September 2019, irgendwo in Nepal…
Von seiner Existenz wusste ich bereits, doch stehen Vergnügungsparks nicht weit oben auf meiner imaginären Liste. Erst jetzt, nach meinem abenteuerlichen Trip auf den Sarangkot und meiner noch abenteuerlicheren Abfahrt hinunter mit dem Gleitschirm, jetzt, wo alles gemacht ist, was man im Laufe von drei Tagen hier in der Stadt so machen kann, habe ich Zeit und Muße, das nepalesische Disneyland zu besuchen.
Und mich bei der Gelegenheit selbst zu fragen, ob Disney das mit dem Namen tatsächlich genehmigt hatte oder ob man es hier einfach nicht so genau nimmt…
Am Lakeside
Nachdem der Gleitschirm sanft auf einer Wiese am Phewa Lake gelandet war, brachte mich ein Taxi zurück in die Stadt. Es war seltsam, in so wenigen Minuten wieder hier unten zu sein, wenn man bedenkt, wie lange der Aufstieg gedauert hatte. Nun habe ich Zeit und Muße und schlendere etwas ziellos ins nächste Cafe an der touristischen Pokhara Lakeside.
Die Cafe-Betreiber wissen, was von ihnen erwartet wird: das Lokal hat ein ansprechendes Inneres, chillig vermengt mit kreativ und einer Prise alternativ gewürzt, ein Ensemble, das mich dazu bringt, ein oder zwei Bilder darin zu machen. Stylische Einrichtung und leicht überteuerte Preise, das ist die Pokhara Lakeside. Ich trinke Kaffee und esse einen kleinen Snack. Inzwischen ist mein Magen wieder in Ordnung und ich entscheide mich für ein indisches Tandoori, das nichts weiter als ein gegrillter Hähnchenschenkel ist und sagenhafte vierhundert Rupien kostet. Doch so wirklich Appetit habe ich nicht; gerade erst hatte sich die Übelkeit verzogen, welche mich dort über den Wolken fest in ihren Krallen hatte. Über den Wolken ist eben nicht alles rosa, was glänzt.
Mein Gesicht ist nach dem langen Marsch rot und verbrannt, trotz der Wolkendecke am Himmel, und im Moment habe ich nur das Bedürfnis, mich so weit in den Schatten zu verkriechen, wie es mir irgendwie möglich ist. So sitze und glühe ich vor mich hin und mein Kopf fühlt sich an wie eine Laterne. Eine Art Ziellosigkeit macht sich breit. Wenn es hier nichts mehr zu entdecken gibt und ich auch alles Machbare erlebt habe – was tue ich dann jetzt?
Ich zahle, schlappe hinaus und gehe weiter. Das befürchtete Gewitter bleibt aus; es bleibt sogar bis zum Abend sonnig und schön.
Doch die Erfahrung lehrt, dass gerade dann, wenn du meinst, alles gesehen zu haben, gerade wenn du aufhörst zu rennen und zu suchen – dass dich gerade dann das Unerwartete findet. Die wahren Entdeckungen wurden gemacht, als niemand danach gesucht hat. Nimm Druck weg, lasse los. Es ist nicht nur eine Floskel.
Das Disneyland am Phewa-Lake
Wie denn auch sei, Erkenntnis braucht Zeit. Aktuell beschließe ich, die rückwärtige, dem See zugewandte Seite der Lakeside zu erkunden. Ich gelange über Schleichwege und verschaffe mir über eine Baustelle Zugang. Sicher wäre es auch über eine der schmalen Gassen gegangen, die zwischen den Häusern und Restaurants verlaufen. Hinten erwartet mich ein regennasser, schlammiger Pfad, gesäumt von kleinen Hütten, den Rückseiten der Läden und Restaurants und Domizilen der Händler. Fliegende Händler, mit Waren auf dem Rücken beladen, versuche, selbige an den Mann zu bringen, Frauen in Sari flanieren am See entlang. Hier ist das Leben ein bisschen heimeliger, so, als hätten Nepalesen ein kleines Stück der Lakeside für sich zurück erobert. Westliche Touristen sehe ich keine.
Der Vergnügungspark mit seinem Riesenrad ist schon von weitem zu hören. Ein stetiges Quietschen ist zu hören, jedes Mal, wenn sich das Rad dreht. Es ist out of season und der Park fast leer, doch die Fahrgeschäfte sind in Betrieb. So kunstvoll bemalt und mit Seltenheitswert versehen die einzelnen Elemente wirken, sie sehen aus, als hätten sie ihren Zenit schon vor Jahrzehnten erreicht. Die Materie ist rostig und quietscht bei jeder Bewegung und eine Prüfung des deutschen TÜV hätte keines davon überstanden. Und auch wenn ich sonst nicht pingelig bin und Vergleiche vermeide, so geht es hier um nichts weniger als Sicherheit. Keines der Fahrgeschäfte sieht vertrauenserweckend aus und in keines würde ich mich freiwillig hinein setzen; trotzdem mache ich einen Spaziergang über das Gelände.
Es gibt das Riesenrad, die Riesenbootschaukel und Wasserrutschen. Aktuell suchen wenige Menschen hier nach Vergnügen, doch ein paar sehe ich in dem Rad sitzen. Die rostigen Gestelle geben bedauernswerte Laute von sich. „Quietsch-quietsch…“, macht es beim jeden Dreh und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte man hier eine glorreiche Vergangenheit für einen Moment wieder zum Leben erweckt. Ein Lost Place, welches sich für einen Augenblick wieder mit Leben füllt. Quietschvergnügt bekommt hier eine ganz neue, buchstabengetreue Deutung.
Das Disneyland ist so gut wie leer bis auf zwei, drei Erwachsene, die wie ich hier entlang spazieren. Keine Kinder. Kommt man etwas näher, so merkt man schnell, wie heruntergekommen und verwahrlost der Freizeitpark ist. Die Gerätschaften befinden sich in einem mehr als desolatem Zustand. Die Fahrgestelle sind verrostet, genauso wie die Körbe des Riesenrades. Auch das Schaukelboot sieht nicht besser aus.
Eine der Buden, in denen normalerweise Süßigkeiten verkauft werden, ist leer und voller Gerümpel. Die andere hingegen erfüllt noch ihren Zweck als Shop. Ein Swimmingpool in der Mitte, doch niemand badet darin.
Irgendwann gab es sicher Zeiten, in denen der Park schön gewesen war, doch nun hätte ich große Angst, eine der Fahrgelegenheiten zu nutzen. So machen ich nur Bilder. Doch die Gerätschaften laufen; sie laufen und quietschen erbärmlich vor sich hin. Lohnt es sich überhaupt, hier Strom reinzupumpen?
Die tibetische Händlerin
Als ich den Park verlasse und unschlüssig (oder entspannt?) über den matschigen Weg schlendere, spricht mich ein offensichtlich verwirrter, älterer Mann an. Immer und immer wieder versucht er, ein Gespräch anzufangen, doch ich gehe nicht darauf ein, denn… etwas stimmt mit ihm nicht, ohne dass ich sagen könnte, was. Doch am Ende rettet mich eine ältere Frau, die den Mann wegschickt und mich ihrerseits in ein Gespräch verwickelt, aber auf eine angenehmen Weise. „Er nimmt Drogen.“ Sagt sie über den Typ, der gerade abgezogen ist. Das war es also, was mit ihm nicht stimmte, denke ich mir; diese glänzenden Augen und dieses aufdringliche, an passive Aggressivität grenzende Auftreten.
Längst habe ich die Erfahrung gemacht, dass beinahe jeder, der dich in Nepal scheinbar ohne Hintergedanken anredet, dir meist etwas verkaufen will. Doch die Frau macht zunächst Small Talk. Und ich mache mit.
Sie erzählt mir, dass sie von oben aus den Bergen kommt. Sie wohnt oben auf dem Sarangkot. Ein kleines Dorf am Rande von Pokhara, wo eine tibetische Minderheit siedelt. Und sie spricht sehr gutes Englisch. Das habe sie alles von den Touristen gelernt, sagt sie.
Die Frau stammt aus Tibet. Sie erzählt mir, wie ihre Eltern nach der chinesischen Übernahme Tibets geflohen ist, wie auch viele andere Tibeter mit ihr. Sie ging seitdem nicht mehr zurück, doch sie habe noch Familie dort.
Wie ist es heute, frage ich sie. Wie lebt es sich in Nepal, ob es ihr gefalle? Ahnungslos wie ich bin, habe ich zu dem Zeitpunkt keine Ahnung, dass die Grundrechte der Tibeter in Nepal – den Berichten nach – stark eingeschränkt werden. Sie leben am Rande der Gesellschaft und versuchen, sich mit Handel über Wasser zu halten. „Es ist schwer.“ Erzählt sie mir. Nebenbei merkt sie an, dass sie ein kleines Business habe, welches sie immerzu mit sich herumträgt. Schmuck, Kettchen, Armbänder, welche sie selbst herstellt. Jeden Tag kommt sie von den Bergen hinunter und versucht, etwas an die Touristen zu verkaufen.
Ich rechne damit, dass sie mir ihre Waren vor die Nase hält, doch sie macht nichts dergleichen. Stattdessen lausche ich ihrer Geschichte. Und sie scheint fasziniert von meinem blonden Haar. „Du bist so schön.“ Sagt sie. „Deine Haut ist so hell und deine Haare auch. Ich – ich bin nicht schön. Ach was!“ Sie winkt ab. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Doch in mir reift eine Entscheidung. Sie erzählt mir, dass sie Schmuck selber macht. Sie solle mir doch mal zeigen, was sie so hat, sage ich. Ich würde jetzt Schmuck kaufen, den ich nicht brauche. „Ja, ja, als Geschenk! Für die Mama!“ Sagt sie begeistert. Sie holt ihre Tasche hervor, wo einige lose Steine und Glasmurmeln liegen; ein Teil ist bereits aufgefädelt. Daneben – jede Menge fertige Ketten, Ohrringe und Armbänder. „Danke, danke, dass du mir helfen willst.“ Wiederholt sie ein ums andere Mal, doch als ich nach dem Preis frage, nennt sie mir einen so absurd hohen Betrag, dass ich Lust habe, aufzustehen und zu gehen.
Wir sitzen auf einer hölzernen Bank am Ufer des Sees, die beinahe zerfällt. Ab und an kommt einer der hiesigen Händler vorbei und ich merke, dass er die Tibeterin am liebsten fortgeschickt hätte, doch in meiner Anwesenheit wagt er es nicht.
Statt aufzustehen und zu gehen, fange ich an zu handeln. Wohl oder übel, denn ich handele nicht gerne. Typisch deutsch mag ich einen festen Preis vor der Nase haben, sei er auch höher als der ausgehandelte. Einen Preis, von dem ich weiß, dass er für alle gilt.
Irgendwann werden wir uns einig. Doch am Ende – und dass ist mir vollkommen bewusst – habe ich sowieso zu viel bezahlt und die Dame hat mich bis über beide Ohren abgezogen. Doch ich kann ihr nicht böse sein. Sie will überleben und kann kaum mit den fest stationierten Läden in Pokhara konkurrieren. Als ich einige Tage später, schon zurück in Kathmandu, den Preis vergleichbarer Schmuckerzeugnisse vergleiche, meldet sich das bekannte Gefühl wieder. Wie geschickt auch immer ich zu handeln glaubte, die Tibeterin war besser, denn es ist ihr täglich Brot. Ich denke, man muss das Handeln einfach als einen großen Spaß sehen. Nicht zu verbissen.
„Danke, danke, dass du mir geholfen hast.“ Sagt sie immer wieder, und ich denke mir, ja, ja… aber gut. Ich wünsche ihr viel Glück für ihr weiteres Business und sie wünscht mir ein langes Leben. Als ich den Weg zurück in mein Hotel gehe, muss ich schmunzeln.
Der Mond über dem Phewa-See
Der Abend bricht an. Es war ein solch ereignisreicher Tag, dass ich nicht einmal genau zu sagen vermag, wann er begonnen hatte. So langsam geht meine Zeit in Nepal zu Ende, und ich möchte diese Zeit hier nicht missen. Ich drücke mich auf dem kleinen Pfad zur Seeseite hin an den Hinterseiten der Restaurants vorbei. Den restlichen Abend verbringe ich bei einem sehr scharfen, indischen Gericht und einem Masala-Tee in meinem Lieblingslokal. Ein wenig bedaure ich es, morgen nicht mehr dort frühstücken zu können.
Ich bin lieber hier als in vergleichbaren Lokalen weiter unten im Touristenbezirk. Dort sind sie alle sehr bemüht, aber ich mag dieses Um-mich-herum-Gespringe nicht. Hier kann ich so lange sitzen und meine Zeit verplempern wie ich will, ohne dass es jemanden interessiert. Der Wirt bringt dir sehr zügig das Essen und den Tee, und zieht sich sofort zurück. Er ist zwar immer da, wenn du etwas von ihm willst, aber die Zeit über, in der du nichts brauchst, besitzt er das Talent, sich praktisch unsichtbar zu machen. Er ist entweder hinten in der Küche und brutzelt singend an seinen Gerichten oder er sitzt hinter der Theke und macht… wer weiß das schon. Unsichtbar, wie ich bereits erwähnte. Perfekt.
Hier fühle ich mich einfach nur wohl und kann in Ruhe meinen Gedanken nachhängen. Es ist ein Ort für Individualreisende. Für Leute, die alleine reisen.
So einige von ihnen kommen hierher. Vermutlich vor allem Low-Budget Reisende oder solche, die etwas Nähe zu den Locals suchen. Oder auch solche, die in Ruhe gelassen werden wollen. Die für sich bleiben wollen. Wie ich.
Als ich das Lokal verlasse, scheint hell der Mond über dem Phewa-See. Der Himmel ist hellblau und rauchige, rötliche Streifen ziehen sich dort entlang, wo eben noch die Sonne war. Ihr Glanz spiegelt sich in den Kanälen, die zwischen den Reisfeldern leise plätschern, still flüstern. Ein wenig weiter – leuchtendes Blei. Der See.
Morgen werde ich Pokhara verlassen und mich mit dem Bus zurück nach Kathmandu begeben, in die große, laute Stadt. Dort bleibe ich weitere drei Tage, und nach diesen drei Tagen endet meine Reise. Dann heißt es wieder: ab in den Flieger, in Doha umsteigen und ab nach Frankfurt am Main. Diese Reise, vor der ich im Vorfeld so viel Angst hatte, geht bald zu ende, und ich habe so viel erlebt.
Und wie so oft, blieben auch diesmal diese diffusen Befürchtungen, die ich nicht einmal näher eingrenzen, geschweige denn in Worte fassen könnte… diese diffusen Befürchtungen, die nichts weiter sind als ein schwarzer Mann im Schatten eines dunklen Kellers… die Befürchtungen, die nichts bedeuten… Sie lösen sich auf in der Herzlichkeit der Menschen, in der Sonne über Kathmandu. Im Staub der vollen Straßen. Blieben hängen im Holz der geschnitzten Balkone. Wurden zertrampelt von Kühen und Wasserbüffeln. Verloren sich im Dschungel von Chitwan, mit den vielen Rehen, Nashörnern und Tigern.
Keine Befürchtung, die du im Vorfeld hegst, egal wie stark sie dir erscheint – keine Befürchtung hält der Wirklichkeit stand. Denn wenn wir erstmal da sind, stellen wir fest, dass da nichts ist, was es zu fürchten gibt. Denn die Wirklichkeit ist in der Regel besser (oder viel, viel schlimmer).
Und auch wenn mir Nepal sehr viel gegeben hatte, so spüre ich, dass langsam Zeit ist zu gehen. Ich bin übersättigt von Eindrücken. Voll und nicht mehr aufnahmefähig. Der Hunger nach der Ferne ist für das erste gestillt. Alles muss erst einmal sacken. Ich sehne mich nach Vertrautem, nach der vertrauten Routine meines Heims. Wo ich nicht mehr schauen muss, wie scharf die Gerichte sind und ob ich sie essen kann. Keinen Kuhfladen auf der Straße ausweichen muss. Keine Sorge zu haben brauche, dass die Menschen nur mit mir sprechen, um mir etwas verkaufen zu können. In Deutschland, wo ich nicht mehr heraussteche und Aufmerksamkeit auf mich ziehe, sondern eine von vielen bin. Und in der Masse untertauchen kann.