wildschwein, welches ich eben noch auf der Lichtung gesehen habe. Etwas beruhigt stelle ich fest, dass es John nicht anders ergeht. Er sitzt neben mir und seine Haut glänzt im schwachem Schein des Abends. Der zweite der beiden Guides hatte sich indessen zurückgezogen.

 

Der Abend

Inzwischen hat sich die Dunkelheit über die Lichtung gelegt. Zunächst nieselt es leicht, doch dann klart der Himmel auf und leuchtende Sterne tauchen über uns auf. Im Hintergrund ist leises Hundegebell, das Geräusch von Tuk-Tuks und die Stimmen der Menschen zu hören. Wir befinden uns am Rande des Nationalparks, in der sogenannten Pufferzone und die menschlichen Siedlungen liegen in unmittelbarer Nähe, just auf der anderen Seite der Mauer, die diese Pufferzone umgibt. Wir befinden uns circa zehn Minuten von den Dörfern entfernt, doch das reicht schon, um den Tiger zu beobachten, denn Tiger halten sich nicht an Grenzen oder an Pufferzonen. In den Wäldern Indiens dringen Tiger und Leoparden regelmäßig in die menschlichen Siedlungen ein, denn der Mensch rückt immer weiter in den Dschungel vor und kreuzt die Fährten der Tiere.

Doch obwohl die Geräusche des menschlichen Lebens von außerhalb zu uns dringen, ist der Dschungel selbst genauso laut, wenn nicht sogar noch lauter. Tagsüber hört man Insekten summen, doch am Abend, wenn sich die Dämmerung über den Wipfeln der Bäume ausbreitet, da sind es nicht mehr nur Insekten; es sind Vögel und es sind weitere fremde, unbekannte Laute. Mit einem Mal, als hätte jemand ein Kommando gegeben, beginnt es im Dunkeln noch lauter zu werden als zuvor. Der Dschungel surrt, er zwitschert, er summt. Der Dschungel pulsiert. Er ist wie ein eigenes Wesen, er atmet, pulsiert – er lebt.

 

Das Lunchpaket haben wir längst verputzt. Ab und zu lassen wir den Schein der Taschenlampe über die Leiber der Tiere wandern. Schwarzweiß sehen sie im Kegelschein der Lampe aus, wie im Fahndungsraster eines fünfziger Jahre Krimis. Dann heben sie die Köpfe und schauen in unsere Richtung, und  ihre großen Augen leuchten im Widerschein der Lampe wie tausende kleine Irrlichter.

Irgendwann tut sich etwas auf der Lichtung, doch es ist nicht der Tiger; das Motorgeräusch eines Jeeps ist zu hören. Zwei Autoscheinwerfer tasten suchend die Lichtung entlang, streifen kurz die Bäume, das Häuschen und uns. Der Jeep bringt eine weitere Touristin mit, ein weißes Mädchen, welches das Zimmer und die Terrasse neben mir bezieht.

Nachdem kurzzeitig etwas Hektik aufkam, wird es nun wieder ruhig. Das junge Mädchen sitzt nebenan; die Terrasse ist mit einem Sichtschutz in eigene Bereiche abgetrennt, so dass sich die Besucher nicht gegenseitig stören können. Auch sie lässt den Schein der Taschenlampe suchend über den Rücken der Tiere gleiten. Die meisten von ihnen schlafen, doch sobald die Taschenlampe leuchtet, heben sich die Köpfe und zig fluoreszierende Augen schauen uns entgegen. Es ist ruhig auf der Lichtung, so ruhig, wie es nur sein kann. Ich beginne schon zu befürchten, dass der Tiger den falschen Weg nimmt und über die gewundene, schmale Metalltreppe auf unsere Terrasse steigt. Ich drehe mich um und prüfe, ob der große Kopf des gestreiften Räubers hinter der Ecke hervorkommt. Dass er sich bereits jetzt ganz in der Nähe aufhält, ist keine bloße Vermutung. Ein Tiger kann mit gestrafftem Körper in Lauerstellung über Stunden in seiner Deckung ausharren, jederzeit bereit zum Sprung.

Suchend lässt Guide John den Scheinwerfer über die umliegenden Büsche wandern. Im Gegensatz zu meiner Taschenlampen-App hat seine Lampe einen hellen Strahl und eine große Reichweite, doch die Büsche und das Dickicht zwischen den Bäumen bleiben dunkel. Keine zwei einsamen, verirrten Augen des Räubers, der sich unbemerkt anschleicht. Noch nicht. Ich lehne erwartungsvoll mit dem Gesicht am Gerüst.

Wir sitzen lange da. Es ist nun vollständig dunkel um uns herum und kleine, helle Lichter kommen aus den Büschen geflogen und schweben auf uns zu: Glühwürmchen. Sie werden heller und dunkler und es wirkt, als blinkten sie. Sie fliegen lautlos über die Wiese, ungewöhnlich hell und weithin sichtbar. Sie kommen von den Bäumen herunter, so leuchtend und schön wie fallende Sterne.

Die Luft kühlt ab. Nein, das ist zu viel gesagt: die Temperatur nicht nicht mehr brütend heiß, sondern einfach nur heiß. Ansonsten ändert sich nicht viel; mein Gesicht und mein Hals sind weiterhin mit einem feinen Schweißfilm überzogen. In der Hitze und der Schwüle fühle ich, wie mir die Augen zufallen. John erzählt den Abend über vom Dschungel und den Gewohnheiten der Jäger und der gejagten Tiere. Er arbeitet als Guide seit über zwanzig Jahren. Das sagt er mit vollem Stolz, als wir noch einmal die Pirsch auf das Nashorn Revue passieren lassen. Hier im Chitwan gäbe es auch Affen und Schwarzbären, weiß er zu berichten. Was ist mit den Moskitos, frage ich ihn. Was ist mit Malaria?

John bestätigt mir, was der Verwalter im Homestay bereits gesagt hat: Moskitos gäbe es nicht viele und Malaria käme so gut wie nicht mehr vor. Vor Jahren, da hätte es Fälle von Malariaerkrankungen gegeben, doch inzwischen lässt die Regierung die ganze Gegend per Flugzeug mit Insektiziden einsprühen. Und tatsächlich stelle ich fest, dass ich zwar Insekten summen höre, doch es sind erstaunlich wenig in Anbetracht dessen, dass wir uns in einem Sumpfgebiet befinden. John erzählt mir, dass sich Moskitos in der Nähe der Dörfer aufhalten, dort, wo es viele Menschen gibt.

Das ist auch gut so, denn ich bin, wie schon gesagt, völlig unvorbereitet – obwohl ich eigens für meinen Aufenthalt in den Gebieten des Chitwan Nationalparks Moskitospray und -salbe gekauft habe. Alles liegt nun fein säuberlich in meinen Trekkingrucksack verstaut, weit weg im Tharu-Community-Homestay.

John erzählt im Flüsterton und ich fühle, wie ich immer müder werde. Der lange Marsch durch die Felder bis zum Dorf fordert seinen Tribut, doch auch meinem Guide ergeht es nicht anders. Zeitweise schläft er für mehrere Minuten auf seinem Klappstuhl ein. Nach kurzer Zeit verabschiedet er sich und wünscht mir eine gute Nacht.

Ich bleibe noch kurz auf der Terrasse sitzen, doch dann gehe auch ich auf mein Zimmer. Ich kann nicht die ganze Nacht dort draußen bleiben, wer weiß, wann sich der Tiger blicken lässt. Und wer weiß, ob er in dieser Nacht überhaupt jagen wird. Genauso gut kann es bis zum Morgengrauen ruhig bleiben. Kurz geht mir die Möglichkeit durch den Kopf, hier auf der Terrasse zu kampieren, doch die Vorstellung von einem Tiger, der die Treppe hinauf kriecht, lässt mich den Plan sofort wieder verwerfen. Tiger können zwar nicht klettern, doch mit ziemlicher Sicherheit können sie eine Treppe hochsteigen. Und im Zimmer hinter der massiven Tür fühle ich mich sicherer.

Ehe ich mich zur Ruhe begebe, inspiziere ich den kleinen Raum nach Insekten. Nicht, dass es was nützen würde. Meine Haut ist ohnehin zerstochen, seit ich mich in Sauraha am Rande des Nationalparks niedergelassen habe; größere und kleinere Bißspuren zieren meinen Körper und von wem oder was sie stammen, darüber möchte ich lieber nicht nachdenken. Wahrscheinlich nehme ich als Souvenir Malaria mit oder gleich die Krätze. Deshalb drapiere ich nun sorgsam den weißen Fächer des Moskitonetzes rund um mein Bett und denke neidisch daran, dass die Tharu, die die Tiefebenen Chitwans bewohnen, dank einer genetischen Prädisposition so gut wie unempfindlich gegenüber Malaria-Erregern sind. Nicht, dass sie niemals erkrankten, doch passiert es ihnen nur äußerst selten.

 

Der Eindringling

Ich verschließe die Tür und lasse die Fensterläden aufgeklappt. Die Fenster haben massive Gitter, die vor Tieren schützen sollen. Man hört und sieht nach draußen hin alles. Im Raum selbst stehen zwei Betten, die jeweils mit Bettwäsche und Moskitonetzen ausgestattet sind. Das andere Bett nutze ich als Ablagefläche für meine Sachen. Auch die in Alufolie gepackten Reste von unserem Lunchpaket lege ich dort ab. Dann lege ich mich schlafen.

Ich lausche dem Pulsieren des Dschungels. Müdigkeit wechselt mit Aufregung und Erwartung, der gesamte, scheinbar ewig lange Tag spielt sich nochmal vor meinem geistigen Auge ab. Bilder fliegen unkontrolliert vorbei und verblassen wieder. Die Tharu, das Homestay, die Blumen, die Dörfer, das Nashorn. Und irgendwo kreist noch der Tiger herum. Alles strömt auf mich ein und all die Erlebnisse machen mich platt und voller Anspannung, müde und wachsam zugleich. Dankbar, dass ich unter einem kühlenden Ventilator liege, schließe ich die Augen und versuche, die Geräusche, die von draußen dringen, auszublenden. Es raschelt, zischt und knistert, draußen summt und ruft es, viele kleine und größere Geräusche umgeben mich. Das Rascheln durchzieht den ganzen Wald. Es breitet sich aus, reicht bis vors Fenster, wandert und schleicht um die Mauern herum, scheint selbst den Raum drinnen auszufüllen.

Doch ich weiß, wie sehr die Geräusche in der Nacht täuschen können, wie trügerisch das Echo sie trägt. Ich höre so etwas wie Schritte, etwas wie eine Bewegung, als würde etwas um meinen Raum herum schleichen. Zwischendurch stehe ich unruhig auf, schalte das Licht an, kontrolliere den kleinen Raum auf Nagetiere, schaue unter das Bett. Ich höre nichts mehr und auch unter keinem der Betten hält sich etwas verborgen. Ich lege mich wieder hin. Das Rascheln hält an und ich schlafe ein, trotz allem wachsam, trotz allem in Habtachtstellung. Die seltsamen Geräusche ignoriere ich.

Doch dann wird das Rascheln lauter. Es ist nicht mehr vor dem Fenster, es ist mitten im Raum.

Hier in diesem Raum!

Das kann ich nicht mehr ignorieren. Mit der Taschenlampe, die neben mir liegt, leuchte ich das Zimmer aus. Nichts. Ich schlage die Decke zurück, springe auf und schalte das Licht an. Wieder ist der Raum leer. Dann fällt mir auf, dass etwas anders ist. Die Alufolie mit dem eingewickeltem Essen, die ich auf dem Bett platziert habe, ist in Richtung Fenster gewandert. Seltsam aufgewickelt wirkt sie nun, und es ist nicht mehr viel drin. Sie hat dieses Rascheln mitten im Zimmer verursacht. Mir wird ganz kalt in der Magengegend. Ich gehe hinaus und verschließe diesmal die Läden, ehe ich mich wieder schlafen lege. Wieder raschelt etwas, doch nicht mehr bei mir im Raum. Doch die Müdigkeit siegt, ich schaue nicht mehr nach.

Kleiner Spoiler: am nächsten Morgen sind meine eingepackten Essensreste mitsamt der Alufolie verschwunden.

 

Der Tiger

Was mich dann weckt, ist ein Tohuwabohu aus Lärm, Rufen und panischem Geschrei. Es ist ein kurzer Krach, doch von einer Art, wie man ihn niemals überhören könnte. Ich höre, wie sich die Herde in Bewegung setzt, sich mit lauten Rufen versucht, zu warnen. Ich höre Hufgetrampel und wie etwas Schweres rennt. In sekundenschnelle bin ich am vergittertem Fenster, bis mir einfällt, dass ich die Läden von außen geschlossen habe. Ich schnappe mir die Taschenlampe und renne nach draußen.

Der Lärm hat sich inzwischen gelegt, ich war zu langsam. Schnell und suchend lasse ich den Lichtkegel der Laterne über die Rücken der Tiere gleiten, leuchte viele verängstigte Augen an. Panisch sprinten sie auseinander. Sie sprinten in den Wald hinein und etwas jagt sie. Doch ich kann in dem schmalen Strahl der leistungsstarken Taschenlampe nur die Leiber der Hirsche erkennen. Ich kann den Tiger nicht ausmachen, doch ich weiß, er ist da.

Ein Geräusch in meinem Rücken lässt mich zusammenzucken. Es ist John, der ebenfalls aufgestanden ist und jetzt neben mir steht. Er muss den Rumor da draußen ebenfalls gehört haben. „Das ist der Tiger.“ Sagt er. „Er hat sich eines geholt und getötet. Da, auf der anderen Seite.“ Tatsächlich, hinter der Lichtung in den Bäumen raschelt es. Das unverwechselbare Geräusch, als wenn etwas gewürgt wird.

Noch einmal lasse ich den Schein der Laterne wandern. Langsam beruhigen sich die Tiere, langsam kommen sie wieder zusammen. Wie laut solche Hirsche doch sein können, wenn sie gejagt werden. Noch immer rufen sie einander; einzelne Tiere, verloren im Gebüsch, machen auf sich aufmerksam. Vom Tiger keine Spur. Jetzt rennt die Herde nicht einmal mehr umher.

Dann wieder lauter Krach und Radau aus der Richtung, wo gerade eben ein einzelnen Hirsch laut nach seiner Herde rief. Kurzes Getrampel, dann ist auch dieser Hirsch nicht mehr zu hören. Der Tiger hat sein Werk getan. Wie es aussieht, nicht das einzige Mal in dieser Nacht.

Nur noch das Rufen der Herde hallt langanhaltend durch die Nacht. Kurze, seltsame Laute, die ich so noch nie in meinem Leben gehört habe und die ich eher einem Vogel zuordnen würde. So ist es in Nepal: Hirsche klingen wie Vögel und Vogelarten, die in den Bergen leben, hören sich an wie eine kaputte Stromleitung. Eine Zeit lang lausche ich noch den warnenden Rufen der Herde, dann schlafe ich ein, mit den Geräuschen des lebendigen Wesens Dschungel im Ohr.

 

Zwei Mal noch in dieser Nacht greift der Tiger an. Noch einige Male höre ich mitten in der Nacht das Getrampel von Hufen und die Schreie der Tiere.

 

Der nächste Morgen

Am nächsten Morgen stehe ich noch vor den Guides auf. Das Licht draußen weckt mich. Doch auch der Wald ist nicht wirklich leiser geworden. Dort, wo wir gestern die Herde beobachtet haben, liegt die Wiese verlassen vor mir; die Hirsche haben sich auf der anderen Seite der Lichtung versammelt. Meine Haut fühlt sich nass an, meine Kleidung klebt an meinem Körper und ich brauche unbedingt eine Dusche. Ich packe meine Sachen zusammen und stehe dann draußen auf der Terrasse, beobachte das Geschehen um mich herum.

Die junge Touristin und ihr Guide sind bereits verschwunden. Hoch oben in den Bäumen sehe ich eine Affenfamilie munter umherspringen. Das ist der Moment, in dem mir die eingepackten Essensreste einfallen, die auf mysteriöse Weise aus meinem zugeschlossenen Raum verschwunden sind. Ich stellte heute morgen fest, dass sich die Tür zum Zimmer nicht wirklich nachhaltig verschließen lässt. Sie geht nach außen auf, nicht nach innen – was schon mal gut ist – doch so ein Affe ist clever.

Waren Affen in meinem Zimmer? Oder haben sie nur die Hand durch das vergitterte Fenster gesteckt und sich die interessant nach Essen riechende Folie vom Bett gepflückt? Dieses Szenario erscheint mir sehr wahrscheinlich. Dann taucht irgendwann John auf und fragt: Bist du happy?

„Yes.“ Sage ich. „I’m happy. I’m such a happy tourist.“

Wir entdecken später auf dem Rückweg nicht nur Tiger- sondern auch Leopardenspuren, die sich in der von Reifen gezeichneten, aufgeweichten Erde des schlammigen Pfades eingeprägt hatten. Nicht nur der Königstiger scheint in dieser Nacht auf der Pirsch gewesen zu sein…

Frische Tigerspuren
Der Abdruck eines Leoparden

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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