Montag, den 1 Oktober 2018
Am Morgen fühle ich mich komplett gerädert und bin dankbar für den dicken, aromatischen, arabischen Kaffee, den mir das Hausmädchen zubereitet. Ohne Kaffee ist bei Kasia nix los, insbesondere um die Uhrzeit, und das hatte sich Djamal* gemerkt.
Die Nacht war gezeichnet von Aufregung, Sammeln meiner Gedanken und nur wenig Schlaf. Nachdem ich mir meine Notizen gemacht und die erste Folge der Jordanien-Saga für meinen Blog erstellt habe (hah hah hah…!), kreisen meine Gedanken rund um den Trip. So viele Fragen quälen sich in meinem Kopf herum, so vieles, das ich Revue passieren lasse. War es richtig, mich auf diese Idee einzulassen? Jemanden, den ich kaum kenne, gleich am ersten Tag mal so rund siebenhundert Dinar zu überweisen? Wie wird sich die Tour gestalten? Wird der Trip so sein wie vereinbart oder erwarten mich irgendwelche bösen Überraschungen?
Doch je vertrackter die Situation, umso fatalistischer kann ich sein – so entspannt mich unsinnigerweise ausgerechnet der Gedanke, dass alles nun mal so kommen wird wie es kommt und ich nun eh keinen Einfluss mehr nehmen kann, der Zug ist gestern Abend mit meinen siebenhundert Dinar per Visa Übertragung abgezischt. Wenn du nichts ändern kannst, mache dir kein Stress, so seit jeher mein Credo. Doch wenn der Verlauf der Dinge in deiner Hand liegt – dann wirke!
Trotz der wertvollen Lektion an mich selbst finde ich keinen Schlaf. Vermutlich war das ausgedehnte Nickerchen gestern Mittag auch nicht gerade förderlich. Ich bin übermüdet und beginne, paranoid zu werden, kontrolliere nochmals die Tür und suche das Zimmer nach einer versteckten Kamera ab.
Schließlich, gegen vier, schlummere ich selig ein, nur um eine halbe Stunde später wieder senkrecht im Bett zu stehen.
Das Hostel befindet sich direkt neben einer Moschee. Die Moschee ist mit Lautsprechern ausgestattet, damit die Gläubigen ja nicht die Gebetszeit verpassen, und mein erster, schlaftrunkener Gedanke ist: warum, um alles in der Welt, hört sich mein Wecker denn so anders an – und warum klingelt er so früh? Ich springe panisch aus dem Bett und stehe dann wie ein Fragezeichen mitten im Zimmer, ohne zu wissen, wo ich eigentlich bin.
Aufstehzeit ist sieben Uhr. Da die jordanische Zeit um einer Stunde zu unserer Sommerzeit vorgeht, ist für mich erst sechs; erschwerend kommt der Weckruf des Muezzin hinzu.
Als ich, frisch geduscht, jedoch trotz allem nicht wacher als vorher, unten im Wohnzimmer ankomme, ist Djamal* noch nicht da. Seine jüngeren Söhne machen den Kaffee und das philippinische (?) Hausmädchen bereitet das Frühstück vor. Im Wohnzimmer empfängt mich der alte Mann, den ich gestern mit seiner Frau gesehen habe, mit einem „wie geht es dir“ auf arabisch. Ich brauche einen schlaftrunkenen Moment, um zu begreifen, dass er versucht, mir diese paar Wörter beizubringen.
Er und seine Frau kommen aus Rammallah, der de facto Hauptstadt des palästinensischen Gebietes und ich wurde gestern zu einem Besuch in sein Land eingeladen – wenn ich möchte und Unterstützung brauche, sagt er, soll ich mich einfach bei ihm melden. Jetzt nutze ich die Gelegenheit und lasse mir die Kontaktdaten geben.
Ein paar Minuten später gesellt sich eine junge Frau zu uns, die sich als Mira vorstellt. Mira ist die junge Deutsche, die diesen Trip heute mit Djamal* und mir machen wird. Der Ausflug führt uns in die Mosaikstadt Madaba und ans Tote Meer. Als Djamal* im Wohnzimmer auftaucht, gibt es zum Frühstück Hummus mit Brot. Das Hummus wird von allen gemeinsam von einem Teller gegessen, der mitten auf dem Tisch steht und als Beilage und Löffelersatz dient frisches, noch warmes und duftendes Fladenbrot. Draußen ist es längst hell und der Verkehr rauscht laut und hupend am Fenster vorbei. Rufe auf arabisch erklingen in meinen Ohren.
Draußen sind Djamal* Jungs gerade dabei, das Auto per Handwäsche von den sandigen Wasserflecken zu befreien, die der kurze Regenschauer gestern Nacht auf den Scheiben hinterlassen hatte. „Guck mal, die nehmen dazu das gute Trinkwasser!“ Ruft die zurecht empörte Mira. Und tatsächlich: Während Jordanien, nicht zuletzt durch die Flüchtlingskrise, so stark wie nie unter Wasserknappheit leidet, verwenden die Jungs für ihre Wäsche das sauber abgefüllte Trinkwasser aus den Flaschen, das Wasser, welches gekühlt vor dem Hotel verkauft wird und für welches ich jedesmal rund dreißig J.Piaster pro große Flasche zahle.
Der Verkehr draußen ist genauso chaotisch wie gestern. Souverän und mit stoischer Seelenruhe manövriert Djamal* das Auto durch die Straßen. Unser erster Stopp ist das Kempinsky-Hotel, in dem sich eine weitere Europcar-Station befindet; dort hole ich den neu ausgestellten Schein mit eingetragenem Zweitfahrer aus, um den sich Djamal* gestern gekümmert hat. Die Aktion hat mich keinen Cent mehr gekostet und zum erstem Mal bekomme ich den Einfluss guter Verbindungen vor Augen geführt.
In der ersten Zeit nehme ich die Landschaft um mich herum kaum wahr, denn Mira und ich sprechen die ganze Zeit über miteinander. Bereits beim Frühstück entdeckten wir einen guten Draht zueinander, denn das anfangs schüchterne Mädchen stellte sich als eine taffe Frau heraus. Mira ist seit langem alleine in der Welt unterwegs und hat schon mehr als fünfzig Länder bereist, doch ihr Lieblingsland und gefühlte zweite Heimat ist definitiv Indien. Je chaotischer, desto besser – Indien ist ein Ort, an dem sie immer wieder zurückkehren würde.
Im Auto setzen wir die Gespräche fort und Djamal* ist außen vor. Ab und zu schiele ich zu ihm herüber und frage mich, inwieweit ihm das anhaltende, helle Geschnatter zweier Frauen bereits auf die Nerven gehen mag. Ab und zu schiele ich auch auf die Landschaft, doch in ein Gespräch vertieft dringen die Eindrücke nicht so intensiv zu mir vor.
Doch als ich immer wieder einen Blick nach draußen werfe, bin ich erstaunt.
Ich habe mir immer, wenn ich an Jordanien dachte, weite, freie Landstriche vorgestellt, mit nichts als Bergen und Wüste, doch die Realität hinter dem Autofenster sieht nun etwas weniger romantisch aus. Weite Landstriche sind verbaut, kleinere Ortschaften wechseln mit freien Feldern ab. Moscheen, Tankstellen und Läden ziehen an uns vorbei und auf den Flächen zwischen den Städten sehen wir graue, einfach zusammengebaute Zelte stehen. Manchmal sind sie von einer niedrigen Umzäunung umgeben und fast immer zieht sich eine Wäscheleine von Zelt zu Zelt. Manchmal sind Menschen mit ihren Tieren zu sehen, vorwiegend Schafe, aber auch Ziegen, Esel und Kamele werden gehalten.
„Es sind Beduinen.“ Antwortet Djamal* auf meine Frage hin, wer denn in diesen Zelten lebt.
Das Leben der Beduinen wird wohl kaum so romantisch sein wie die Vorstellungen, die darüber kursieren. Die Zelte kleben auf dem Feld, praktisch vor den Toren der Stadt, umgeben von flacher Erde, die mit Müll übersät ist. Überhaupt stellen wir schnell fest: Jordanien hat ein Müllproblem. Bei jedem Einkauf zu jeden Artikel bekommt man Plastiktüten, die anschließend unauffällig aus Autofenstern gleiten, am Himmel entlang ziehen, sich in Sträuchern verfangen, um sich dann wie Wüstenblumen entlang der Felder zu verteilen, auf denen die Zelte stehen.
Ab und zu zwischen den Vororten reitet jemand auf einem Esel, Pferd oder Kamel, Stände mit frischem Obst, schön als Hügel drapiert stehen am Straßenrand. Staubige, zerbeulte Toyota Pick ups überholen uns, auf deren Ladefläche Menschen oder Schafe zu sehen sind. Gefahren werden hier vor allem japanische Fabrikate wie Mazda, Mitsubishi oder eben Toyota.
Ab und zu liegt ein abgeschnittener Schafskopf eines geschlachteten Tieres neben der Straße.
So unansehnlich sich Amman auch gibt: die Vororte stehen ihr in Nichts nach. Hatten wir zur Anfang erwartet, schmucke kleine Dörfer zu sehen, so wird auch diese Vorstellung schnell zurecht gerückt. Die Kleinstädte sind genauso, wenn nicht gar noch mehr verfallen als die jordanische Hauptstadt. Und so moderat Amman sein mag, hier in den kleinen Orten erleben wir eine konservative, traditionelle Welt.
Dann erreichen wir Madaba.
Mosaikstadt Madaba
Wir stellen das Auto ab und laufen zur Kirche. Die Greek Church, auch „Church of the map“ genannt, ist eine griechisch-orthodoxe Kirche, die das wohl älteste bekannte Mosaik enthält: die zweitausend Jahre alte Karte des Heiligen Landes. Die Kirche selbst wurde Anfang des 19 Jahrhunderts erbaut und dabei das unschätzbare Mosaik entdeckt, welches in den Bau der Kirche einfach mit integriert wurde und nun auf dem Kirchenboden aus rund zwei Millionen Steinen die älteste kartographische Darstellung der Welt bildet.
Obwohl sich Madaba traditionell gibt, ist man hier deshalb logischerweise an Touristen gewöhnt und wir sehen auch einige von ihnen in der Stadt.
Es wäre zu viel gesagt, dass die Kirche gut besucht ist. Für ein Kulturerbe solcher Größenordnung ist die Besucherzahl recht bescheiden, was vermutlich nicht zuletzt am Abfall der Touristenzahlen im gesamten Land liegt.
Djamal* führt uns zur Kirche. Für mich ist der Eintrittspreis mit in der Tour enthalten, jedoch bekomme ich am Rande mit, dass sich der Ticketpreis auf circa drei Dinar beläuft. Drinnen erklärt uns Djamal* die Mosaik am Boden, eine exakte Karte des Nahen Ostens, oder was von dem Mosaik übrig blieb. Ich lausche den Infos, die ich bereits von meinen Recherchen her kenne und wünsche, er würde uns für einen Augenblick alleine lassen. Ich möchte nicht von Sehenswürdigkeit zur Sehenswürdigkeit rasen, ich brauche Zeit, Zeit zu betrachten, Zeit, um mir bewusst zu werden, was ich da sehe, das biblische Alter dessen, das da vor mir in akkurater Kleinstarbeit auf dem Boden gelegt worden ist. Irgendwann zieht er sich zurück und Mira und ich streifen alleine durch das kühle Kircheninnere.
Auch die Bilder an den Wänden, die Heiligen, die Kamele und Zeichen sind Mosaiken, kunstvoll aus kleinen Steinen gelegt. „Schau mal.“
„Die sind aber nicht so alt.“ Sagt Mira. „All das ist jünger. Das wirklich tolle hier ist das Bodenmosaik.“ Mira ist gelernte Geographin und kann wie kaum ein anderer Mensch die Lage und Ausrichtung der Orte und Gegenden auf der Karte nachvollziehen. Auch mitten in der Landschaft bereitet es ihr keinerlei Probleme, sich zu orientieren und ich frage sie, ob das angelernt oder angeboren ist. „Setz mich irgendwo aus, ich finde mich zurecht.“ Und das tut sie, wie ich später feststellen soll, mit schlafwandlerischer Fähigkeit.
Draußen dann lassen wir uns etwas Zeit, um zusammen mit den anderen Besuchern die Abbildung der Karte zu betrachten, danach geht es weiter. Wir schlendern zurück und erkunden langsam gehend die Stadt. Die anderen Mosaiken von Madaba sind weitestgehend während Bau- und Abrissarbeiten entdeckt worden, viele von ihnen sind im archäologischen Museum der Stadt zu sehen.
Ich hatte damit gerechnet, Madaba als eine schöne, gemütliche Kleinstadt zu sehen, ein schmuckes Juwel mitten in der Wüste, doch wieder einmal erfüllten sich die Vorstellungen nicht, denn der Ort ist in etwa genauso bröckelnd, heruntergekommen und chaotisch wie all die anderen Ortschaften zuvor. Die Stadt ist alt und hat auch einen sehr alten Kern, manchen Gebäude sind mehr als tausend Jahre alt. Und doch sind die Städte hier in keinster Weise mit denen in Europa vergleichbar, vielmehr fühlt sich Mira, die beides gesehen hatte, eher an die Städte in Indien erinnert.
Traditionell geprägt zeigen sich die Städte und Dörfer nach Verlassen der Hauptstadt Amman. Kaum irgend eine Frau lässt sich ohne Kopfbedeckung blicken und auch eine Vollverschleierung ist keine Seltenheit. Alte Männer mit langen Gewändern und Kufiya, der jordanischen Kopfbedeckung aus gewebtem Tuch, wandeln entlang der staubigen Wege oder sitzen im Schatten der Läden und Häuser. Sie rauchen, reden, beobachten. Sie haben viel Zeit. Wir werden interessiert beäugt, auch von den Taxis und vorbeifahrenden Autos, doch keineswegs auf unangenehme Weise angestarrt. Zugegeben lassen wir auch mit den großen Kameras um den Hals den Touristen raushängen, doch gibt uns das auch eine gewisse Narrenfreiheit. So wundert sich niemand, als wir ab und zu mal um ein Foto bitten.
„Das müsst ihr euch anschauen.“ Sagt Djamal* und zeigt auf ein sehr altes Restaurant. Er wartet draußen, während wir hinein gehen und fragen, ob wir nur mal gucken und ein paar Bilder machen dürfen. Mir ist das etwas unangenehm, doch Mira ist schmerzbefreit. Und wir werden auch nicht abgewiesen, man gibt uns freundlich die Erlaubnis, uns nach Belieben umzusehen.
Das Lokal sieht sehr alt aus, die gemauerten Wände bilden einen teilweise überdachten Innenhof. Es ist fast leer, jetzt um die Vormittagszeit ist noch niemand an einem Essen interessiert. Große Olivenbäume wachsen im Innenhof und ein zweiter Durchgang offenbart einen zweiten Hof mit einem uralten, kleinen Käfer. Über eine enge Treppe gelangt man auf die Terrasse, von der aus wir teilweise die Dächer unter uns sehen können. Auch hier wachsen Olivenpflanzen; die leeren Büchsen diverser Öle dienen als improvisierte Blumentöpfe.
„Kauft hier keine Souvenirs.“ Sagt uns Djamal* im Vorfeld, denn sie würden teuer sein. Doch viele der ausgestellten Krimskrams sind mit Festpreisen ausgezeichnet. Es gibt Schmuck, Kleidung und Diverses und ich vermute, dass viele dieser Läden weniger den touristischen Bedarf, sondern vielmehr die Herzen der Bewohner erfreuen sollen.
An einem Stand bleibe ich stehen, es gibt hier Barbies in traditioneller, jordanischer Kleidung. Jede Barbie sieht anders aus und die Kleider sind eine einzige Pracht. Jede dieser Kleider ist per Hand bestickt worden und jedes dieser unterschiedlichen Bekleidungen steht eigens für ein Gebiet Jordaniens, in dem solche Kleider von Frauen getragen werden. Ich laufe rein und kaufe mir zwei der Barbies zum Preis von je einem Dinar. Später finde ich Pulver für die Augen, wie es arabische Frauen benutzen; ich kenne es bereits, es handelt sich um Steine, manchmal schwarze Kohle, manchmal anthrazitfarbenes Gestein, das zu ganz feinem Pulver zerrieben, das in Fläschen abgefüllt und mit einem kleinen Stab für die Umrandung der Augen verwendet wird. Das Einkaufen ist sehr angenehm, denn niemand hält uns irgend etwas unter die Nase oder redet auf uns ein. Wir werden auf respektvolle Weise in Ruhe gelassen, so dass wir schauen können. Das sollte ich an den wirklich touristischen Orten noch anders erleben.
Als wir weiter fahren, erzählt mir Mira ihre Reisegeschichte. Sie arbeitet im Reisebüro und organisiert Busreisen für Gruppen, doch diese Arbeit erfüllt sie nicht. Deshalb war sie immer wieder für eine lange Zeit unterwegs, nicht zuletzt in Indien. Und in dieses Land hatte sie sich unsterblich verliebt, was sich unter anderen an der Häufigkeit bemerkbar machte, mit der sie es erwähnte und all das, was sie sah, mit Indien verglich wie ein Verliebter, der alles und jeden an dem einzigen, angebeteten Menschen misst. Und auch, als sie zurück nach Deutschland kommt, ist es für sie eine Umstellung, denn sie liebt das Chaos. Oder besser: die Geschäftigkeit indischer Städte und Märkte.
„In Deutschland funktioniert alles wie es soll.“ Sagt sie und fügt hinzu: „Das ist mir zu langweilig.“
Wir fahren weiter den wunderschönen Kings Highway entlang, haben die Ortschaften längst hinter uns gelassen. Die Straße schlängelt sich kurvig vor uns und ab und zu offenbart sich ein eindrucksvoller Ausblick auf Berge und Ebenen. Trocken, alles ist karg und trocken und in Sand und Sepia getaucht. Manchmal liegt ein Schafskopf am Straßenrand, den die Beduinen vor nicht so langer Zeit abgeschnitten hatten und das geronnene Blut bildet eine kleine, dunkle Pfütze. In der Ferne sehe ich wieder einmal Zelte und Kamele, ab und zu qualmen kleine Feuer vor sich hin, an den Rauchsäulen erkennbar. „Oh, da kocht sich jemand was.“ Sage ich naiver Weise, doch es ist Müll, der in der Sonne und der Hitze brennt.
Wir kommen zum Berg Nebo, dem Teil eines Plateaus, ausgerichtet zum Toten Meer hin. Der Berg ist 808 m hoch und lässt über das Jordantal bis nach Israel blicken. Djamal* bleibt vor dem Eingang stehen und wir betreten durch eine Drehschranke das Gelände um den Berg und die Kirche herum. So angenehm es auch ist, einen erfahrenen Guide dabei zu haben, so sehr genießen wir es jetzt, auch einmal „von der Leine“ gelassen zu werden. Schon kurze Zeit später stehen wir an der kleinen Mauer am Aussichtspunkt und obwohl weder Mira noch ich so sehr auf Aufnahmen von uns selber stehen, lassen wir es uns nicht nehmen, ein paar gegenseitige Bilder von uns zu machen.
Der nebelhafte Ausblick zeigt uns einen Teil Jordaniens, Israel und das Tote Meer und hier zeigt sich wieder einmal Miras hervorragende Orientierung. Exakt weiß sie zu sagen, in welche Richtung wir gerade schauen und der Blick in die Ferne scheint für sie keine Geheimnisse zu bergen. Der Himmel ist nicht durchgehend klar, diffuse Schleierwolken bedecken die Sonne und lassen das Licht wie durch Milchglas auf die Erde fallen. Doch trotzdem ist es heiß, heiß und schwül, als würde irgend etwas in der Luft hängen. Und gleißend, gleißend ist das Licht, trotz seiner trüben Erscheinung. Ich hole meine Sonnenbrille aus der Tasche.
Der Berg Nebo
Der Berg Nebo hat für Christen und Juden gleichermaßen eine große, religiöse Bedeutung, denn laut Altem Testament war es dieser Berg, auf dem Moses stand und hinüber auf das Gelobte Land, wohl in Richtung des heutigen Israel, blickte. Es war ihm jedoch nicht gegeben, das Gelobte Land selbst zu betreten, denn Gott sprach zu ihm: Du wirst das Land sehen, in welches du das israelische Volk geführt hast, und dann wirst du sterben. Da ich als Kind in Polen eine katholische Erziehung genoss, die mir zu großen Teilen selbst einigen Spaß machte, hatte ich bereits mit acht Jahren die ganze Bibel gelesen und kannte – kenne heute noch – die gesamten biblischen Überlieferungen. Was nicht schwer war, denn es hatte sich um eine Kinderbibel mit einfachen Texten und vielen bunten Bildern gehandelt.
Die Kirche auf dem Nebo-Berg, die Nebo-Kirche, wurde 393 nach Christus erbaut. Alt sind die Mosaiken in ihrem Inneren, neu die in kräftigen Farben leuchtenden Buntglasfenstern. Doch was wir hier betreten, ist nicht die ursprüngliche Kirche, denn von dieser sind nur ein paar Reste und Teile eines Bodenmosaiks enthalten. Mira winkt mich energisch zu einer Seitenkapelle, wo ein Bodenmosaik aus dem 6 Jahrhundert Tiere wie Kamele, Reiter und Jagdszenen zeigt. Ich bin beeindruckt und sie lächelt zufrieden in sich hinein.
Überhaupt scheint die Chemie zwischen uns zu stimmen, denn zum großen Teil gehen uns die gleichen Dinge durch den Kopf. „Ich würde so gerne bleiben und einfach mal da den Berg entlang gehen.“ Sagt sie und deutet auf einen steinigen Pfad. „Einfach mal sehen, wo er hinführt.“ Auch bleibt sie als Hobbyfotografin überall mal länger stehen, was auch meinem Bedürfnis entspricht, die Dinge mal länger zu betrachten. Geschlagene zehn Minuten stehen wir da, um das bestmögliche Foto einer einsamen Echse zu erhaschen, die sich unbeweglich auf einem Stein in der Sonne wärmt.
Als wir Berg Nebo verlassen, stehen touristische Kamele da und warten darauf, Besucher hin- und wieder zurück zu bringen. „Beduinen“ mit Turban sehen malerisch aus neben den geschmückten Tieren, deren Sattel rot und mit Fransen versehen sind. Auch solch „touristische“ Esel samt Reiter begegnen uns auf dem Weg hinab. Neugierig beäuge ich die Kamelsattel. Nicht nur einmal habe ich gelesen, dass das Reiten auf diesen Tieren eine einzige Tortur sein soll, doch ich bin neugierig und die Sattel sehen eigentlich ganz bequem aus. Auch Mira hat das Vergnügen auf einer ihrer früheren Reisen durch Marokko bereits ausprobiert. „Wenn du Kamel reiten möchtest, musst du das alleine machen.“ Sagt sie und lacht. Scheinbar hat auch ihr danach der Poppes weh getan.
Manchmal bleiben wir stehen, um das Tote Meer zu fotografieren. Oder die Aussicht. Doch tatsächlich führt uns der Weg nun abwärts zu einem der größten Binnenseen, dessen Wasserfläche 428 Meter unter dem Meeresspiegel liegt und jedes Jahr schwindelerregend schnell um je knapp einen Meter sinkt. Laut den Meldungen wollen Jordanien, Israel und die Palästinenser gemeinsam ein gigantisches Projekt starten, den Bau des sog. Friedenskanals, welcher Wasser vom Roten Meer hin zum Toten Meer leiten soll. Der Start des Projekts ist für 2018 geplant.
Das Tote Meer
Es ist bedeckt, wolkig, aber heiß und der Dunst hängt über den Hängen der Berge und verhüllt die Sicht wie in einem Traum, in dem man durch helles Milchglas wandelt. Wir parken das Auto vor der Anlage, die einen kontrollierten Zugang zum Strand bildet. Die gesamte Wellnessoase verfügt über Umkleidekabinen, Duschen, Toiletten, diverse Shops und ein Restaurant, die Tickets werden uns von zwei stark geschminkten, gelangweilten Damen ausgehändigt. In Mabada sah ich wunderschön geschminkte Frauen und war voller Bewunderung für diese Kunst, ihre Augen wie die eines Rehes aussehen zu lassen. „Sie haben die perfekten Augenbrauen!“ Sagte ich zu Mira. Nun schubst sie mich leicht an und meint: „Aber das ist zu viel, oder?“ Ich nicke unbemerkt.
Meine Bedenken bezüglich unseres Guides erweisen sich ziemlich schnell als unbegründet. Ein wenig sorgenvoll hatte ich mich auf dem Weg hierher gefragt, wie dies wohl sein würde: würde Djamal* im Wasser neben uns plantschen wollen? Doch er zeigt uns die Umkleiden, fragt, ob wir sonst noch etwas bräuchten und zieht sich dann zurück, um an einem der vielen Tische aus Plastik mit ein paar Bekannten zu rauchen und zu quatschen. „Lasst euch so viel Zeit, wie ihr braucht.“ Sagt er noch. Mit Handtüchern, Badekleidung und neu erworbenem Freiraum spazierten wir nun davon.
Habe ich bislang immer das allein Reisen bevorzugt, so genieße ich es im Augenblick sehr, Mira an meiner Seite zu wissen, teils dank ihrer Erfahrung, was Travelling an sich betrifft – wer so viel Ruhe und Gelassenheit in sich trägt, vermittelt einem selbst ein sicheres Gefühl – teils auch, weil sie an die kleinen Details denkt, die mir entgangen wären wie an ein großes Tuch, um es um die Hüften zu schlingen oder an die Sonnencreme. Und ein wenig mache ich mir doch Gedanken über die Kleidung hier, denn obwohl mir Djamal* als auch Mira mehrmals versichern, einen Bikini zu tragen sei hier völlig okay, so entscheide ich mich doch dafür, meine weiße Bluse über dem Oberkörper anzulassen. Nicht zuletzt deshalb, weil wir ein ganzes Stück über das Gelände gehen müssen, vorbei an unzähligen Tischen, Stühlen und den schon erwähnten Shops, um zum Strand zu gelangen. Auch Mira lässt vorerst ihre schwarze Tunika an.
Auf dem Weg zum Strand kommen uns schwarze Menschen entgegen. Die Schwärze kommt aus kleinen Eimerchen, die der Besucher an einem kleinen Stand erstehen kann. Unser Guide hatte uns jedoch im Vorfeld von einer solchen Schlamm-Behandlung abgeraten, denn der hier verkaufte Schlamm sei unbekannter Herkunft und Zusammensetzung und zudem noch überteuert. Für eine solche Behandlung sei es besser, Ware aus Apotheken oder dem Fachhandel zu beziehen.
Am Strand selbst ist überraschend wenig los. Einige Familien plantschen bereits im Wasser oder lassen sich an der Oberfläche treiben. Meine Bedenken bezüglich Badekleidung waren nur zum Teil begründet, denn wir sehen einen bunten Mix der Kontraste: Europäer und Israelis in knappen Bikini und ein paar Meter weiter Frauen, die in Burkinis, den geschlossenen Badeanzügen für Muslima inklusive Kopfbedeckung, ins Wasser gehen. Eine üppige Schönheit zeigt in einem knappen, roten Bikini unbekümmert ihre Kurven; da habe ich mir wohl zu viele Sorgen gemacht, fühle mich jedoch in der weißen Bluse etwas komfortabler.
Wir besetzen zwei der am Wasser stehenden Stühle und gehen ins Wasser. Die Temperatur ist selbst für meine Begriffe angenehm warm und so lasse ich mich fallen. Das Salzwasser macht die Haut ab der ersten Minute weich und geschmeidig und hinterlässt einen seidigen Film, doch an die Lippen oder ins Gesicht sollte man es nicht bekommen, wie ich schnell feststellen sollte – außer man hat Lust, sich wie Pöckelfleisch zu fühlen, denn das Salz zieht an den Schleimhäuten das Innere nach Außen. Ich lege mich auf den Rücken – für das obligatorische Foto sorgt eine jordanische Tageszeitung, die wir an einem der Stühle gefunden haben. Kasia liest eine jordanische Zeitung im Toten Meer – in arabisch, alles klar!
Ich lasse mich treiben und schließe die Augen. Das schöne ist, dass man keine Angst zu haben braucht, durch eine unbedachte Bewegung unter zu gehen. Ab und zu die Augen öffnen, um zu schauen, wo die anderen sind, schließlich will ich, so im Wasser treibend, nicht mit meinem Kopf an einem der anderen Menschen hängen bleiben.
Nicht so schön sind die zwei Männer, die wie aus dem Nichts auf der anderen Seite des Zaunes auftauchten und nun die ganze Zeit den Strand beobachten. Die beiden kommen augenscheinlich aus einem der umliegenden Dörfer und es ist für sie ein Leichtes, den abgesperrten Bereich zu umgehen; der Zaun, der den Strand in Abschnitte teilt, ist ein Witz. Durch das ständige Starren fühle ich mich nicht wohl, trotz der Bluse, die meinen Körper verdeckt und wir lassen unsere Sachen am Stand keinen Augenblick lang aus den Augen. Denn entweder haben es die beiden auf Wertsachen abgesehen oder „nur“ auf Frauen. Wie denn auch sei; hatte ich mich im Vorfeld gefragt, ob ein kostenpflichtiger Besuch einer Badeanlage wirklich sein muss, um im Meer zu schwimmen, so weiß ich jetzt, ja, es ist einfach sicherer.
Trotzdem schaffen wir es, unsere Zeit im Wasser zu genießen. Ich vielleicht etwas mehr als Mira, der die Wunde an ihrem Zeh ganz schön zu schaffen macht – hier bekommt der Satz Salz in die Wunde streuen auf einmal ganz reelle Farben…
Als dann so um die Mittagszeit größere indische und chinesische Reisegruppen auftauchen, beschließen wir, zu gehen, nicht ohne vorher angemerkt zu haben, welch Glück wir doch hatten, diese kurze Zeit ohne Andrang. Die Inderinnen bilden einen weiteren Kontrast an diesem Strand, denn sie gehen in ihrer Kleidung ins Wasser. Oder vielleicht nicht ganz, denn Mira kennt die kleinen, feinen Unterschiede. So zeigt sie mir zwei Damen in etwas schlichteren, langen Hemden und sagt: „Das hier ist in Indien eigentlich Schlafkleidung…“
Fühlte sich die Haut im ersten Moment seidig, so fühlt sie sich jetzt, nach einiger Zeit im Wasser, seltsam und verquollen an. Höchste Zeit, sich zu verabschieden, zudem auch die Umkleiden nun gestoppte voll sind. Draußen steht einer der Dorfmänner am Zaun und beobachtet das Treiben in der Anlage. Drinnen sehen wir keine Chance, uns ohne anzustehen unter eine der Duschen zu begeben, die einige der weiblichen Badegäste missverständlicher Weise auch als Umkleidekabinen zweckentfremden, was ewig lange Wartezeiten zu Folge hat. Eine ältere Inderin drängt sich vor uns und macht Anstalten, uns einen Duschenplatz streitig zu machen, doch Mira sagt nur zu mir: Keine Sorge, ich bin bereit. Sie erkämpft für uns die Dusche und weist die andere Dame zurecht, ehe ich überhaupt begriffen habe, was sie mit bereit meinte. Auch dafür ist ein zweites Mädchen gut… 🙂
Katzenwäsche hin oder her, als wir die Räume in Richtung Restaurant verlassen, spüre ich trotz allem noch, wie das Salz in meinen Haarspitzen aushärtet.
In unseren Tickets war ein optional buchbares Mittagsbuffet dabei, doch leider ohne Getränke. „Wir trinken später draußen.“ Meint Jafar*; vermutlich würden hier die Getränkepreise alles weitere übersteigen. Wir sitzen da und essen; Fliegen schwirren unermüdlich um uns herum in der Hoffnung, einen kleinen Happen für sich abzugreifen. Die Kellner schwirren unermüdlich um uns herum in der Hoffnung, uns doch noch zu einem Drink überreden zu können.
*Die Namen wurden geändert