Es ist ein Traum. Ein Flughafengelände, außen, laut und hektisch. Die Skyline von London City. Ich, wie ich mit tausend Informationen in Form einer überdimensionalen Faltkarte in meinen Händen versuche, die Fragezeichen in meinem Kopf zu bekämpfen. „So finden Sie in London eine Wohnung.“ „Informationen für Mieter.“ „London Stadtverkehr.“ „Was Sie beim Immobilienkauf beachten müssen.“
Ich versuche, mein Auto durch den Verkehr zu steuern. Fahre an einer Ampel an, dann um die Kurve, die Kurve geht steil runter. Und ich überschlage mich, obwohl ich die Spur treffe, so als sei es ein Fahrrad und das Rad stünde im falschen Winkel zur Fahrbahn.
Noch ehe ich auffache, überlege ich fieberhaft, was all diese Insider-Informationen für London sollen. Was sie für mich bedeuten sollen. Es sind keine Tipps dafür, was man sich hier am besten anguckt oder wo es die leckersten Cocktails gibt (obwohl: das wäre auch nicht zu verachten…). Ziemlich schnell jedoch begreife ich es: die Infos sind für mich, ganz und gar für mich persönlich gedacht. Ich werde in London leben.
Traum aus, Wirklichkeit an. Je wacher ich bin, umso irrsinniger erscheint mir der Gedanke. Was sich im Traum wie eine Prophezeiung, wie ein Schicksal, eine Bestimmung anfühlte, lässt mich jetzt müde lächeln. Neein… Ich, London? Neein… Und auch wenn ich die Stadt toll finde, und auch wenn jemand neulich gesagt hat, dass der Pfund ziemlich fallen und somit alles günstiger wird, so ist mir das noch nicht einleuchtend genug, mich in diesen unsicheren Zeiten auf die Insel zu begeben, Immobilien zu mieten, geschweige denn zu kaufen. Die vielen Obdachlosen kommen mir wieder in den Sinn. Die Existenz hier, zu unsicher, nein, ich schüttle unwillkürlich den Kopf. Mein Leben müsste sich schon gravierend verändert haben, würde man mich hier zwischen den altehrwürdigen Gemäuern nach Marry Poppins Art mit Hut und Schirmchen herumspazieren sehen.
Ich hatte Janine Bilder von Eichhörnchen versprochen. Bilder, auf denen sie die zutraulichen Tierchen mit der Hand füttert. Jetzt ist uns wohl klar, dass das Füttern dieser Tiere in Parks (und vermutlich auch sonstwo) nicht erlaubt ist und wir wollen auch nicht inflationär mit Erdnüssen um uns werfen; nein, einfach nur zwei- bis drei Nüsschen, bloß für die Bilder ihres Lebens 😉 Daher machen wir uns auf in den Hyde Park, den größten (und vielleicht bekanntesten, aber bestimmt nicht den schönsten) Park in London.
An der Metro-Station decken wir uns, wie jeden Morgen, mit diesen tollen Fressalien ein, die, frisch zubereitet und schön einzeln eingepackt, zu günstigen Preisen auf uns warten. Niemand erwartet hier von einer berufstätigen Person, zu Hause kochen zu müssen – am besten noch gesund und frisch – egal, wie müde man ist; diese Erwartungshaltung, Köchin oder Hausfrau zu sein, gibt es hier glücklicherweise nicht. Vermutlich bräuchte man nicht einmal eine Küche, denn das Essen ist jeden Tag frisch und gesund, mit Nährstoffwerten pro abgepackte Portion versehen. Sogar warm machen kann man sich alles noch im Laden, eine Mikrowelle steht direkt an der Kasse. Und die Kaffeemaschine nebendran. Das Einzige, was bleibt, ist wohl das Müllproblem.
Ich frage mich abermals, wie sie auf der Insel das Müllproblem bewältigen, denn all die Instant-Produkte verursachen doch sehr viel Verpackungsmüll. So dankbar ich auch bin – und andere Engländer sicher auch – dass man sich auf die Schnelle so unkompliziert und dazu noch gesund ernähren kann, so tilgt das nicht die Bedenken in meinem Kopf.
Heute merke ich, dass die Frau in Kleid und Turnschuhen vom Vortag wohl doch keine Ausnahme war, vielmehr habe ich den Verdacht, dass die Damen in Sneaker losfahren und die Pamps erst kurz vor der Arbeitsstelle anziehen. Die krasseste Form dieses Schuhtausches war ein Mann im Anzug und mit Aktentasche, der mit Flip Flops zur U-Bahn lief.
Unterwegs geraten wir an einen antiken Flohmarkt, wo in den kühlen, frühen Morgenstunden Verschiedenes angeboten wird, von Schmuck und Steinen über ausgefallene Uhren, Telefone, Kalender und Wandschmuck aus Messing. Das Herz eines jeden Steampunk-Liebhabers würde hier wohl höher schlagen.
Als wir uns die breite, gut ausgebaute Allee gen Buckingham Palast bewegen, kommt eine eskortierte Reiterkolonne auf uns zu. Zwei Wachposten beginnen, auf dem Hof eines Nebengebäudes zu marschieren. Und vor dem Palast selbst ist es heute voll wie immer. Wir lassen den Buckingham Palast heute links liegen (buchstäblich sogar, denn wir laufen links daran vorbei…) und gehen weiter, denn der Hyde Park befindet sich hintendran.
An einem imperialistischen Denkmal rasten wir, im Schatten der heldenhaften Soldaten aus Gusseisen verzehren wir unsere Sandwiches.
Eine im Stein angebrachte Tafel zeigt die Länder an, die die britischen Mächte im Laufe der Zeit kolonialisiert hatten. Die Liste ist lang und sogar scheinbar unberührte Königreiche wie Bhutan gehören dazu. Dass das Englisch eine Weltsprache ist, kommt nicht von ungefähr, schließlich waren die Briten mit Kolonien auf jedem der bewohnten Kontinente die größte Kolonialmacht der Geschichte. Die größte Ausdehnung erreichte das British Empire nach dem ersten Weltkrieg, doch beginnende Aufstände in den Kolonien selbst führten dazu, dass immer mehr von ihnen den Status als „Siedlungskolonien“ mit politischer Selbständigkeit erhielten. Die letzte, 1997 aufgelöste Kolonie war Hong Kong, dessen Übergabe man auch als „The end of Empire“ bezeichnet.
Um seinen Einfluss nicht ganz zu verlieren, gründete Großbritannien das Commonwealth of Nations, ursprünglich mit dem Gedanken, die ehemaligen Kolonien politisch und wirtschaftlich weiterhin an sich zu binden. Die Kolonien durften sich selbst verwalten und wurden von da an als selbstständige, gleichberechtigte Teile des Britischen Reiches gesehen, sofern sie der britischen Krone die Treue versprachen.
Heute sind die Commonwealth of Nations ein lockerer Staatenverbund, der rund 30% der Weltbevölkerung in 53 Ländern umfasst und dessen Aufgabe es heute ist, einen Austausch und gute Beziehungen der Staaten sicherzustellen. Es werden inzwischen auch Staaten aufgenommen, die keine britischen Kolonien waren, wie zum Beispiel Mosambik. Bei einem Gipfeltreffen, das alle zwei Jahre stattfindet, werden politische und wirtschaftliche Themen diskutiert oder Sanktionen verhängt. Großbritannien ist somit eines der wenigen Länder, das zu seinen ehemaligen Kolonien noch heute gute Beziehungen pflegt.
Wir gehen weiter und erreichen den Hyde Park.
Das Parkgelände ist riesig und gut besucht, aber die vielen Besucher verlieren sich darin. Die Parkfläche, die mit den Kensington Gardens größer ist als Monaco, wird durch den Serpentine Lake in zwei geteilt. Am Ufer des Sees laufen wir jetzt eine lange, schattige Allee entlang.
Auf dem Rasen rechts von uns stehen Liegestühle, und diesmal miete ich mir einen solchen für ein einstündiges Päuschen in der Sonne. Meine Freundin bleibt indessen auf einer Bank am Wasser sitzen. Es ist schön, die Sonne kitzelt meine Nase und ab und zu lässt sich eine Schar Tauben nebenan nieder. Wildgänse grasen ein Stückchen weiter zwischen trockenen Blättern und Gras, nur die grauen Hörnchen sehe ich nirgendwo.
Die königlichen Parks bieten viele Möglichkeiten, seine Zeit dort zu verbringen. Rasen betreten ist nicht verboten, so kann man überall im Park picknicken oder einfach in der Sonne sitzen. Auch eine Bootsfahrt über den See ist möglich und der Park besitzt eine eigene Reitbahn, die neben der Allee verläuft. Die Wege sind – für Unachtsame – mit den Schriftzeichen „No cycling“ und „look booth ways“ gekennzeichnet. Wir suchen den Speakers Corner, eine simple Ecke im westlichen Teil des Parks, wo sich jeder, der Lust darauf hat, hinstellen und eine Rede halten kann. Frei nach Schnauze, über alle Themen, die ihm auf dem Herzen brennen. Außer über die königliche Familie. Was irgendwie auch Sinn macht.
Was viele nicht wissen: der Speakers Corner in London ist nicht der einzige dieser Art, auch andere Länder folgten dem Beispiel; so gibt es beispielsweise noch einen Speakers Corner in Auckland in Neuseeland, in den Vereinigten Staaten oder in Singapur. Um nur drei zu benennen.
Janine hält eine Rede. Für den Weltfrieden. Und gegen Idioten, die ihn zu gefährden drohen. I like it.
Und dann findet sich auch noch ein Eichhörnchen zum Füttern und Janine bekommt ihre Bilder. Und ich drehe mit klopfenden Herzen den Kopf hin und her, um einen heraneilenden Parkwächter rechtzeitig auszumachen. Später füttert sie Raben, die laut krähend um sie herum flattern, und ich muss grinsen. Irgendwie passt das gut zu meinem schwarzen Grufti.
Dieses Mal fahren wir mit der Metro nach Hause, denn meine Schuhe bringen mich inzwischen um. Sie sind nicht auf den ersten Blick unbequem, doch nach einigen Stunden sind die Schmerzen mörderisch. So bin ich froh, sie am Nachmittag im Hotel endlich abstreifen zu können.
Und abends – abends treiben wir uns wieder im nächtlichen Soho herum, doch diesmal kaufen wir uns ein paar Drinks aus der Dose in einem bis spät in die Nacht offenen Supermarkt, setzen uns draußen auf der Meile hin und beobachten kichernd die Leute, die an uns vorbei laufen, die todschicken Mädels in ihren knappen Kleidchen, herum stöckelnde Nutten, den extravaganten, schwarzen Mann, der an uns vorbei läuft in seinen pinkenen Jacket und knallig pink gefärbten, lockigen Haaren. Ja, Soho ist irgendwie abgespaced, knallig, passt irgendwie in die heutige Zeit. Je angeheiterter, umso mehr kichern wir vor uns hin und von irgendwoher dringt zu uns der Geruch von Dope. So bleiben wir sitzen, bis wir schließlich müde sind und angeheitert und fröhlich zurück ins Hotel wackeln.