Asien, Jordanien

Jordanien, Tag 3 – An der syrischen Grenze

Dienstag, 2 Oktober 2018 – Mein Geburtstag

Am nächsten Tag sitzt Francine mit uns im Auto.

Zuvor überrascht sie mich jedoch, denn als ich von meinem Geburtstag erzählte, zaubert sie prompt ein kleines Stück Schokokuchen hervor. Mit dem Küchlein in der Hand sitzt sie dann vor mir und singt „Happy Birthday.“

Im Auto kullern ein paar Tränen. Nicht meine, wohlgemerkt, sondern die von Fran, die durch mich – oder dank mir – so intensiv wie lange nicht mehr an ihre Schwester in Brasilien denken muss.

Fran, die gebürtig aus Brasilien stammt, lebt aktuell in Dublin. Vor einiger Zeit entschied sie, ihre Arbeit als Tierärztin in Brasilien aufzugeben, die sie nicht mehr glücklich machte, und etwas neues zu wagen. Also ging sie nach Irland. Für ihre Familie war diese Entscheidung anfangs unverständlich, da sie Verwandte in Deutschland und Italien hatte, bei denen sie unterkommen könnte. Doch Fran dachte weiter. Sie wollte die Sprache lernen, um sich in der Welt frei bewegen und frei arbeiten zu können. Da muss es doch mehr geben als jeden Tag Mauern, die uns auf Arbeit umgeben, mehr als feste Arbeitszeiten. Jetzt baut sie ihr eigenes Online-Business auf.  Sie coucht Menschen, die in schwierigen Lebenssituationen stecken.

Ihre Schwester hat sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Die Schwester hat am selben Tag Geburtstag wie ich. Für Fran ein Zeichen des Universums; gleich im Auto holt sie ihr Handy raus und gratuliert. „Ich hätte es fast vergessen, da so viel um mich herum passiert, aber durch dich habe ich mich wieder an sie erinnert. Und wenn ich schon nicht die Zeit mit meiner Schwester verbringen kann, so kann ich sie jetzt mit dir verbringen.“

Wir fahren wieder an Feldern und zugemüllten Flächen vorbei. Manchmal öffnet sich das Fenster eines vor uns fahrenden Fahrzeugs einen Spalt weit und eine Hand schiebt sich unauffällig hindurch. Dann fliegt eine weitere, weiße, blaue oder gelbe Tüte aufgebauscht und vom Wind davon getragen durch die Luft.

Djamal*, der um unser leibliches Wohl besorgt ist, macht in einer der kleineren, umliegenden Ortschaften halt und verschwindet in einem Lebensmittelgeschäft. Währenddessen beobachten wir die Leute draußen auf der Straße, die an uns vorbei gehen. Eine junge Frau in helle, leuchtende Farben gekleidet hebt Geld ab. Zwei Männer unterhalten sich, einer von ihnen wickelt seine Kufiya zurecht. Arabische Schriftzüge zieren die Straßen, doch viele Schilder sind auch in lateinischen Schriftzeichen zu sehen. Vor allem auf häufig befahrenen Strecken, Fernstraßen oder in der Nähe von Sehenswürdigkeiten gibt es die Doppelbeschilderungen.

Wir bleiben an einem Flussufer stehen. Fran fragt nach der Wassergewinnung in Jordanien, da sie vom Flugzeug aus keine Wasserflächen oder ähnliches gesehen hatte. Wie es aussieht, gibt es in Jordanien durchaus unterirdisches Grundwasser, doch reicht es alleine bei weitem nicht aus, um das Land zu versorgen. Zudem ist 2017 am Roten Meer eine große Entsalzungsanlage in Betrieb genommen worden, um den Wasserbedarf des kleinen Königreiches zu decken.

Wir bewegen uns immer weiter nordwärts, in Gebiete, von denen ich nie dachte, dass ich sie während dieser Reise überhaupt befahren werde. Gegenden, die ganz und gar nicht auf meiner Route standen. Doch wenn mir jemand einen begleiteten Trip dorthin anbietet, sage ich auch nicht nein.

„Was arbeiten denn hier die Leute?“ Will Fran wissen, denn die Gegend sieht nicht nach wirtschaftlichem Aufstieg aus. „Ach, in erster Linie Militär.“ Antwortet Djamal. Ich nicke vor mich hin. Und mit kleinen Läden verdienen sie sich was dazu.

Schilder weisen die syrische Grenze in unmittelbarer Nähe aus. Als wir an einen Kreisel kommen, sagt Djamal*: „Würde ich hier lang fahren,“ – er zeigt nach rechts, – „dann würden wir in ca. 500 Metern die Grenze zu Syrien erreichen. Deswegen fahren wir jetzt geradeaus.“

Aber wir wollten doch die Grenze zur Syrien erreichen, oder nicht? – denke ich, doch unser Guide wird diesbezüglich seine eigenen Pläne haben. Vielleicht wollen wir Checkpoints umfahren. Vielleicht wollen wir einfach nur irgendwo aus der Ferne das Geschehen beobachten. Das ist mir auch lieber, will ich mich (uns) doch nicht in Gefahr gebracht wissen.

Hah, wenn ich gewusst hätte…

Wir nähern uns der Stadt Irbid. Schon von weitem sehe ich etwas, das ich hier nicht erwartet hätte. Arbeiter in einer gelben Warnweste sammeln mit einer Greifzange den umliegenden Müll von der Straße auf. Die Stadt wird regelrecht gesäubert. Damit habe ich nicht gerechnet an diesem abgelegenem Ort.

Straßenreinigung in Irbid

Hierhin verirrt sich kein Weißer. Kein Tourist. Direkt an der Grenze ist es vielen zu prekär, und auch wir wären unter normalen Umständen nicht hier gelandet. Ich beobachte die Menschen vom Auto heraus, das Leben auf der Straße, das einen großen Gegensatz zu Amman darstellt. Die Menschen sind traditionell gekleidet, Frauen hochgeschlossen angezogen. Ich sehe keine einzige Frau mit unbedecktem Haar. Die Frauen sind ernst und haben es irgendwie eilig, ganz so, als wäre es für sie kein Normalzustand, sich auf der Straße aufzuhalten. Außer vielleicht für notwendige Erledigungen.

Sie sind mir unangenehm, die Blicke ins Auto hinein, die zwar nicht oft, doch ab und zu an uns hängen bleiben, den einzigen Europäern hier weit und breit. Nein, die Leute starren nicht, doch eine gewisse Neugier, ein Staunen lässt sich nicht leugnen. „Irbid ist nicht sehr touristisch, oder?“ Frage ich Djamal*, der daraufhin sagt: „Nein, aber sie arbeiten daran.“ So?

Ich wünschte, ich hätte eines meiner beiden blauen Kopftücher mitgenommen, um es mir locker über die Haare zu werfen. Wozu habe ich sie denn eingepackt?

Wir verlassen Irbid und nähern uns einem Kastell. Das kleine Schloss bietet einen grandiosen Rundumblick. Und hier sehen wir wieder Touristen, europäische Pärchen und einzelne Personen mit Kamera in der Hand. Hier wird wohl unser Anblick nichts exotisches mehr sein, aber vielleicht gab es auch in Irbid keinen reellen Grund, sich unwohl zu fühlen. Vielleicht hat mein Hirn einmal zu viel hinein interpretiert.

Wir steigen aus und essen die Falafel, die Djamal* unterwegs für uns gekauft hat. Er sorgt rührend um unser leibliches Wohl und bleibt bei der nächsten Gelegenheit an einem Geschäft stehen, sobald er auch nur ansatzweise unsere leise ausgesprochenen Wünsche mitbekommt. So hatten wir uns über Obst unterhalten – zehn Minuten später war das Obst da. Nun sitze ich da und esse, während Fran an der kleinen Mauer für Bilder posiert. Ja, ich bin froh, dass ich den Fotografenjob nicht übernehmen muss, denn manchmal ist es schön, nur die Landschaft zu genießen.

Das Um Queis Kastell war früher eine Verteidigungsanlage. Solcher kleineren oder größeren Wüstenschlösser finden sich viele hier im Norden Jordaniens, und das erklärt auch das – mäßige – Touristenaufkommen. Dieses Schloss hier ist zur syrischen Grenze hin gerichtet und man kann sicherlich von der anderen Seite des Schlosses die Grenze sehen, sofern man ein kostenpflichtiges Ticket einlöst.

„Aber das brauchen wir nicht, ich bringe euch später direkt an die Grenze.“ Sagt Djamal*. Es gibt laut seiner Aussage einen mehr oder weniger geheimen, vom Militär genutzten Weg, der direkt an der Grenze entlang verläuft. Kein Tourist kommt hin, kein Guide, keine geführte Reise in die vom Militär besetzten Gebiete ist möglich. „Außer für mich.“ Sagt Djamal* stolz und ich frage mich, wie er sich das vorstellt. „Ich kenne hier ganz viele Leute.“ Da werden wir uns wohl überraschen lassen müssen.

Wir fahren wieder runter vom Berg. Und während wir uns der nordwestlichen Grenze nähern, gibt uns Djamal* ein paar Anweisungen mit. „Fotografieren ist dort verboten.“ Sagt er. So etwas ähnliches habe ich mir schon gedacht. „Heißt das, dass wir keine Bilder machen können?“ Fragt ihn Fran. „Doch, natürlich könnt ihr das!“ Häh? „Aber bitte nur dann fotografieren, wenn ich euch sage, und auch da müsst ihr schnell und unauffällig sein. Jetzt steckt die Kamera besser weg“ Ich fühle, wie die Aufregung irgendwo in meine Kehle hochsteigt, denn damit wird klar, dass das, was wir da machen, nicht ganz legal ist. Meine Kamera lege ich im Fußraum des Wagens ab.

Die Military Road ist auf keiner Karte und auch nicht in Google Maps verzeichnet; laut der App fahren wir durch weißes Feld.

An einem militärischen Checkpoint halten wir an. Vor einer Schranke sehen wir uns streng blickenden Soldaten gegenüber. Djamal* wechselt mit einem der jungen Männer ein paar freundschaftliche Worte und der beginnt breit zu lächeln. Unsere Pässe werden kontrolliert. „Woher kommt ihr?“ Brav nennen wir Name und Nationalität. Der Name soll vermutlich mit den Pässen abgeglichen werden, um zu vermeiden, dass ein älterer, jordanischer Mann mit ein paar versklavten weißen Mädchen mit falschen Papieren versucht, nach Israel zu kommen – außerdem, was weiß denn ich schon, ist vielleicht alles einfach nur Routine. Der Soldat nickt zufrieden und – zu meinem größten Erstaunen, denn ich hatte nicht wirklich damit gerechnet – dürfen wir passieren.

Wie mag das wohl nach außen hin wirken, wenn ein jordanischer Guide zwei blonde Touristinnen in eine militärische Sperrzone bringt?

„Was hast du ihm gesagt, dass er uns reingelassen hat?“ Wollen wir wissen, und Djamal* lacht. „Ich weiß schon, was ich mit ihm reden soll.“ Meint er geheimnisvoll zu uns. „Ich sage den Menschen das, womit sie sich gut fühlen. Ich habe ihm erzählt: Hey, erinnerst du dich an mich? Wir kennen uns von früher. Wie geht es dir und deiner Familie? Mehr nicht.“ So macht man sich also Freunde, denke ich mir. Clever.

Wir fahren die Straße entlang, die mir wie eine ganz normale Landstraße vorkommt, wären da nicht die kleinen Posten, die wir ab und zu passieren. Hin und wieder kommen uns verbeulte Toyota Pick-ups entgegen, doch anstatt des Militär sitzen in Zivil gekleidete Menschen drin. Viele Menschen leben hier, auch, oder vor allem, mit ihren Familien; es sind in der Militärzone richtige kleine Orte entstanden. Wir biegen um eine Kurve, halten an und steigen aus.

„Noch keine Bilder machen.“ Weist Djamal* uns an. „Ich will erst die Lage überprüfen.“ Er schaut sich um, doch der Militärposten nebenan ist leer. Bunte Teppiche sind vor dem Häuschen ausgelegt und die Straße, die am Abhang entlang verläuft, offenbart einen Blick auf den Grenzzaun, circa fünfhundert Meter von uns entfernt. Jetzt können wir fotografieren, sagt Djamal* und ermutigt uns, doch ein paar Erinnerungsfotos zu machen. Schnell erledige ich meine Schnappschüsse und stecke mein Handy gleich wieder weg, doch Fran lässt es sich nicht nehmen, ein paar Selfies zu machen. Hin und wieder fährt so ein Toyota Pick-up an uns vorbei, doch das sei wohl okay.

Letztendlich klettern wir über die dürftige Absperrung des leer stehenden Checkpoints und lassen uns auf den bunten, verschlissenen Teppichen fotografieren, die syrische Grenze im Hintergrund und immer die panische Angst im Nacken, dass da gleich Soldaten um die Ecke kommen und wissen wollen, was hier eigentlich los ist. Was denken wohl die Pick-up Fahrer jedesmal, wenn sie uns hier erblicken? Touristen, hier – das kann nicht gut gehen.

An einem leer stehenden Checkpoint

Ich stehe am Abhang und versuche, zu realisieren, schaue auf die Ansammlungen der kleinen Häuschen unter mir. Ich höre Glocken, vermutlich Ziegen oder ähnliches Getier, und höre den Ruf des Muezzin, der über die stille Landschaft hallt. Ich stehe an der syrischen Grenze. Bin aufgeregt und ruhig zugleich, möchte weglaufen, doch das geht wohl nicht. Ich fühle mich wie am Rande der Welt.

Die Tragweite ist mir vollkommen bewusst. Auf der anderen Seite wurde gekämpft. Hier Selfies zu machen erscheint mir völlig unpassend.

„Zufrieden?“ Fragt uns Djamal*, nachdem wir wieder im Auto sitzen. Wir fahren weiter. „Es wird noch besser.“ Noch besser? Wie kann es noch besser werden als das?

Die nächste Stelle, an der wir anhalten, liegt etwas abgelegen. Doch wer sich aufmerksam umsieht, bemerkt den militärischen – diesmal besetzten – Checkpoint rechts von uns. „Schaut mal nach vorne. Könnt ihr es sehen? Hier treffen gleich drei Grenzen aufeinander; links die von Israel, rechts Jordanien und geradeaus vor uns liegt Syrien. Aber macht die Bilder ganz unauffällig, ich werde euch abschirmen…“ Ja, das  ist prekär, die Soldaten am Checkpoint hatten uns sicher schon bemerkt. Djamal* postiert sich so neben uns, dass wir nicht zu sehen sind und wir machen unser Foto schnell aus der Hüfte. Danach stecken wir die Smartphones gleich weg – mit meiner großen Kamera versuche ich es gar nicht erst, das würde erst recht Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Während der Weiterfahrt versuche ich, meine Empfindungen zu sortieren, stelle mir die Frage, wieso ich hier bin, hier sein will, wieso es Menschen gibt, die es in Krisengebiete, in Gefahrenzonen zieht. Ist es ein perverser Voyeurismus? Sensationslust? Lebensmüdigkeit? Eine Mischung aus allem? Hier sterben Menschen, es fallen Geschosse, just da auf der anderen Seite, ich weiß das, mir ist die Ernsthaftigkeit dessen bewusst. Das hier ist keine Sehenswürdigkeit wie Petra oder Wadi Rum. Und doch ist es das Eindrucksvollste, was ich bisher erlebt habe und ich versuche, mich selbst zu befragen, warum es so ist. Was würde ich später sagen, wie würde ich es erklären, dass ich hier war?

Doch nach einer ernsthaften, inneren Befragung kann ich ganz klar sagen, dass es nicht der sensationsheischende Voyeurismus ist, es ist keine Suche nach einem Adrenalinkick, denn dafür genieße ich das hier viel zu wenig. Nein, es ist etwas anderes.

Wie oft hören wir es in den Medien, wie oft sehen wir es in den Abendnachrichten. Sehen die Bilder von Trümmern, hören die Bomben, sehen den Krieg. Beinahe jeden Tag, und doch schalten wir danach den Fernseher um, weiter gehts mit den neuen Simpsons Folgen. All das, was über den Bildschirm flackert, vermischt sich mit anderen Bildern, vermischt sich mit Bauer sucht Frau, vermischt sich mit dem Bachelor, vermischt sich mit Schwachsinn. Die bunten Bilder sind, obwohl wir sie sehen und wissen, dass sie wahr sind, nicht Teil unserer Realität. Sie sind weit weg, wir können sie ausschalten, wir können alles aus- oder abschalten, vor allem unseren Geist verschließen, das wir nicht selbst erlebt, das wir nicht selbst erlebt und gespürt haben.

Doch wenn du wirklich dort warst, wenn du ein Stück weit diese Luft einatmen konntest, die Kämpfe hörtest, nur ein paar hundert Meter weiter und wusstest, dass das hier wirklich echt ist, nur dann kannst du es begreifen. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb Menschen entgegen aller negativen Kritik in Krisengebiete fahren, weshalb es sie an schwierige Orte zieht: Denn nur das, was du berührt hast, ist für dich wirklich real.

Wir kommen an den nächsten, besetzten Checkpoint. Die Straße führt in einen Ort und wir stellen das Auto im Schatten einer von Kugeln durchsiebten Mauer auf. „Hier ist ganz gefährliches Terrain.“ Schärft Djamal* uns ein. Hah, als ob das nicht schon die ganze Zeit der Fall wäre. „Tut nichts, ohne dass ich es euch sage.“ Wir nicken völlig beeindruckt. Hier fühlt sich jeder Schritt so an, als würden wir über ein Minenfeld gehen.

Djamal* lässt uns aussteigen. „Wartet hier.“ Er verschwindet in dem Haus ein- bis zweihundert Meter weiter, um mit dem Mann zu sprechen, den wir soeben kurz ganz entspannt auf der Terrasse haben sitzen sehen. Kleine Jungen fahren auf Fahrrädern vorbei und starren uns an, Pick-ups fahren an uns vorbei. Alle fragen sich wohl, was wir hier zu suchen haben und das gleiche fragen wir uns jetzt auch. Wir stehen da, ganz alleine neben unserem Auto und leuchten mit unseren blonden, unbedeckten Haaren wie zwei Fackeln in der Nacht. Wir können nicht einmal ansatzweise so tun, als würden wir hier irgendwie in die Landschaft gehören.

Nach ein paar qualvoll langen Minuten kommt Djamal* zurück. „Ich habe alles mit ihm geklärt.“ Sagt er und zeigt auf das Haus. „Er weiß jetzt, dass wir hier sind und wir dürfen uns hier aufhalten.“ Wie mir scheint, ist hier mit Vitamin B so ziemlich alles möglich; der Offizier hatte wohl beschlossen, beide Augen zuzudrücken.

Auf der anderen Straßenseite befinden sich grell-grüne Wasserflächen, von einem dermaßen künstlichen Türkis, dass ich im ersten Augenblick an chemische Abwässer denke. „Das sind heiße Quellen.“ Erklärt uns Djamal*. „Heißes Wasser, über 80 Grad heiß. Sehr gefährlich.“ Die Wasserflächen sind weiträumig umzäunt und das abgesperrte Tor mit einem Warnschild versehen. Die arabischen Schriftzeichen kann ich nicht lesen, doch der Totenkopf mit gekreuzten Knochen ist mehr als eindeutig.

„Wollt ihr ein Foto machen?“ Ja klar wollen wir. Schnell und so heimlich es eben geht mache ich meine Aufnahme. „Wollt ihr Bilder von euch vor dem Schild?“ Fragt uns Djamal*, bereit, uns jeden Wunsch zu erfüllen. „Ihr könnt Bilder machen, alles kein Problem.“ Der schnelle Übergang von „ganz gefährliches Terrain“ bis hin zu „macht Bilder, so viele ihr wollt“ macht mich ganz kirre und ich sehe, dass es Fran genauso geht. Vermutlich gibt es hier tatsächlich nur einen Offizier, der aufpasst, und der ist gerade in sein Haus gegangen. Um nichts zu sehen.

Blick auf die Golanhöhen und die jordanisch-syrische Grenze
Das Länderdreieck: links Israel, geradeaus die syrischen, von Israel annektierten Golanhöhen und rechts Jordanien
Eine abgesperrte, heiße Quelle, Zutritt verboten
Kasernen für Soldaten und deren Familien. In der militärischen Sperrzone sind kleine Ortschaften entstanden.
Kasernen von oben (linke Seite, blau sind die abgesperrten Bereiche mit den heißen Quellen)
Der grüne Streifen markiert den Jarmuk-Fluss

Wir lassen unser Auto da, wo es ist und laufen los, denn… „Es wird noch besser.“ Verspricht uns Djamal* abermals, obwohl ich bereits wie auf glühenden Kohlen laufe und mir kaum noch eine Steigerung dessen vorstellen kann. Zu Fuß passieren wir die paar Häuser, die hier herum stehen. Als ein Militärfahrzeug voller Soldaten an uns vorbei fährt, denke ich mir, das wars, die scheuchen uns jetzt auf. Doch nichts passiert. Vom Weitem kann ich weitere Uniformierte entspannt in ihren Checkpoints sitzen sehen. Niemand scheint auf uns zu achten, doch das mag ich so recht nicht glauben.

Wir nähern uns einem Gebirgszug, der sich so an die fünfhundert Meter vor uns erhebt. Zum Greifen nah können wir den Grenzzaun sehen. „Das sind die Golan-Berge.“ Sagt Djamal*. „Dahinter ist Syrien.“

Dann höre ich die Detonationen. „Was war denn das?“ Frage ich mit großen Augen naiv in die Runde. „Die kämpfen da, was dachtest du denn?“ Sagt Fran ganz ungerührt. Dann lacht sie, als sie mein Gesicht sieht. Natürlich war mir klar, dass da etwas vor sich geht, doch hatten die Medien zuletzt verbreitet, dass sich die Lage in den letzten Wochen beruhigt hätte. „Nein, so sehr hat es sich doch nicht beruhigt.“ Sagt Djamal*. „Hier wird fast jeden Tag gekämpft.“

Das Golan-Gebirge ist mir ein Begriff, zuletzt deshalb, weil sich die Rebellen hierhin verschanzt hatten. Doch es war schon lange her, dass ich diese Info irgendwo in den Nachrichten aufgeschnappt hatte. Nun bin ich überzeugt, dass hier gerade die Syrische Armee gegen den IS kämpft. Das ist jedoch so nicht ganz richtig.

Die Golanhöhen, wie sie korrekt bezeichnet werden, werden zur Zeit von Israel besetzt. Laut UNO sind sie syrisches Territorium, doch seit 1981 ist das Gebiet von Israel annektiert. Dass in Syrien nicht einzig der IS, sondern auch viele vom Iran kontrollierten Rebellengruppen aktiv sind, ist Israel seit langem ein Dorn im Auge. Es sind vor allem Hisbollah-Kämpfer, die, durch Iran unterstützt, von Syrien aus in Richtung israelische Grenze vordringen. Der israelischer Staat sieht sich einer noch größeren Bedrohung ausgesetzt und beschließt, in den Syrien-Krieg einzugreifen.

Seit der Annexion, die von der Weltgemeinschaft nicht anerkannt wird, errichtet Israel eigene Siedlungen auf den Golanhöhen. Sie sind strategisch von großer Bedeutung, lassen sich doch von hier aus Syrien und Teile des Libanon militärisch besser kontrollieren. Ein sehr prekäres Mienenfeld sozusagen, auf dem wir hier gerade unbekümmert herumspazieren. Doch die ganze politische Brisanz dieser Ecke wird mir erst während späterer Recherchen bewusst; im Augenblick weiß ich nur eins: hier ist Jordanien, dahinter ist Syrien und dahinter wird gekämpft.

Der Grenzzaun am Golangebirge

Über einen steilen, rutschigen Pfad steigen wir zum Jarmuk-Fluss ab. Der Jarmuk ist der Grenzfluss zu Syrien bzw. zu den Golanhöhen und so wird die Grenzregion noch einmal greifbarer. Wir setzen uns auf die Steine und schauen auf die andere Seite. Ich fühle, als würde ich neben mir stehen. Wir sollten hier nicht sein. Nicht einmal ein Kopftuch, um unser nackt Blond zu bedecken, wie leicht könnte man uns nach Lust und Laune von der anderen Seite aus erschießen. In diesem Augenblick vermute ich noch schwarz vermummte IS-Horden auf der anderen Seite der Golanhöhen.

Fran filmt unseren Abstieg zum Fluss und spricht in ihr Smartphone. Djamal* will mit uns noch weiter runter, er möchte uns bis ganz ans Grenzwasser bringen. Und wir schaffen es tatsächlich, es fühlt sich so unwirklich an, mit der heiß sengenden Sonne über uns, den Rufen der Vögel am Flussufer und den Gräsern, durch die wir uns gerade kämpfen. Das smaragdgrüne Wasser des Jarmuk liegt genau vor unseren Augen,  es wirkt fast friedlich, beinahe so normal und gewöhnlich wie auch anderswo auf der Welt. Doch ich verwerfe den Gedanken an die Normalität so schnell wieder wie er in meinem Kopf aufgetaucht ist. Als wir gerade unsere Handys zucken und auf den Auslöser drücken wollen, hören wir hinter uns jemanden rufen.

Der Jarmuk-Fluss. Wir kamen bis ganz ans Wasser.

Oben am Ufer steht eine Gruppe uniformierter Militärs und schaut auf uns herunter.

So, Djamal*, denke ich: das ist jetzt dein Auftritt… Djamal* indessen ist ein Stückchen weiter in den hohen Gräsern zu sehen. Er kommt näher und ruft den Uniformierten ein paar Worte zu. Ein kurzer Wortwechsel, dessen Inhalt ich mir grob denken kann, dann wird klar: wir können hier nicht bleiben. Wir machen uns in der schweißtreibenden Hitze wieder das Ufer hinauf auf den Weg nach oben. Hinter uns dringen johlende Gesänge von den Golanhöhen her. Kriegs- und Siegesgesänge, anders kann ich es nicht beschreiben. Die Soldaten reagieren nicht darauf. Irgend jemand scheint sich zu freuen, doch welche Seite hatte diesmal gewonnen? Mir jagt es kalt den Rücken runter.

Es ist eine total surreale Situation, versuche ich mir klar zu machen: einerseits die Sonne über uns, die Bäume, die raschelnden Gräser, der Fluss – die ganz normalen, alltäglichen Dinge, und mittendrin laufen wir uniformierten jordanischen Soldaten hinterher… Fran zischt halblaut: „Djamal*!“ Sie will ihm sein I-Phone zurückgeben, doch dafür ist es kein wirklich guter Zeitpunkt. Djamal* reagiert nicht.

Das wars, denke ich, jetzt ist es gelaufen. Oben werden sie unsere Personalien feststellen, dann werden sie uns unter Arrest stellen und schlussendlich werden wir den Rest unserer Jahre wegen Spionage in einem jordanischen Gefängnis vermodern… Ich denke an mein Smartphone, das beim Gehen schön quadratisch meine Hosentasche ausbeult und hänge meine Tasche drüber. Das wird mir später auch nicht mehr helfen, aber wer weiß, vielleicht denken sie nicht gleich daran.

Den ganzen Weg über sagen sie nicht viel und die Kommunikation läuft auch über Djamal*. Einmal filtere ich die Frage nach unseren Nationalitäten heraus, worauf ein „Brasil“ und „Germany“ folgt. Die Männer bleiben ernst und es fällt mir schwer, ihre Mimik zu deuten. Fran hatte sich indessen ihr Tuch respektvoll über die Haare gezogen. Ich leuchte weiter mit meinem Blond. Darauf kommt es jetzt nicht mehr an.

Oben angekommen gesellt sich ein weiterer Mann in Zivil zu uns. Die gesamte Kommunikation verläuft über Djamal*, doch Fran beginnt ihrerseits, zu sprechen und sich bei den Offizieren wortreich zu entschuldigen. „Verzeihen Sie uns, Sie haben natürlich Recht. Wir können es absolut verstehen, wir wussten nicht, dass wir eigentlich nicht hier sein durften.“ Ich beschränke mich darauf, ein zerknirschtes Gesicht zu machen. Natürlich wussten wir, dass wir nicht hier sein durften.

Währenddessen kommen wir an unserem Auto an. Inzwischen habe ich ein wenig Hoffnung geschöpft, die Herren schauen nun etwas versöhnlicher auf uns herunter, hier und da ein amüsierter Blick. Die Jungen, die vorher nur an unserem Auto vorbei liefen und schauten, beginnen jetzt offen zu johlen und irgendwas zu rufen. Ich meine, ein „lyncht die beiden Weibsbilder“ aus den Rufen heraus zu hören. Fran beginnt wieder, sich zu entschuldigen und uns zu erklären. Der Mann in Zivil schaut sie mit unbewegtem Gesicht an, so dass sie schließlich fragt: „Sie können uns verstehen?“ Er nickt. Dann beginnt er, auf uns einzureden, und Djamal* übersetzt. Es sei ein politisch wichtiges und brisantes Gebiet, wo wir uns gerade befinden und normalerweise darf hier absolut niemand hin. Nachdem ich mich nachträglich etwas näher mit den Golanhöhen beschäftigt habe, wurde mir auch klar, wie brisant. Man hätte uns leicht erschießen können, von der anderen Seite aus. Djamal* erklärt uns, dass wir nun gehen könnten. Die Soldaten lächeln. Einer sagt: „Welcome to Jordan!“

Sie wollen nicht die Bilder auf unseren Handys sehen. Sie wollten auch nicht unsere Pässe sehen, dabei hielt ich meinen bereits in der Hand. Anscheinend wollten sie die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen – so wie wir auch. Als wir wieder im Auto sind und wenden, erklärt uns Djamal* die Situation. „Der Offizier, der uns die Erlaubnis gegeben hatte, uns hier umzusehen, war ein Freund von mir. Die anderen wussten davon natürlich nichts und haben uns mitgenommen. Sie haben ihn angerufen und gefragt, ob das, was ich ihnen erzähle, auch so stimmt. Der Punkt ist: dieser Offizier, also mein Freund, der uns rein gelassen hat, hat einen höheren Rang als der, der uns aufgegriffen hatte. Er hat drei Streifen,“ Djamal* zeigt auf die Schultern seines Hemdes, „der andere nur zwei. Deswegen wird das nicht weiter verfolgt werden.“

„Sonst hätten sie uns festgenommen.“ Sage ich. „Euch? Nein.“ Djamal* lacht. „Euch wäre nichts passiert. Ich hätte dann Ärger bekommen und der Mann, der mir die Erlaubnis gab. Aber ich weiß schon, wie ich mit ihnen reden soll.“ Meint er stolz. „Man darf keine Angst haben. Man soll nicht diskutieren, aber sich auch nicht ängstlich zeigen.“ Aha. Na wenn das hilft? Also, Angst hatte ich wohl.

Als wir wieder zurück fahren, an den kleinen Hütten vorbei, in denen die Familien der Militärs wohnen, muss gerade die Schule zu ende sein: viele kleine Mädchen stehen auf der Straße in Grüppchen zusammen. Sie tragen Kopftücher und eine Art Schuluniformen und winken mit ihren kleinen Mädchenhänden ins Auto rein, als sie zwei Europäerinnen erblicken. „Welcome to Jordan!“ Rufen sie uns hinterher. Ich bin begeistert und winke zurück.

Wir kommen raus aus der Siedlung und fahren wieder die militärische Straße entlang. So langsam entspannen wir uns wieder und Djamal* erzählt uns, wie viele Leute er hier in Jordanien kennt. Das wäre alles gar kein Problem gewesen, sagt er fröhlich. Ich weiß, wie das ist, wenn man versucht, sich Mut zu machen. Ich lasse mir jetzt gerne Mut machen.

Am letzten Checkpoint, ehe wir das Militärgelände verlassen, werden unsere Pässe zum letzten Mal kontrolliert. Wieder fragt der Soldat unsere Namen ab, um sie scheinbar mit den Namen in den Dokumenten zu vergleichen. „Staatsangehörigkeit?“ Fragt er Fran, während er ihren Pass offen in den Händen hält. „Brasil.“ Antwortet sie. „Brasil, aber das ist ein italienischer Pass.“ Das verwirrt den Jungen, Djamal* springt dazwischen. Fran hat eine doppelte Staatsbürgerschaft, verreist aber hauptsächlich mit ihrem Pass aus der EU. „Du redest zu viel.“ Schimpft Djamal*, als wir weiter fahren dürfen. „Er hatte jetzt gedacht, dass die zwei Staatsangehörigkeiten in einem Pass stehen. Sie können das, was in den Pässen steht, teilweise gar nicht richtig lesen.“

„Was?“

„Ja.“ Sagt Djamal* und erklärt uns, dass die einfachen Grenzposten teilweise nur arabisch lesen können. „Deshalb fragen sie auch immer nach den Namen. Einmal habe ich gesehen, dass ein Soldat einen Pass kontrolliert hat und ihn so hielt:“ Djamal* nimmt das Dokument von Fran und hält es kopfüber vor sein Gesicht. Wir brechen in schallenden, dringend nötigen Lachsalven aus.

Nachdem wir uns den Stress der vergangenen halben Stunde aus den Lungen gelacht hatten, zündet sich Djamal* eine Zigarette an. „Weißt du was… gib mir auch eine.“ Sage ich und er hält mir die Packung hin. Ich bin knapp einer Verhaftung entkommen, ich brauche jetzt dringend etwas gegen den Stress. Eine Zigarette, eine Zigarre, eine Pulle Wodka… irgendwas. Alles, was jetzt noch auf dieser Reise kommt, wird ein Pipifax dagegen sein…

*Namen geändert

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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1 Kommentar

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