Nachdem ich den Vormittag im Tharu Community Homestay durchgeschlafen und mich der Zeit umhergedrückt und gelangweilt habe, beschließe ich, etwas dagegen zu unternehmen.
Die meisten der Aktivitäten gab es bereits am ersten Tag zu sehen und zu erleben, so wie den Bushwalk, die Jeep-Safari, die Kanufahrt über dem Rapti-River und das Kulturprogramm der Tharu. Nach einem aufregenden und ereignisreichen ersten Tag hätte ich im Grunde auch schon abreisen können. Doch aufgrund der Tatsache, an einem schönen, entspannenden Ort zu sein – und um ein wenig Luft und Freiraum in meine Reiseplanung zu bringen – plante ich meinen Aufenthalt hier für vier Tage ein. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass so vieles direkt in den ersten Tag gepackt werden würde.
Bei meiner Ankunft und der obligatorischen Aktivitäten-Planung wollte mir der Guide etwas angedeihen lassen, das sich „stay over night“ nannte. Es handelt sich dabei um eine Übernachtung mitten im Dschungel in einem Stelzenhaus, welches einen perfekten Aussichtspunkt darstellt, um Tiere zu beobachten und sich am Abend von den unheimlichen Geräuschen des Dschungels in den Schlaf schaukeln zu lassen.
Das scheint mir nun eine immer interessantere Option zu sein. Also turne ich nach dem Mittagessen im Haupthaus des Homestay herum und suche jemanden, bei dem ich die Aktivität buchen kann. Blöderweise ist der Hotelmanager nicht mehr da und das Homestay scheint verlassen. Die anwesenden Jungs, die ich auftreiben kann, können mir bis auf den Preis nichts wirklich genaueres zum Ablauf des Stay-over-night sagen. Ich nehme Platz wie mir gehießen und warte auf weitere Auskünfte. Währenddessen beobachte ich die Bullen im Fluss, die in der Mittagshitze von ihren Menschen geschrubbt werden und wundere mich darüber, dass noch keiner von ihnen ein Krokodil am Bein hängen hat. Von diesen Viechern wimmelt es nur so hier in den Tiefebenen.
Ja, ich könne den Aufenthalt im Chitwan Nationalpark buchen und die fünfhundert Rupien seien sofort zu entrichten. Informationen gäbe es dafür später. Wann werde ich abgeholt? Wann werde ich wieder abgeliefert? Wie lange dauert das Ganze und was ist alles mit dabei? Einer der Jungs präsentiert mir die Rechnung, ehe ich wirklich weiß, was wie und wann auf mich zukommt. Ich fühle mich überrumpelt und lehne ab.
Kein Problem, dann werde ich eben stattdessen einen Spaziergang durch die Felder und Wiesen und umliegenden Dörfer machen. Wenn ich daran zurück denke, wie erledigt und überhitzt ich nach genauso einem Marsch hier im Homestay angekommen bin, muss ich nun über den Gedanken schmunzeln.
Gerade will ich loslaufen und ärgere mich noch ein bisschen über den unzureichenden Service, da höre ich hinter mir ein Rufen. Fast bin ich am blühenden Bogen des Eingangs angelangt. Ich drehe mich um; die Jungs eröffnen mir, dass mich einer von ihnen begleiten wird, zu meiner Sicherheit, wenn ich richtig verstanden habe. Ob das ein Problem sei – öhm… ja, ist es, ich bedanke mich und gehe alleine weiter. Der Gedanke, auf Schritt und Tritt jemanden bei mir zu haben, der aufpasst, erscheint mir gerade mehr als ärgerlich. Vielleicht wollen sie nicht, dass ich alleine durch die Tharu Dörfer wandle, die wir am ersten Tag mit Guide besucht haben, und Voyeur spiele. Was ich verstehen kann. Oder sie wollen nicht, dass ich in Sauraha nach einem Konkurrenzanbieter für das Stay-at-night schaue.
Doch genau das habe ich insgeheim vor.
Ich entferne mich schnellen Schrittes über den kleinen, verschlungenen Weg von meiner Unterkunft. Unterwegs bleibe ich immer wieder stehen und fotografiere tropische Blumen, die ich so in der freien Natur wohl noch nie gesehen habe und die nun, nach dem Monsun, am Wegesrand üppig zu finden sind. Sie strahlen wie leuchtende, bunte Flecken in der Landschaft. Ab und zu drehe ich mich unauffällig um, weil ich in den ersten Augenblicken fast sicher bin, dass mir einer der Jungs unauffällig in einiger Entfernung folgen wird. Doch der Weg hinter mir bleibt leer. Ich wende mich beruhigt wieder meinen Blumen hin. Meine Schritte richten sich in die den Tharu-Dörfern entgegengesetzte Richtung; ich steuere den nächstgrößeren Ort an.
Es ist Mittagszeit und die Sonne knallt unbarmherzig herunter, ein Tag wie vorgestern, als ich in der Mittagshitze hier angekommen bin. Doch ich habe mein Wasser und mein Schirmchen dabei und gehe fröhlich weiter. Ziegen stehen in schattigen, überdachten Verschlägen und knabbern an den Grasbüscheln, die die Bauern für sie bereit gehängt haben. Menschen sitzen im Schatten ihrer Häusern und beobachten mich, wie ich vorbei gehe. Die verrückten Weißen gehen mittags spazieren. Ich grüße sie. „Namaste!“ Sie lächeln, falten die Hände zusammen und rufen zurück: „Namaste!“
Ich scheine eine kleine Sensation im Ort zu sein; eine Weiße, die allein umher spaziert. Später erfahre ich, dass es vor allem Spanier und Chinesen sind, die zu dieser Jahreszeit kommen. Überall, wo ich vorbei komme, unterbrechen die Menschen ihre Arbeit und schauen mir nach. Manche versuchen, nicht zu auffällig zu starren. Sie tun so, als schauten sie nur rein zufällig in meine Richtung, irgendwo an mir vorbei, doch sobald sie glauben, dass ich es nicht sehe, betrachten sie mich umso genauer. Ich muss schmunzeln.
Ziegen. Hunde. Die Tiere bevölkern die Straßen, sind ein natürlicher Teil des Stadtbilds. Wenn man hier in diesem kleinen Ort überhaupt von einer „Stadt“ sprechen kann.
Ein paar Frauen winken mich herbei; sie sitzen im Schatten in einem Garten vor ihrem Haus und deuten mir an, zu ihnen zu kommen und mich neben ihnen nieder zu lassen. Eine der Frauen ruft sinngemäß so etwas wie: „Es ist zu heiß!“ Und macht eine entsprechende Geste. Ich winke ab. Warum eigentlich nicht, denke ich mir, als ich weiter gehe. Vielleicht ist es die Scheu vor der Begegnung und der Sprachbarriere, vielleicht aber auch der Drang, noch so viel mehr sehen zu wollen. Wie dem auch sei, der Augenblick der Begegnung verstreicht ungenutzt.
Ich komme an einer Schule vorbei. Die Kinder winken aus den Fenstern heraus und rufen: „Hello! Namaste!“ Und lachen. Und winken erneut. Ich winke zurück. Irgendwie macht mich das happy.
Irgendwoher dringt Nepali-Musik an meine Ohren; jemand feiert oder hört einfach nur laut Radio. Fast jeder sitzt im Schatten um die Mittagszeit – bis auf mich, und die wenigen Frauen, die ihre Büffel im Fluss baden. Ich verlasse den unbefestigten Feldweg und überquere die Brücke, eine seltsame, hölzerne Konstruktion, die über den Fluss führt und von zwei weißen Nashörnern flankiert wird. Von hier oben schaue ich herunter auf die Tiere und die wenigen Menschen im Fluss.
Die Schilfgräser wiegen sich im Wind und die Landschaft ist saftig grün. Frauen auf dem Rad und mit Schirmen in der Hand kommen mir entgegen. Fischer sitzen am Fluss im Schatten der Bäume. Manche knüpfen Netze. Der Bereich zwischen Straße und Fluss ist ein weites, offenes Feld mit hohen Gräsern, ein grüner, wallender Teppich. Die Blütenstände der Gräser leuchten silbrig, wie kleine, helle Fächer. Mal überholt mich ein Moped, mal fragt ein Tuk-Tuk, ob er mich mitnehmen kann, doch insgesamt ist es auf dem Land angenehm leer. Alles drängt sich in den Städten, alles drängt nach Kathmandu und in die größeren Orte.
Und überall, wo ich hin schaue, lächeln mich die Menschen an. Und selbst die, die nicht lächeln, sondern mich nur aufmerksam beobachten, beginnen damit spätestens in dem Augenblick, als ich meine Hände falte und sie mit einem freundlichen „Namaste“ begrüße. Dann grüßen sie zurück und freuen sich.
Egal, wo du bist, in welchem fremden Ort, in welchem fremden Land; wenn du das Gefühl hast, die Menschen schauen dich so seltsam an, dass du dich beobachtet fühlst, mache folgendes: lächle und grüße sie. Und schon hast du damit den Bann gebrochen und eine Brücke gebaut. Die meisten werden zurück lächeln.
An dem Verkaufsstand des alten Tharu-Mannes, am Wegesrand auf dem Weg nach Sauraha, lasse ich mich nieder. Diesen kenne ich noch von meinem ersten Tag hier in Chitwan, als ich schwitzend und keuchend durch die Felder spazierte und nach dem Tharu-Community Homestay suchte. Der köstliche Kaffee gärt noch immer auf dem Herd vor sich hin und verströmt einen aromatischen Duft. Der Kaffeestand ist gleichzeitig ein kleiner Gemüsestand; zudem gibt es Säfte, Wasser und Snacks für kleines Geld. Und wie beim ersten Mal, ist der milchiger Kaffee auch heute sagenhaft lecker.
Der alte Mann ist diesmal nicht da. Seine Kinder – oder Enkelkinder? – sind heute für den Verkauf zuständig, ein Junge und seine beiden Schwestern. Der Junge deutet mir an, an einer kleinen Bank Platz zu nehmen. Dankbar stelle ich meine schwere Tasche ab und nehme den Kaffeebecher entgegen. Das heiße Getränk tut in der Mittagshitze richtig gut. Paradoxerweise helfen heiße Getränke bei hohen Temperaturen, den Körper zu kühlen, denn der Körper versucht, seine Kerntemperatur herunter zu regulieren. Beim Verzehr von eiskaltem Wasser oder ähnlichen produziert der Körper Energie, um diese auf Körpertemperatur zu erwärmen. Ergo man fühlt sich im Nachhinein noch heißer und schwitzt mehr als vorher.
Allerdings ändern all die Weisheiten nichts an der Tatsache, dass mir die Soße, wie schon am ersten Tag, weiter vom Gesicht rinnt. Stellenweise sehe ich, dass es auch den Einheimischen genauso ergeht, was ich irgendwie beruhigend finde. Ich trinke meinen Kaffee aus und gehe weiter.
So erreiche ich Sauraha.