Asien, Nepal

Chitwan, Tag 3 – Über Kulturen und Fortschritt

Planlos in Chitwan

Mein zweiter Tag in Sauraha ist ein entspannter Tag. Draußen hängen die Wolken tief am Himmel und die schwüle, mit Feuchtigkeit getränkte Luft raubt einem jede Energie, macht schläfrig und dämmt die Lust auf jegliche Aktivitäten im Keim. Es ist morgens nach acht und ich bin, im Gegensatz zu gestern, komplett ohne Pläne. Oder flexibel, wie man so schön sagt.

Die holländische Familie ist heute morgen abgereist. Die haben es genau richtig geplant: einen Tag bleiben, viel sehen und dann weiter. Die hocken nicht lustlos auf ihrem Zimmer irgendwo an anderem Ende der Welt. Nun bin ich der einzige Gast im Tharu Community Homestay.

Was mich betrifft, ich bleibe hier noch zwei Tage hier in Sauraha, an der Grenze zum Chitwan Nationalpark. Alle Aktivitäten waren spätestens gestern ausgeschöpft und die Hitze raubt mir jede Kraft. Ursprünglich plante ich, mich fallen zu lassen und ein bisschen zu entspannen, doch nun merke ich, wie der Entdeckungsdrang in mir immer mächtiger wird. Ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde, die Füße still zu halten. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Was könnte man denn hier noch tun, was könnte man denn noch sehen? Schließlich bin ich nur einmal hier an diesem Ort, und es stellt sich die Frage, ob ich zurück kommen werde. Wohl eher nicht, die Welt ist groß genug.

So kristallisiert sich eine Idee heraus. Das Stay Over Night, eine Übernachtung im Dschungel des Chitwan, inmitten von wilden Tieren, hört sich mit einem Male so richtig verlockend an. Die Stay Over Night Trips kann man im Tharu Community Homestay direkt buchen, doch auch in Sauraha selbst werden solche Trips an jeder Ecke in den vielen kleinen Büros angeboten. Noch weiß ich nicht in allen Einzelheiten, was da auf mich zukommt – falls ich mich dafür entscheide. Denn eigentlich ist der Tag der Entspannung verschrieben. Doch wer braucht schon Entspannung, entspannen kann ich, wenn ich tot bin.

Ich stelle irgendwann fest, dass über die Mittagszeit nicht nur der Stromgenerator abgestellt wird, sondern auch das Wasser. Das bekommt man natürlich nicht mit, wenn man den ganzen Tag über durch den Dschungel tigert.

Ein schwarzer Hund liegt faul und müde unter meinem Tisch. Ich sitze draußen, mit dem Blick auf den Fluss, siehe der Frau zu, die ihre Wäsche im Fluss wäscht. Vielleicht fischt sie auch; ich kann es von meinem schattigen Plätzchen aus nicht genau sehen. Doch der kleine Pavillon hier am Fluss ist perfekt, um unauffällig die Einheimischen zu beobachten – und beobachtet zu werden.

Ich sehe den Plastikflaschen zu, die fröhlich mit den Wellen hüpfen.

Plötzlich taucht ein zweiter Hund am Flussufer auf. In den schwarzen Haushund unter meinem Tisch tritt mit einem Mal Leben. Er rennt zu dem Besucher hin – und anhand dessen, was danach folgt, schlussfolgere ich, dass es ein Weibchen ist. Nach einer Weile kommt sie hechelnd und zufrieden zu meinem Tisch zurück. Muss Hundeliebe schön sein.

Der Feldweg, der hier entlang und am Homestay vorbei verläuft, führt direkt ins Tharu-Dorf nebenan. Ab und zu kommen Frauen in leuchtend bunten Kleidern hier vorbei. Einige von ihnen tragen Bagagen auf dem Kopf. Ich schaue sie unauffällig, doch neugierig an.  Sie schauen mich unauffällig und neugierig an. Und beide Seiten versuchen, so zu tun, als würden sie sich nicht allzu sehr für den anderen interessieren; der Tourist für den Einheimischen, der Einheimische für den Tourist – doch sie tun es doch.

Ein Wasserbüffel watet herrenlos durch die sumpfigen Auen des Flusses. Büffel suchen hier oft Abkühlung in den vielen, schlammigen Wasserlöchern. Dort graben sie sich ein und sitzen gut und gerne die ganze Mittagszeit über. Der Schlamm schützt vor Insektenstichen und der direkten Sonnenstrahlung. Der Büffel schnauft zufrieden vor sich hin. Und während ein feiner Schweißfilm mein Gesicht bedeckt, wünschte ich für einen kurzen Moment, Wasserbüffel zu sein.

Währenddessen fischt ein Junge ein Stück weit entfernt im seichten Wasser des Flusses. In leuchtend gelber Kleidung steht er bis zur den Oberschenkeln tief in den langsamen, trüben Fluten und wirft Netze aus. Ich verdränge den Gedanken an die vielen Krokodile, die den Fluss bevölkern.

Ich habe die Möglichkeit, ein Fahrrad auszuleihen und die Gegend zu erkunden. Die zweite Option ist ein Ausflug nach Rangatnar zu den heißen Quellen, doch offen gestanden ist selbst die Außenluft schon so heiß, dass ich gut und gerne auf die heißen Quellen verzichten kann.

Es ist schon faszinierend.

Ich habe gestern, an meinem ersten Tag, bereits an allen Aktivitäten teilgenommen, die irgend machbar sind, und heute, tja… So sehr ich auch langsam reisen und mir Zeit lassen wollte, so werde ich nun das Gefühl nicht los, irgendwie Zeit zu verlieren. Aber vielleicht ist es mal ganz gut, wenn äußere Umstände (und eine zu großzügige Planung) einen dazu zwingen, mal für zwei Tage die Fuße still zu halten. Wann hat man denn sonst die Gelegenheit dazu. Schließlich ist es auch Urlaub, da darf man ausschlafen, auch mal entspannen, ohne dieses drängende Gefühl im Nacken, dass man noch so viel sehen und erledigen könnte.

Selbst mein verstauchter, angeschwollener Knöchel ist heute wieder fast wie neu, und das trotz des gestrigen, fast zweistündigen Marsches durch den Wald. Mein Körper regeneriert schnell, und das ist auch gut so.

 

Gedanken zur Nachhaltigkeit

Auch Montezumas Rache hat mich bis jetzt nicht ereilt, und dass, obwohl ich jeden Tag das gefilterte Leitungswasser trinke, um Plastikmüll zu vermeiden. Der Filter in meiner Super Duper Sawyer-Wasserflasche (unbeauftragte Werbung, die ist echt gut…) funktioniert zuverlässig und nimmt dem Wasser sogar ihren muffigen Geruch nach Fluss. Gefiltert schmeckt es neutral. Nicht wirklich lecker, aber auch nicht wie etwas, das einen sofort mit seinen Bakterien und Protozoen umbringen könnte. Der Filter funktioniert zuverlässig.

Doch manchmal, da komme auch ich nicht um die Plastikflaschen drumrum. Immer mal wieder bekommen wir (mit wir meine ich: wir Touristen..) frische, versiegelte Wasserflaschen in die Hand gedrückt. Nach einem langen Marsch zum Beispiel, wenn sich einfach keine Möglichkeit ergibt, Wasser aufzufüllen – dafür aber im Jeep oder Bus Wasser in Zweiliterflaschen verschenkt wird. Natürlich nimmt man sich dann eine – nur für alle Fälle. Natürlich schmeckt das Wasser auch besser als das aus der Filterflasche, welches trotz allem leicht nach der Filterflasche selbst und somit nach Plastik müffelt. Und natürlich stehen nun zwei oder drei angebrochene Plastikflaschen in meinem Zimmer rum. Nebst der Sawyer-Filterflasche, versteht sich.

 

Wie leben die Tharu?

Nun wandert mein Blick über mein kleines, charmantes Chalet. Die Chalets der Tharu-Community sind auf traditionelle Weise gemacht. Bereits beim Einzug habe ich mich gefragt, welches Material hier verwendet wird. Es ist tatsächlich diese Mischung aus Dung und Sand, versehen mit Gräsern. Alles Materialien, die auch draußen in der Natur dieser Gegend hier zu finden sind. Gestützt wird der Bau von einem Gerüst aus Hölzern, Stroh und Bambus. Die Dächer sind mit Schilfgras bedeckt. Bereits auf meinem Weg hierher habe ich Menschen mit kleinen Handsensen Schilfgras sammeln sehen und stellte mir die Frage, was sie da tun. Landschaftspflege? Ging mir durch den Kopf. Nein, sie sammelten Baumaterial für ihre Häuser.

Doch obwohl die Wände meines Gästeraumes aus denselben Baumaterialien gemacht sind wie die Häuser der Tharu, überrascht mich das jegliche Fehlen von Gerüchen. Getrockneter Dung riecht nicht.

Die Gästechalets des Tharu Community Homestay sind trotz ihrer traditionellen Bauart viel komfortabler als die Dorfhütten der Tharu. Es gibt alle Schikanen wie W-Lan, Warmwasser und Strom sowie USB-Anschlüsse.

Wobei die Tharu ebenfalls Strom haben, davon zeugen Solarzellen an einigen der Häuser. Vielerorts werden noch die einfachen Duschen genutzt, die außen am Haus angebracht sind und aus einem Stück Seife und einem Wassereimer bestehen. Diese improvisierten Duschen sieht man überall, zum Beispiel vom Bus aus auf dem Weg von Kathmandu nach Pokhara. Die Duschvorrichtungen sind mit einem provisorischen Sichtschutz abgetrennt, doch erstaunlicher Weise fast immer zur Straße hin gelegen. So kann man vom vorbei fahrenden Bus aus die fröhlich duschenden Menschen gut sehen; der Mann beim Einseifen und seine Frau, wie sie mit einem Wassereimer nebst ihm bereit steht.

Bei meinem Besuch bei den Tharu hatten wir uns die Hände vor der Essenszubereitung unter einer Wasserpumpe gewaschen, doch als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf einen regulären Wasserhahn an einer der Hauswände. Trotz der improvisierten Duschen ist fließend Wasser vorhanden. Viele der Tharu leben inzwischen sehr modern und große, schöne Häuser gehören zu einer wohlhabenden Mittelschicht.

Fast jeder hier hat ein Smartphone. Die Menschen mögen traditionell leben, doch sie verweigern sich nützlichen Neuerungen wie der Kommunikationselektronik nicht; schon gar nicht diejenigen, die im touristischen Sektor arbeiten.

Die Tharu-Frauen sprechen kaum englisch; ihre Kinder dafür umso besser. Als ich mich für den Krishna-Tanz anziehen und schmücken ließ, stellte ich fest, dass die kleine Tochter der Familie perfektes englisch sprach. Auf meine Nachfrage hin sagte sie, sie habe es in der Schule gelernt. Die Einnahmen aus dem Tourismus sorgen also für einen gewissen Wohlstand der Menschen und für die Schulbildung ihrer Kinder.

Obwohl die traditionellen Dörfer noch existieren und ihre Häuser aus dem oben erwähnten Sand-Dung Gemisch gebaut werden, bestehen in den größeren Orten fast alle Häuser aus Stein. Ich frage mich sowieso, ob diese traditionellen Tharu-Dörfer einzig nur noch zu touristischen Zwecken existieren, wie eine Art Freilichtmuseum, in dem jedoch die letzten Menschen leben, die letzten Vertreter der alten Tharu-Kultur. Die jungen Menschen wollen dieses Leben nicht mehr. Natürlich nicht. Die jungen Menschen zieht es in einen größeren Ort. Sie wollen ein Haus aus Stein, Wasseranschlüsse und Strom, sie wollen Internet haben… alles, was Menschen auch bei uns so wollen. Und das ist auch verständlich.

Manche sagen, dass die Tharu-Kultur am Aussterben ist. Doch das sagen wird zu beinahe allen älteren Kulturen gesagt, sobald diese beginnen, mit der Zeit zu gehen, sobald sie die Dinge nicht mehr so machen wie man sie vor tausend Jahren auch schon gemacht hatte. Doch das mit dem Aussterben stimmt so nicht. Kulturen entwickeln sich weiter, ein Verweigern jeglichem Fortschritt, ein Weiterleben wie im Mittelalter kann nicht die Antwort sein. Denn hier geht es nicht um die Kultur. Es geht um die Menschen selbst.

Hätten die europäischen Völker etwa auf dem Stand von vor hundert oder zweihundert Jahren stehen bleiben sollen mit dem Argument, ihre Kultur vor dem Aussterben zu bewahren? Wie würde unser Leben, unser Alltag heute aussehen?

Wollen wir die Kulturen der Menschen ferner Länder erhalten sehen, weil sie für uns etwas „exotisches“ darstellen? Etwas uns fremdes, das fernab unserer eigener Realität ist? Wollen wir alte Kulturen erhalten sehen – aus rein egoistischen Gründen? Alles Alte und Fremde und kulturell seltene konservieren, um es uns bei Bedarf rausholen und anschauen zu können? Ist das der Grund? Alte Kulturen „bewahren“, wie man so schön sagt?

Können die Menschen auf diese Weise in der Welt von heute bestehen? Wollen die Menschen so leben? Wollen es die jungen Menschen? Immer häufiger lautet die Antwort: nein.

Ich selbst habe dazu keinen Bezug; ich begreife nicht, was daran gut sein soll, sich dem Fortschritt zu verweigern. Diese Art zu denken ist mir fremd. Meine Suche nach dem „Authentischen“, die viele Reisende umtreibt, bedeutet nicht, die Suche nach Armut oder Folklore, nach einem Leben, wie es die Menschen seit langem unverändert leben. Was soll daran authentisch sein, Gewohnheiten und Dinge des täglichen Lebens künstlich immerzu gleich zu erhalten, die sich unter normalen Umständen längst gewandelt hätten. Ist das denn immer noch authentisch? Oder ist es purer Egoismus, falsch verstandene Suche nach dem „Echten“, „Ursprünglichen“? Fließen Kulturen denn nicht ineinander? Verändern sie sich denn nicht? Beeinflussen sie sich nicht gegenseitig? Ist es nicht der natürliche Lauf der Dinge? Was soll dieses ständige Wehklagen über aussterbende und verschwindende Lebensarten? Kulturen verschwinden doch niemals wirklich. Sie verändern sich.

Ich mag den Fortschritt. Es ist nicht schlimm, wenn Häuser nicht mehr aus Kuhdung und Stöcken gebaut werden. Es ist nicht schlimm, wenn Menschen kein Wasser mehr vom Fluss holen müssen, weil sei einen Wasseranschluss haben. Es ist nicht schlimm, wenn Menschen ein Smartphone in der Hand halten. Es ist nicht schlimm, wenn Frauen nicht mehr am Feuer kochen, sondern einen Herd in ihrem Haus nutzen. Es ist nicht schlimm, wenn wir anderen denselben Grad an Fortschritt und Wohlstand zugestehen, den wir selbst pflegen. Muss man deswegen eine Kultur als ausgestorben betrachten? Ich denke nicht.

Ich denke, das Leben wird durch all diese Dinge verbessert. Und ich kann verstehen, dass junge Menschen dieses neue Leben wollen. Sie sehen, wie das Leben woanders aussieht, in den Städten, in der weiten Welt. Dazu braucht es nur einen Fernseheranschluss, eine Satelitenschüssel, vielleicht noch ein W-Lan-Signal – schon ist die Welt zum Greifen nah. Wer will da schon die Traditionen seiner Urgroßeltern pflegen?

Ich bin da recht ambivalent eingestellt. Ich liebe es, fremde und alte Kulturen zu entdecken. Andererseits möchte ich nicht, dass man diese Kulturen für mich konserviert, damit ich als Tourist komme und sie mir anschaue. Ich möchte, dass die Welt sich verändert, und ich möchte die Welt so sehen, wie sie ist. Wie sie wirklich ist.

Mich interessieren keine alten, toten Steine. Mich interessieren keine eingefrorenen Kulturen und Lebensweisen, die sich keinen Meter vorwärts bewegen. Mich interessiert das Leben der Menschen, wie es wirklich ist, in Hier und Jetzt. Wie sie tatsächlich leben, nicht, wie sie vorgeben zu leben. Nicht, wie es früher einmal war. Wenn ich Historisches sehen möchte, kann ich ein Freilichtmuseum besuchen. Ich kann in ein normales Museum gehen. Ich kann meine Informationen aus entsprechender Literatur beziehen oder mir eine passende Sendung zum Thema anschauen.

Aber wenn ich auf Reisen bin, dann will ich die Gegenwart. Die Welt verändert sich auch so schon schnell genug.

Sind die Tharu-Dörfer schon Freilichtmuseen? Künstlich am Leben erhalten, um touristisches  Interesse zu bedienen? Oder sind sie wirklich noch so authentisch, wie sie vorgeben zu sein? Es fällt mir schwer, das für mich zu beantworten. Vielleicht ist hier die Grenze noch fließend, doch irgendwann werden es Freilichtmuseen sein, die die Menschen nach Feierabend verlassen, um in ihre Steinhäuser nebenan zurück zu kehren. Und das ist auch gut so.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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