Karlsruhe, 25 Juni 2017
Nordbadisches Steampunk-Picknick
Ich beobachte den beleibten Edelmann, selbst hinter einem Baum verborgen. Eine Maske aus Leder, verziert mit Bronze-Nieten, schmückt die Hälfte seines leicht geröteten Gesichts. Zurückgelehnt sitzt er da und beobachtet das Treiben um ihn herum. Vorsichtig hebe ich meine Kamera, behutsam darauf achtend, selbst unentdeckt zu bleiben – wie bei einem scheuen, bunten Paradiesvogel, bei dem man Angst hat, dass er sogleich wieder davonfliegt. Ich drücke den Auslöser, das Bild ist im Kasten – doch als ich den Sucher runternehme und wieder nach oben schaue, ist sein Gesicht in meine Richtung gewandt. Seine kleinen, blauen Augen sehen mich unverwandt an. Ich bin aufgeflogen; ich gebe meine Deckung auf und trete näher.
Die Frauen tanzen, sie drehen sich im Kreis, heben die Hände nach oben und wirbeln herum. Aus den Lautsprechern schallt punkig-rockige Musik; ihre langen, wallenden Röcke wirbeln mit. Alle Augen sind auf sie gerichtet, Kameras werden in die Höhe gehalten. Und die Frauen genießen ihr Tun. Im Kreis ich mich drehe, im Kreis ich mich drehe… Sie lachen einander zu, ein echtes Lachen der Freude. Und dann stehen sie atemlos da, die Klänge der Musik werden leiser und verstummen. Doch nach den lauten Zugabe-Rufen der Zuschauer erklingt die Musik nochmal.
Als ich mich dem Karlsruher Schlossgarten nähere, befürchte ich schon fast, die Veranstaltung wäre abgeblasen worden. Vergeblich halte ich Ausschau nach den Massen kunstvoll bekleidete Menschen, die in ihren Gewändern der viktorianischen Zeit entgegen schweben. Doch da ist nichts; ein paar Spaziergänger, ein paar Radfahrer, das wars.
Denn vielleicht hätte ich keine Massen erwarten sollen. Steampunk ist ein Trend, der sich gerade erst zu entwickeln beginnt. Die Faszination für die viktorianische Zeit – der Kernpunkt der ganzen Bewegung – scheint erst in den letzten zwei- bis drei Jahren ein breiteres Publikum erreicht zu haben. Die Fangemeinde wächst, und für mich ist dieser Stil eine Weiterentwicklung dessen, was uns, meine Freundin und mich, bereits in unserem Teenager Alter so faszinierte; die Weiterentwicklung des Gothic.
Rockige Klänge und Kleidung vorwiegend aus der viktorianischen Zeit, vorrangig in den Farben schwarz bis schwarz, waren damals des Gothic Kennzeichen, zudem kam die Faszination für den Tod und alte Friedhöfe.

Nun, Friedhöfe und das Morbide spielen beim Steampunk keine Rolle mehr, dafür ist der Kleidungsstil umso ausgefallener; die rockigen Klänge sind geblieben. Die Filme Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen, Der Goldene Kompass, Alice im Wunderland mit Jonny Deep, Flucht in die Zukunft, Sky Captain and the World of Tomorrow, Sherlock Holmes und Wild, wild west, um einige zu nennen, enthalten allesamt Elemente des Steampunk.
Eine große blonde Frau fällt mir auf; ihr Hut trägt schmückende Elemente und ihre Locken wippen zu jeder Kopfbewegung. Mit einem Strahlen auf dem Gesicht läuft sie von einer Gruppe zur anderen und begrüßt die Menschen dort. Ich beobachte sie kurz, denn ihre grauen Augen haben für mich etwas vertrautes. Doch ich komme nicht drauf. Bis… „Kasia!“ Mit ausgebreiteten Armen steht die schöne Unbekannte plötzlich vor mir. „Hallo! Na so ein Zufall…“ Ich stehe da, obgleich mir klar ist, dass ich jetzt eigentlich reagieren müsste. Doch dann fällt der Groschen.
Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt, dass es schon lange her ist, seit ich sie zum letzten Mal sah. Wir kennen uns vom Motorradfahren her, von vielen gemeinsamen Gruppenausfahrten, doch hat das resolute Biker-Mädel aus meiner Erinnerung mit der eleganten, blonden Lady, die hier vor mir steht, nicht viel gemein. Ihr kurzes Haar hat sie unter einer lockigen Perücke verborgen und ein langes, wallendes Kleid ziert den Körper, der sonst in der Motorradkluft steckt. Die perfekte Verwandlung. Ich bin begeistert.


Auf meine neugierigen Fragen hin zeigt mir Tina* ihren Hut. Auch der ist, wie so vieles andere, eigenhändig designt. „Hier habe ich die Federn gesteckt, hier die Rädchen, dann…“ Fasziniert höre ich zu. Fasziniert nicht deshalb, weil ich vor hätte, mir selbst so einen Hut zu bauen, nein – es ist einfach umwerfend, zu sehen, wieviel Arbeit in alldem hier steckt.
Ich lasse mich auffällig unauffällig inmitten der märchenhaften Gemeinde auf dem Rasen nieder. Außer mir sind noch andere Zuschauer da, viele bleiben stehen und bewundern den Tanz und die abenteuerlichen Kostüme. Es wird fotografiert; mit riesigen Objektiven laufen Fotografen hin und her und machen so ungeniert ihre Aufnahmen, dass ich sie zunächst für Presseleute halte. Doch die Steampunk-Gemeinschaft scheint das nicht zu stören, im Gegenteil gewinne ich sehr schnell den Eindruck, die Menschen wollen fotografiert und bewundert werden.
So mache auch ich meine Bilder, doch fühle ich mich dennoch gehemmt dabei. Die Kostüme sind fantastisch, der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Damen mit abenteuerlichen Hüten, Herren in Frack und Zylinder, viele liebevoll gestaltete Details. Steampunk-Fans machen ihre Kostüme selber. Das Individuelle steht hier im Vordergrund, niemand möchte ein Fähnchen von der Stange. So trägt eine der Damen ein Segelschiff auf ihrem Hut, eine andere kombiniert ihr helles Kleid mit einer Safari-Kopfbedeckung. Drei Damen in Spitzenkleidern sitzen auf dem Rasen und tippen auf den Bildschirmen ihrer originalgetreuen Nachbauten der viktorianischen Mobiltelefone *hüstel*. Spitzen-Schirmchen werden in der Hand gehalten, Fächer werden geschwungen, ein kleiner Pinscher schleicht in einer selbst genähten, reich verzierten Weste zwischen den Picknickenden herum.
Auch ich schleiche herum und fotografiere die Gäste, nicht so unverblümt wie die vermeintlichen Reporter, aber dennoch fühle ich mich komisch dabei. Dann entdecke ich den beleibten Edelmann, der entspannt in seinem Campingstuhl sitzt. Ich überlege, überlege, hebe dann die Kamera. Doch im selben Moment hat er mich gesehen. Ich verlasse meinen Platz unter dem Baum und gehe auf ihn zu.
„Sagen Sie mal, wie ist es denn hier mit dem Fotografieren?“ Frage ich ihn. Fotografieren sei kein Thema, erklärt er mir, die meisten freuen sich darüber. Außer man erwischt sie gerade beim Essen, das möchte niemand, aber das ist klar. Ob ich denn ein Bild von ihm machen möchte?
„So viele Menschen sind es hier aber nicht?“ Frage ich, um ein bisschen Konversation zu führen. Steampunk ist ein Trend, der wächst und wächst, erfahre ich von ihm. Angefangen hat er damit vor fünf Jahren, damals waren die Treffen noch wesentlich kleiner, erklärt er. Auch letztes Jahr sind noch nicht so viele Teilnehmer dabei gewesen. Die meisten schneidern ihre Kostüme selber. Auch er selbst hat klein angefangen, dann seine Bekleidung nach und nach verziert, schmückende Elemente hinzugefügt. Er zeigt mir stolz seine Hand- und Beinstulpen.
„Die meisten Frauen, die hier sind, haben ihre Kleider selbst entworfen. Und sehen Sie diesen Mann da?“ Er zeigt nach rechts, wo ein Mann mit gekräuseltem, weißen Schnurrbart seinen Kilt spazieren trägt. „Er ist vom Beruf Kilt-Macher und kommt extra aus der Schweiz angereist.
„Kommen die Menschen von weit her?“ – Will ich wissen. Ja und nein, sagt er; die meisten seien aus Deutschland. Er will von mir wissen, ob mir Steampunk und die viktorianische Zeit etwas sagen; ich nicke fleißig. Sicher nicht so viel wie dir, denke ich mir im Geheimen…
Wir verabschieden uns und ich bleibe noch eine Weile auf dem Rasen sitzen und betrachte das wahrlich bunte Treiben. Doch wirklich viel gibt es für mich hier nicht mehr zu tun, ich habe alles gesehen und meine Bilder gemacht, also stehe ich auf und gehe zu Tina* hin, um mich zu verabschieden. „Sag mal, kann ich noch ein Bild von dir machen, bevor ich gehe?“ Frage ich sie und ihre Augen erstrahlen. „Aber ja doch, natürlich!“ Sie steht auf und bringt sich in Pose. „Dafür machen wir das alles ja…“
* Namen geändert