„Ist was da?“ Fragt mich Stefan. Ich taste abermals im Dunkeln mit der Hand den Zeitungskasten nach einem Schlüsselbund ab. Vergebens. Es ist spät am Abend. Irgendwo bellt ein Hund, und über uns leuchtet ein Milliarden-Sternenhimmel.
Pension „Holl und Boll“
Wir stehen vor einem Mehrfamilienhaus und warten, doch drinnen regt sich nichts. Eigentlich sollte sich der Schlüssel für unsere gebuchte Pension in einem Umschlag im oder am Briefkasten befinden, doch scheinbar hat man uns vergessen. Stefan zückt sein Handy und ruft die Vermieterin an.
Augenblicke später erscheint sie, wie ein mittelalterlicher Geist lediglich mit einem Nachthemd bekleidet, das hell in der Nacht leuchtet. „So habe ich auch noch keinen begrüßt.“ Sagt sie lachend. „Ich habe mit niemanden mehr gerechnet.“ Ich murmele etwas von Stau bei der Anfahrt. Die Fahrt ins lange Wochenende war nicht ohne, gefühlt wollten alle an diesem Abend los und die Autobahnen waren voll.
Unsere Pension Holl und Boll liegt am Rande der Stadt, wobei „am Rande“ ist noch zu viel gesagt, denn eigentlich ist das Holl und Boll genau am Waldrand gelegen. Jenseits von Gut und Böse, und so wirkt es auch, als die Temperaturanzeige im Auto immer weiter sinkt, je mehr wir uns unserem Bestimmungsort nähern. Im verwunschenen Harz bleibt sie dann bei -1 Grad stehen.
„Wir sind bei 13 Grad Celsius in Mannheim losgefahren.“ Sage ich zu Stefan. „Wir sind echt verwöhnt da oben im Süden.“
Der Name der Pension „Holl und Boll“ ist ungewöhnlich, aber einfach zu erklären: das Anwesen wurde nach den beiden Hunden benannt, die wir gestern in der Nacht gehört hatten. Holl und Boll. Irgendwie sympathisch.
Zunächst machen wir es uns in unserem Domizil auf Zeit gemütlich. Die Pension ist riesig. Selten hatte ich so viel Platz für so wenig Geld – eine Übernachtung kostet rund 60 Euro pro Person. Dafür bekommt der Gast ein großes Wohnzimmer, ein großes Schlafzimmer, einen Flur, ein separates Bad – eine schöne, kleine Wohnung, gemütlich eingerichtet – mit einem Balkon, auf dem man Fußball spielen könnte, wenn man denn wollte. Ich öffne gleich mal eine Flasche Rotwein.
Klirrende Kälte und Milliarden Sterne. So ein klarer Himmel, dass ich ihn selbst mit dem Handy einfangen kann. Ich stehe draußen und friere mir einen ab, während ich versuche, meine Kamera ruhig zu halten. Ein Stativ habe ich nicht dabei.
Am nächsten Morgen…
Mit dem ersten Hahnenschrei aufwachen, dieser Spruch hat hier noch Bedeutung, denke ich mir, als ich gegen halb sechs das erste Mal die Augen öffne. Es wird hell draußen und der Hahn lässt keinen Zweifel daran, dass der Tag bereits begonnen hat.
Jenseits von Gut und Böse, so fühle ich mich auch, als ich aus dem Fenster schaue. Oder auch: am Ende der Welt, obwohl es gar nicht so ist, denn das wirkliche Ende der Welt liegt vermutlich irgendwo in weiter Ferne, in der kargen, steinigen Wüste Nordafrikas oder in der Savanne, wo nur noch klägliche Überreste der Zivilisation zu finden sind. Doch der nebelumwobene Harz kann stellenweise eine solche Wirkung ebenso entfalten. Hier gibt es nicht viel, zumindest nicht viel von dem, was ich so gewohnt bin. Der Hahn kräht noch immer, und irgendwo schnattern Gänse.
Und noch etwas hat sich verändert draußen vor dem Fenster. Als wir gestern in der Nacht ankamen, fiel es uns nicht auf, doch nun stehen wir fassungslos vor der trockenen, nackten Landschaft. Als wir gestern im Süden losfuhren, zierte die Gegend um Mannheim der schönste Indian Summern, goldene, leuchtend gelbe Blätter, blutroter Weinlaub, die Weinreben schillerten in den schönsten Herbstfarben auf den Hügeln der Pfalz. Weinfestle dort, Federweißer da – noch lange würde es dauern, bis der Winter seinen endgültigen Einzug hält.
Und hier ist er bereits da. Kaum noch ein Blatt hängt an den Bäumen, kaum noch Grün auf dem Feld – die Landschaft ist karg und trocken und grau. Und es ist knackig kalt, den Boden bedeckt eine flirrend weiße Schicht Raureif.
Hier, auf diesem Zipfel unterscheidet sich das Wetter oft von den Orten im Umkreis. Manchmal ist der Hügel eingeschneit oder es schüttet, während es zwei Kilometer weiter in Clausthal bereits ganz anders aussieht, erzählt uns die Vermieterin und berichtet, wie sie sich einmal den kompletten Weg zum Auto freischaufeln mussten.
Die Stabkirche in Hahnenklee
Die mit eigentlichen Namen Gustav-Adolf-Stabkirche in Hahnenklee, einem Ortsteil von Goslar, wurde 1908 nach norwegischem Vorbild erbaut. Als wir dort ankommen, haben sich graue Wolken über das Land gelegt und der kalte Wind dringt in jeden Zipfel der Kleidung. Was ich noch nicht weiß, ist, dass eine der berüchtigten, verheerenden Männergrippen an diesem kalten Tag beginnen wird…
Der trockene, warme Duft nach Holz. Der gesamte Kirchenschiff ist mit Holz verkleidet. Es riecht nach Holz, nach Wald und die Ausstattung wie die hölzernen Drachenköpfe soll an Wikinger Schiffe erinnern. Auf einer Tafel vor dem Eingang wird um Spenden zum Erhalt der Kirche gebeten.
Das Innere der Kirche ist dezent erleuchtet und wirkt bezaubernd. Die Kirche steckt voller Details und lässt man sich etwas Zeit, findet man immer neue. Bunte Glasfenster mit Swastika und keltischen Knoten, vorchristliche Glückssymbole, die heute wohl so nicht mehr durchgehen würden. Vor allem die Swastika nicht. Ein altes, buddhistisches Zeichen wurde pervertiert und kann sich – zumindest hier in Deutschland – nirgendwo mehr sehen lassen.
Wir haben das Glück, die ersten zehn Minuten fast alleine drin zu sein, setzen uns in eine der Bankreihen und bewundern die holzgeschnitzten Figuren, die Decke und die Seitenübergänge. Doch schon bald ist es mit der beschaulichen, fast weihnachtlichen Ruhe und Besinnlichkeit vorbei, denn die Kirchentür öffnet sich und ein Strom alter Leute ergießt sich ununterbrochen nach drinnen. Jemand sagt etwas von zwei Reisebussen, die gerade angekommen seien, und wir flüchten auf dem schnellsten Wege nach draußen – das heißt, wir versuchen es, denn von dem goldenen Vorsatz, erst die Menschen nach draußen zu lassen, hält die grauhaarige Delegation nicht viel.
Ein Lost Place
Ebenfalls in Hahnenklee, gegenüber der Stabkirche, befindet sich dieses Haus. Hier bleibe ich sofort hängen. Die Aufmachung lässt zunächst an eine Pension denken, doch handelt es sich um eine Geisterpension, denn die Scheiben sind verstaubt und trüb, die Türen sind verschlossen und ein Schild weist das Grundstück als zu vermieten aus.
Doch innen hängen erstaunlicherweise noch Gardinen an den Fenstern, stehen kleine, süße Lampen auf den Fensterbänken… Der Vorgarten sieht aus wie ein kleiner Wald aus jungen Bäumen und selbst im vermeintlichen Wohnzimmer wuchert ein Baum.
Mir tut es in der Seele weh um das schöne Haus; solcher Orte finden sich im Harz viele, Orte, die aus welchen Gründen auch immer aufgegeben wurden und vor sich hin modern. Mit Sicherheit hätte ein Lost-Places Liebhaber seine helle Freude daran, hier zu stöbern und zu entdecken, doch manchmal sind es erhaltenswerte Gebäude, die zerfallen – so wie dieses hier.
Trotz Recherche kann ich zu Hause nichts näheres zu diesem Objekt herausfinden, wenn jemand einen Tipp hat, dann schreibt es gerne in die Kommentare… ?
Die Oberharzer Teiche
Doch noch verlassen wir den Ort nicht. Auch bei Hahnenklee befinden sich kleinere und größere Teiche.
Die Kranicher Teiche wurden schon im 17 Jahrhundert von Bergleuten angelegt. Schaut man genauer hin, stellt man fest, dass es sich um eine Aneinanderreihung an Wasserflächen handelt, die lediglich von Deichen getrennt sind. Sie dienten zur Wasserspeicherung und um Wasserräder anzutreiben.
Das Harzer Gebiet ist von Wasser durchzogen, größere und kleinere Wasseraugen lassen die Satelitenkarte wie eine blau gepunktete Torte aussehen. Viele dieser Teiche sind infolge von Bergbau entstanden und dienen noch heute als Wasserspeicher.
Viele der kleineren Teiche wurden bereits im Mittelalter angelegt, doch mit der Zeit wurden immer größere Wasserflächen gegraben. Die Deiche dienen dem Hochwasserschutz. Mit dem aufkommenden Bergbau gewannen die Teiche eine weitere Rolle, mit der Wasserenergie wurden die Anlagen wie Transport, Zerkleinerungsanlagen, Spülen des Gesteins usw. angetrieben. Oft wurden die Teiche daher so weit oben im Gebirge angelegt wie es nur irgend möglich war.
Die meisten der Oberharzer Teiche wurden um Clausthal-Zellerfeld und Hahnenklee angelegt. Noch heute sind sie als Wasserreservoirs von Bedeutung, ebenso dienen sie dem Schutz von Hochwasser. Sie machen die Landschaft einzigartig und zeugen als UNESCO-Kulturdenkmal von einer vergangenen Bergbau-Ära.
Ich gönne mir einen langen Spaziergang an den Deichen entlang. „Es zieht wie Hechtsuppe“, hätte Stefan gesagt. Er indessen bleibt im Auto und wartet auf mich. Ja, das Wetter verwöhnt nicht – kahle Äste und brauner, trockener Schilf wiegen sich im Wind. Nur rote Beeren, wohl das einzige Überbleibsel des Herbstes, leuchten kräftig am Rande des Gewässers. Ich passiere andere Spaziergänger, Menschen, die ebenso frieren wie ich. Ach wie gut fühlt sich danach das warme Auto an…
Die blaue Kirche in Clausthal
Die Planen und Gerüste, die schon von Weitem sichtbar die Kirche umstellen, verheißen nichts Gutes. Dieses wundervolle, himmelblaue Objekt wird gerade restauriert und wir sind uns fast sicher, vor verschlossener Tür stehen zu müssen. So umkreisen wir die Marktkirche zum Heiligen Geist bei Nieselregen, bis Stefan mich schließlich heran winkt. Geduldig wartet er, bis ich bei ihm bin und sagt mir dann: hier kann man rein. Eine Seitentür ist geöffnet.
So leise wie möglich schleichen wir die enge, hölzerne Treppe, die sich hinauf windet. Es knarzt und und unsere Schritte schallen dumpf im leeren Raum. Oben angekommen öffnen wir langsam die Tür. Eine weißhaarige Dame steht vor uns. „Es muss unheimlich für Sie sein, so ganz alleine hier oben, während plötzlich wie von Geisterhand die Tür aufgeht.“ Sage ich. Doch sie hatte uns gehört – die knarzende Treppe. Sie verwaltet hier oben alles und kümmert sich um die wenigen Besucher, die sich von den Restaurierungsarbeiten nicht abschrecken lassen.
„Sie können das Kirchenschiff heute nur von oben sehen.“ Sagt sie. Durch eine verglaste Front lässt sich ein Blick auf das Innere der Kirche werfen. Die Bänke sind nicht mehr da, ebenso die Inneneinrichtung – alles in Sicherheit gebracht, ehe Tabularasa gemacht wurde.
Die Verkleidung, erzählt sie uns, wird wieder herausgerissen, da das Holz darunter nicht atmen konnte und mit der Zeit zu verfallen begann. In Zukunft würde die alte Bausubstanz, schön herausgeputzt, zu sehen sein.
Als ich den Blick schweifen lasse, kann ich erahnen, wie schön die Kirche gewesen sein muss. Die mit geschnitztem, weißen Holz gestalteten oberen Gänge, der von einer Plane verdeckter Altar, von dem wir nur noch eine Fotografie zu sehen bekommen. Die Dame macht uns auf Nummern im Holz an der Kirchenwand aufmerksam. „Die wohlhabenden Kirchenbesucher haben sich früher ihre festen Plätze erkauft.“ Sagt sie und ich muss an die VIP-Lounges bei den Spielen der Adler denken. „Wie lange werden die Arbeite noch dauern?“ Fragt Stefan. Der Plan ist es, alles bis 2021 fertig zu stellen.
Unten an der Treppe hören wir wieder Schritte. Es scheinen sich noch weitere Besucher hierher verirrt zu haben, doch dann wird es wieder still. Als ich die Tür öffne und nach unten schaue, sehe ich eine Gruppe Männer, die unschlüssig und reglos da stehen. Sie wollten sich bereits zum Gehen wenden. „Kann man denn da rauf?“ Fragt einer. „Ja, klar.“ Antworte ich. „So viel gibt es im Moment nicht zu sehen, doch ihr könnt einen Blick von oben auf die Baustelle werfen…“
Clausthal-Zellerfeld – Der Bergbauort
Schieferbedeckte Häuser, schiefe Hexenhäuser, es ist jedes Mal eine besondere Atmosphäre, die den Harz umgibt, weshalb er auch zu meinen Lieblingsregionen in Deutschland zählt. Hexen-Häuschen, Lost Places. Verlassene Hotels und Anlagen, für die kein Geld da ist, sie zu renovieren, zwischen den Gemäuern und dem Verfall wuchern kleinere Bäume, staut sich die Vegetation. Bunte Türen, bunte Holztüren mit verschiedenen Mustern, Sternen usw. Ähnlich wie in Dänemark oder Norwegen, irgendwie erinnern die Häuser an Norwegen.
Erwähnenswert ist sicher die TU in Clausthal; die Technische Universität. In der ganzen Stadt begegnen uns Studenten aus aller Herren Länder, die ich anfangs fälschlicherweise für Flüchtlinge halte. Doch ein Platz an der Uni ist international heiß begehrt; Bergbau, Energie-, Kunststoff- und Geotechnik sind nur einige der Fachausrichtungen, die man hier studieren kann. Das Forschungszentrum COPES dient dem Austausch für Wissenschaftler aus aller Welt, unter anderem auf Gebieten wie Maschinen-, Umweltschutz- und Verfahrenstechnik.
Das Wetter verwöhnt uns nicht, so dass wir schon am frühen Nachmittag nach einem leckeren Stück Kuchen in einer der örtlichen Bäckereien den Rückzug antreten. Die schweren Wolken sind noch schwerer geworden und die Trübnis hatte sich zu einem Dauernieseln entwickelt. Die Temperatur stieg von -1 auf +3 Grad, doch es ist kaum ein Unterschied spürbar…
So verwerfen wir unsere weiteren Pläne für diesen Tag und machen uns auf den Rückweg zurück zur Pension, um uns dort von einer weißen Schar Hausgänse einmal quer über die Auffahrt jagen zu lassen. Mit gestreckten, langen Hälsen und unter lauten Flügelschlägen setzen uns die Viecher nach, ganz so, als wüssten sie nicht, wer hier eigentlich an der Spitze der Nahrungskette steht…
Stefan versucht noch kurz, sich zu behaupten, doch wohl eher, um den Rest von Würde zu wahren. Ich hingegen lasse all meinen Stolz vor der Tür und laufe, was das Zeug hält. Bald ist Weihnachten, bald werdet ihr in einem Kochtopf landen, denke ich mir rachsüchtig.
Der Rest des Abends gehört der warmen, kuscheligen Couch. Genau das Richtige, um eine ganz, ganz schlimme Männergrippe auszukurieren…