Europa, Großbritannien

London, Tag 5 – Covent Garden und der Schotte auf der Leiter

Diesmal nehmen wir eine andere Route in die Stadt. Anstatt sogleich in Richtung Marylebone abzudriften, geht es diesmal weiter in östliche Richtung. Hier weicht das altehrwürdige London hochgewachsenen Bauten, Banken und Versicherungsgesellschaften. Und in ihren Schatten sitzen wieder einmal Obdachlose auf ihren Decken auf dem Rasen. Eigentlich passen sie nicht in diese Gegend, passen nicht zwischen die schöne Architektur, doch sie sind da, denken nicht daran, sich verbergen zu lassen, ein offensichtliches Sinnbild für all das Ungleichgewicht, welches wir hier in dieser Zeit kennengelernt haben.

Laut einem Artikel der „Welt“ von 2013 sind die Löhne in Großbritannien seit 2010 so stark gesunken wie kaum irgendwo sonst in Europa. Noch lange vor dem Brexit-Referendum begann es, bergab zu gehen; Reformen, die vor allem auf das Sozialsystem abzielen wie die Schlafzimmersteuer oder Steuererhöhungen sowie eine Inflation von 2,8 Prozent machten es vielen schwerer, sich über Wasser zu halten. Viele Firmen können (oder wollen) ihren Arbeitnehmern keine festen Arbeitszeiten mehr garantieren; in den Verträgen wird auf Teilzeit gesetzt oder auf flexible „zero hours“ Vereinbarungen, was soviel heißt wie: wenn Arbeit da ist, wird gearbeitet, wenn keine Arbeit da ist, geht der Angestellte leer aus. Kritische Stimmen bezeichnen London bereits als das neue Armenhaus Europas.

Und heute?

Die Unsicherheit im Bezug auf den gefürchteten Brexit führt dazu, dass Banken ihre Geschäftsaktivitäten ins Ausland auslagern. Man prophezeiht, dass der Pfund fallen wird – für uns Außenstehende steigt also die Aussicht auf günstige Urlaube auf der Insel. Und für die Briten selbst? Das weiß so genau keiner. Fakt aber ist, dass das Elend schon viel früher begonnen hat – und wir jetzt die kaum zu überraschenden, traurigen Folgen davon an jeder Straßenecke und in jedem Park zu sehen bekommen.

Wir konzentrieren uns auf die Architektur. Auf die schönen Dinge in London. Knipsen den Empathie-Schalter in uns aus und laufen weiter zum Zentrum.

Der Markt liegt etwas verborgen. Wir biegen ein paar mal ab, ehe wir da sind. Durchqueren ein ruhiges, alternativ angehauchtes Viertel, wo die Wohnhäuser (roter Backstein, typisch London) von einem dichten Geflecht aus rankenden Pflanzen durchzogen sind. In einem kleinen Vorgarten stehen Skulpturen, ein zugewuchertes Fahrrad und dahinter, in den kleinen Fenstern, leuchtet das Innere eines der Lokale. Entdecken bei Gelegenheit auch ein italienisches Viertel. Quasi an jeder Ecke finden sich neue Motive und hah… nichts macht ein Hirn wacher als eine neue Umgebung. Und hier, in diesem ruhigen Eckchen, hier sind kaum Menschen außer uns, hier können wir noch Entdecker spielen.

Am Covent Garden Market ist es freilich anders.

Hier tummeln sich die Besucher, größtenteils von Auswärts; anscheinend steht der schöne, überdachte Markt inzwischen in fast jedem Reiseführer. Ja, so ist es eben – in Zeiten, wo immer mehr Menschen kleine Entdecker sein möchten, müssen sie ihre Entdeckungen mit ganz vielen anderen Menschen teilen, die ebenfalls Entdecker sein wollen. So wie wir.

Die überdachte Halle beherbergt einen Hauptbereich, in dem wiederum mittig über eine Treppe ein Untergeschoss mit Restaurants und Cafes erreichbar ist. Viele haben sich hier am Geländer versammelt und schauen den unten Essenden auf die Köpfe, doch der Grund dafür ist ein anderer: es ist der lautstarke Animateur, der hier gerade Arien singt. Der Mann ist witzig und beeindruckend und fast sind wir versucht, uns unten hinzusetzen, nur um ihm weiter in aller Ruhe zuschauen zu können. Doch vorher wollen wir den Markt erkunden; deswegen sind wir ja hier.

Im Grunde wird sowohl die Markthalle selbst als auch der gesamte Bezirk um den Markt herum als Covent Garden bezeichnet, also auch die kleinen Ecken und Gassen, die wir bereits gesehen haben. Zur Unterscheidung wird von dem Markt als Covent Garden Market oder, korrekterweise, von der Covent Garden Piazza gesprochen. Den Marktplatz an sich gibt es schon seit dem 12 Jahrhundert; damals ein öffentlicher Garten, in dem Gemüse für die ganze Stadt angebaut wurde. Im 17 Jahrhundert entstand hier ein Markt, doch die schicke Markthalle gibt es erst seit 1830.

London hat mehrere solche überdachten Märkte – sehr schön sind außerdem noch der Camden-Market und der Jubilee Market, der sich genau nebenan befindet.

Die gläserne Überdachung sorgt für Leichtigkeit und lässt Licht herein. Ausgehend von der Halle, in der wir uns befinden, gibt es seitlich links und rechts noch viele kleinere Hallen und Räume, die, jede für sich, ebenfalls verschiedenartige Märkte beherbergen. So gibt es einen Kunstmarkt („Bitte nicht fotografieren! Löschen Sie das Foto!“), Handwerk, Seifen und Parfüms, Lebensmittel, Souvenirs, Kleidung… eigentlich alles, was man sich so ausmalen möchte (oder auch nicht…) und ich unterdrücke wieder einmal den nur allzu menschlichen Kauf- und Konsumimpuls in mir.

Apropos Parfüm: einer der prägendsten Gerüche, die mir hier aufgefallen sind, ist, ähnlich wie in Paris, der schwere, sich unterschwellig ziehende Duft von Parfüm. Ich weiß nicht, woher er kommt, ich weiß nicht, welche Dame ihn hinterlässt oder welcher Stand, doch immer mal wieder kommen uns Wölkchen davon entgegen.

Hier lasse ich Janine herumlaufen und hoffe, dass sie nicht zu viel kauft (…wir haben immer noch nur zwei Handgepäckstücke frei…) und streife selbst noch ein bisschen herum. Schnell wird mir langweilig, doch für Abwechselung sorgt ein Straßenkünstler, der hinter der großen Halle auf einem Platz seine Pirouetten zieht. Und auch meine Freundin hatte sich wieder eingefunden. „Hast du den Schotten auf der Leiter gesehen?“

Der „Schotte auf der Leiter“ ist gut, er ist richtig gut. Wie die meisten Straßenkünstler Londons übrigens. Habt ihr gewusst, dass London weltweit die höchste Dichte an hochkarätigen Straßenkünstlern besitzt? Und auch hier können wir sehen, wie sich das bargeldlose Zahlen überall durchgesetzt hat – denn wer kein Kleingeld hat, um es in den Hut zu werfen, der hat ab sofort keine Ausrede mehr. Das erste Mal sah ich es in einer Sendung, nun darf ich es live erleben: die Straßenkünstler haben in der Regel jeder ein kleines Terminal bei sich, das eine bargeldlose Spende ermöglicht. Die Terminals sind in der Regel auf zwei Pfund voreingestellt; man hält einfach seine Visa-Karte dran – fertig ist der Zauber.

Der „Schotte auf der Leiter“ weiß genau, wie er mit wenigen Worten und eigentlich ohne viel Zutun sein Publikum vollständig fesseln kann. Durch Witz, Humor und das Integrieren von immer mal wieder neuen Personen in seine Spielchen. Und durch nackte Haut. Und nein, das ist nicht sexy 🙂 Irgendwann, nach viel Taram, steht er da, nur mit einer weißen Unterhose bekleidet; steht immer noch auf seiner Leiter, voller kleiner, weißer Speckröllchen, und ruft: Ja, ich zeige euch jetzt die Wahrheit! Das – das ist, wovor euch die Schönheitsindustrie immerzu gewarnt hat! Das ist die Realität! So sehen ganz normale Menschen aus!“

Ich glaube, niemand applaudiert so laut wie meine Freundin und ich.

Kasia

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