Das Reisen war schon immer etwas Besonderes für mich, ein Privileg, welches ich mir erst erarbeiten musste.
Und das mit dem Erarbeiten meine ich nicht in monetärem Sinne. Vielmehr wurde das Reisen in meinem Umfeld als etwas „unnötiges“ betrachtet, etwas, wofür es sich weder lohnt, zu sparen noch Geld zu investieren, denn „etwas gekauftes, das hat man“.
Investiere doch lieber in etwas Greifbares, wovon du „später noch was hast“. Klar, eine Reise kann man weder greifen noch in die Tasche stecken und mit nach Hause nehmen, und doch gibt sie einem so viel. Alleine die Erkenntnis, dass dich am Ende nur die Dinge glücklich machen werden, die deinen Geist füttern.
Mein Leben war von vielen Umzügen und Wohnortwechseln geprägt. Das formte in mir das Gefühl, überall und nirgends sein zu können, auch ohne dass das einen großen Unterschied macht. Irgendwo musste man immer hin, und schon im Kindesalter war der immerwährende Wechsel vielleicht das, was man heute unter „Entwurzelung“ verzeichnen würde. Wenn du nirgends wirklich zu Hause bist, dann kannst du es überall sein. Dachte ich lange Zeit.
Die Sehnsucht, irgendwo in weiter Ferne zu verschwinden, war deshalb schon immer da, latent vorhanden. Schon als Kind stand ich in polnischen Masowien auf unserer heimischen Streuobstwiese vor dem Haus und presste die Nase gegen den Zaun, den Blick fest gerichtet auf die Felder dahinter und den rotschwarzen Sonnenuntergang.
Ich sah Lichter in der Ferne blinken und die Lichter erinnerten mich daran, dass da noch mehr ist, irgendwo ist eine zweite Welt. Und ich wollte raus, raus in diese Welt, in dieses Unbekannte. Immerzu sah ich in Richtung Westen, die Sehnsuchtsrichtung schlechthin. Ich wollte raus, in dieses Ferne, Schleierhafte, wofür noch keine Worte in meinem so jungen Kopf existierten.
Was ich da noch nicht wusste: einiger Zeit später sollte ich nach Deutschland auswandern.
Tatsächlich war damals diese Apfelbaumwiese in Polen das, was mir einem Begriff von Heimat am nächsten kam. Das Haus meiner Großeltern, der Apfelgarten, der goldenen Sonnenschein, der Sommer, in dem es so viele Kirschen gab. Der Kirschsommer. Der Geruch dieses Hauses und alles, was darin gewesen ist. Wie ich meiner Oma beim Einmachen der sauren Gurken in Gläser zuschaute. Wie ich bei der Feldarbeit half. Mit den Nachbarskindern spielte.
Das alles, dort auf dem Land, das war Heimat, doch das hielt nur eine kurze Zeit an.
Später, schon in Deutschland, hörten die Umzüge nicht auf, der Wohnortwechsel ging weiter, quer über die Bergstraße. Als ich dann die erste eigene Wohnung hatte, blieb ich ab da in Mannheim hängen. Ja, die Sehnsucht nach der weiten Welt blieb, aber ich sehnte mich nach festen Strukturen. Ich zog in Mannheim noch ein paar Mal um.
Meine Geschichte in Deutschland zog sich auf klassischen Wegen fort: Schule, Ausbildung, erster Job, Hochzeit, neue gemeinsame Wohnung. Da ist Klein-Kasia schon sechsundzwanzig. Und noch immer ist das Reisen, geschweige denn die Langzeitreise, kein Thema.
Warum ich euch das erzähle und was hat das Ganze mit dem Thema Ausbrechen zu tun?
Nur Geduld, denn jetzt wird es spannend.
Was ich bei meiner ganzen Kleinmädchen- Lebensplanung nicht berücksichtigt habe – was wohl keiner der Beteiligten berücksichtigt hatte – circa ein Jahr später ist etwas mit mir passiert. Etwas in mir hatte sich verändert. Und all die Dinge, die mir bisher so wichtig erschienen, die wollte ich plötzlich nicht mehr. Es kam die Scheidung, ich schnitt meine langen Haare ab, färbte sie knallrot, machte den Motorradführerschein und düste durch die Gegend. Mit 28 begann das, was man entfernt Reisen nennen kann. Ein Trip mit einer Freundin nach Florenz und Marmaris, diverse Kurztrips innerhalb Deutschland. Ich weiß nicht, was mich gepackt hatte.
Die „Krankheit“ breitete sich wie ein Grippevirus immer weiter aus. Auf Arbeit fiel mir die Decke auf dem Kopf. Ich fühlte mich gefangen in meinem Apothekenjob, der sich regelmäßig bis in die Wochenenden und die Freizeit erstreckte.
Ich habe insgesamt zehn Jahre in einer öffentlichen Apotheke gearbeitet. Zehn Jahre in den gleichen Gemäuern, in derselben Stadt. Wenn ich am Wochenende einkaufen ging, kannten mich beinahe alle Menschen auf den Straßen von Neckarau – und ich kannte sie auch. Was einerseits ein gutes Gefühl vermittelte, doch auf der anderen Seite auch bestens zeigt, wie alteingesessen ich eigentlich schon war.
Tagein, tagaus gefangen in geschlossenen Räumen, die ich nur verließ, wenn es Medikamente auszuliefern gab. Regnete es draußen? Schien die Sonne? Keine Ahnung, denn das bekam ich kaum mit. Mein Leben bestand fast nur aus den Wochenenden und den Gedanken daran, wo ich am Wochenende hin fahren könnte. Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben an mir vorbei zieht.
Und dann kam der Punkt, an dem es brenzlich wurde. Ich war eine Getriebene, hin und her gerissen zwischen daheim bleiben wollen und weg müssen. Das Gefühl, weg zu müssen, war übermächtig, ich hielt es nicht mehr aus.
Ich versuchte, mir Freiräume zu schaffen, doch so richtig alleine zu verreisen, das kam erst viel später, als ich Stefan kennenlernte. Er zeigte mir, dass es nicht ungewöhnlich und auch nicht seltsam ist, sich alleine in ein Restaurant zu setzen. Dass man durchaus auch Essen und Wein bestellen und an beiden herummänkeln kann, auch wenn man ohne Begleitung da sitzt. Dass es nicht zwangsläufig der Katzentisch neben den Toiletten sein muss und dass man das Selbstbewusstsein haben sollte, sich nicht infrage zu stellen. Das alles zeigte er mir ganz ohne Worte, in dem er es mir vorlebte. Und das war wohl der Moment, in dem ich anfing, auch solo zu verreisen.
Das war die Zeit, in der ich anfing, das Internet zu durchstöbern. In der ich wohl zum ersten Mal die Begriffe Frau, Reise, alleine in den Google eingab. Und auf den Blog von Carina von Pink Compass stieß.
Carina ist eine Institution, wenn es darum geht, dich zu einer Reise zu motivieren. Sie hat mich unglaublich stark inspiriert. Ihr Blog ist durchweg positiv und gibt Mut, macht dich glauben, dass du das schaffen kannst. Sie war wie ich. Sie war Krankenschwester und hielt es irgendwann einfach nicht mehr aus. Und zu bleiben war keine Option – für keine von uns beiden. Und sie hatte es geschafft, sie sparte Geld zusammen, brach aus und kehrte nie wieder in ihr altes Leben zurück. Ich wollte so sein wie sie.
Ich stand so kurz davor, zu schmeißen, meine Tasche zu packen und in die Welt zu gehen, ich habe hin und her gerechnet und mir Strategien überlegt. Ich hatte sogar schon meine Wohnung gekündigt und bin bei meinen Partner eingezogen, um später weniger zu haben; weniger Hausrat, den ich verkaufen müsste, weniger Dinge zu erledigen.
Doch um alle Zelte abzubrechen, dazu war ich noch nicht bereit. Der erste Schritt war für mich, mir einen besser bezahlten Job zu suchen, Geld auf die Seite zu legen und einen Lageplan zu erstellen. Und irgendwann – irgendwann würde ich anfangen, um die Welt zu ziehen.
Ich recherchierte weiter. In diversen anderen Foren sah ich glänzend und glücklich die Lebensentwürfe derer, die es geschafft haben. Ich las Begriffe wie das Hamsterrad und wie man am besten daraus ausbrechen könnte (sollte?). Wenn ich es schaffe, Arbeit und Reisen zu verbinden, dann kannst du es auch! – schallte es mir um die Ohren. Unbegrenzt frei sein… von unterwegs arbeiten… die schönsten Flecken Erde sehen… und die obligatorischen Aufnahmen der Blogger am Strand mit ihrem Laptop auf dem Schoss. Ich stand in den Startlöchern und scharrte mit den Hufen; ich war soweit.
Doch dann kam es anders.
Wer jetzt denkt, es sei die neue Liebe, die mich zum Bleiben bewegt hat, ist leider auf dem Holzweg ? Mit Stefan waren wir bereits am Überlegen, wie oft im Jahr ich zurück nach Deutschland käme und wann in seiner Urlaubszeit er mich an verschiedenen Orten in der Welt besuchen würde. Hier also bekam ich keine Fesseln angelegt. Wenn ich genauer darüber nachdenke, bekam ich überhaupt keine Fesseln angelegt.
Nein, was dann kam, war der neuer Job.
Denn aus der Apotheke musste ich raus, egal wie. Und so bewarb ich mich in der pharmazeutischen Industrie. Wie sich herausstellte, war das genau die Veränderung, die ich brauchte. Aus einer kleinen PTA, die nur an Ort und Stelle hockte, wurde eine Pharmareferentin, die mit dem Auto umherzog. Ach, was war ich begeistert.
Plötzlich hatte ich das, wovon ich immer geträumt habe: ein gewisses Grad an Freiheit und Selbständigkeit, eine freie Zeiteinteilung und Eigenverantwortung. Ich konnte mein Gebiet (unter bestimmten Vorgaben) selbst verwalten und organisieren. Ich war beruflich in den schönsten Gegenden Deutschlands unterwegs, von Ort zu Ort, von Kunden zum Kunden in einer wundervollen Umgebung, und das nannte sich auch noch Arbeit.
Plötzlich öffnete sich die Welt vor mir – zumindest öffnete sich Deutschland. Plötzlich sah ich, welche Vielfalt unser Land zu bieten hat. Was will man mehr? Ich war im siebten Himmel.
Die meiste Zeit bin in im Südwesten Deutschlands unterwegs, doch im Rahmen unserer Tagungen lernte ich auch den Südosten (Raum Würzburg) und den Norden (Raum Hannover/Hamburg) kennen. Die Welt öffnete sich – und ich sah, was alles möglich war.
Und siehe da, plötzlich war das Ausreißen aus dem Alltag so gar kein Thema mehr. Plötzlich war es okay, einem „normalen“ Job nachzugehen, nach Hause zu kommen und einen Ort zu haben, an dem man sich heimisch kann. Nachdem ich in der Wochen so viel und so lange mit dem Auto unterwegs bin, habe ich gar nicht mehr das Bedürfnis, jedes Wochenende „auszubrechen“, ich muss nicht irgendwohin, ich bin froh, wenn ich mal zu Hause bin. Das ist wohl die Nachwirkung eines Lebens als Vertreter.
Mein Wunsch, aus den festen Strukturen auszubrechen, der wurde kleiner und kleiner. Denn das Zuhause und die Routine dort geben mit Stabilität und mein Job gibt mir das, was ich brauche, Abwechselung, die Möglichkeit, in gewissen Rahmen (Deutschland) zu reisen und die Form von Eigenständigkeit, die gut tut.
Wäre ich nicht in den Außendienst gegangen, dann hätte ich den Schritt vermutlich gewagt. Ich wäre aufgestanden, hätte meine Sachen gepackt, mein Erspartes vom Konto geräumt und wäre in den nächsten Zug nach Nirgendwo gestiegen. Mein Leben befand sich auf dem Scheideweg. Vielleicht hätte ich das Abenteuer meines Lebens erlebt, wer weiß das schon. In dieser Zeit hätte alles passieren können.
Doch es kam anders, denn das Kind, das immer wieder umzog und sich an eine neue Umgebung anpassen musste; das Kind wollte auch feste Strukturen und Sicherheit haben.
Nein, ich muss nicht mehr weg. Nicht mehr für immer. So habe ich, wenn auch unerwartet, das bekommen, was ich mir von einer Dauerreise um die Welt erhoffte – ein großes Stück Freiheit, ohne die Sicherheit einer Heimat und einer Festeinstellung aufgeben zu müssen.
Also blieb ich.
Weitere persönliche Einblicke gibt es im Artikel „Was von der Heimat blieb – eine Hommage an die Kindheit“ in dem ich meine Erinnerungen an Heimat und meine Kindheit in Polen beschreibe.
Lies auch: „Von Menschen, Bäumen und Hügeln – und warum Reisende ein Zuhause brauchen“
[…] (Auch interessant: „Wie ich ausbrechen wollte – und doch zu Hause blieb“) […]