„Soll ich dir wieder diese Kringels mitbringen, wenn sie mir über den Weg laufen?“ Frage ich meine Kollegin. Sie hält inne in ihrem Tun, grübelt, lächelt. Ich weiß; sie will welche. Denn am Samstag, d. h. morgen, heißt es für mich wieder: Taschen packen, es geht nach Polen 🙂
Man kann verschiedene Ecken Polens mit dem Bus mit dem fantasievollen Namen Sindbad der Linie Eurobus erreichen. Die Buskarten können sowohl vorab reserviert wie auch im Reisebüro „Chopin“ am Mannheimer Hbf in der Tattersallstraße 12 erworben werden, eine Hin- und Rückfahrt nach Warschau kostet 116 Euro. 18 Stunden – darin sind bereits Pausen- und Umsteigezeiten eingerechnet. Denn die Fahrt nach Warschau erfolgt – aus organisatorischen Gründen – mit einmaligen Umsteigen.
Unser junger, weiblicher Scout Asia tätigt gerade eine Durchsage. Es gibt zwei Fahrer, die sich aus Gründen der Sicherheit während der Fahrt abwechseln. Der Bus verfügt über eine Minibar; Getränke können für 1 Euro ersatzweise 4 PLZ erworben werden, es gibt Cola, Wasser und Tee. Desweiteren verfügen die Busse über W-lan und Lademöglichkeit.
Ich sitze oben und schaue durch das große Panoramafenster auf das sich verdunkelnde Mannheim. Die Busse sind neu und mit allem Komfort ausgestattet.
Bis zur Grenze hält die Linie noch an einigen Stationen; es werden weitere Passagiere aufgenommen. Über Nacht sind die Pausen weniger (da ich die Nacht immer durchschlafe, habe ich das noch nie so verfolgt). Nach der ermüdenden Autofahrt vom letzten Mal habe ich nun den Bus genommen – Tavor schlucken und schlafen. Ich habe das Glück, dass ich auf solchen Fahrten sehr gut schlafen kann; vielleicht ist es aber auch die langjährige Gewohnheit – ich fahre schon seit Jahrzehnten mit dem Bus nach Hause.
Hatte ich mal gesagt, dass die Polen sehr zurückhaltende Menschen sind? Oder hatte ich das das mal geschrieben? Auf jeden Fall dachte ich es bisher, doch heute revidiere ich diesen Eindruck sofort: während der Wartezeit hatten sich schöne, herzliche Gespräche ergeben – Small talk, ja, aber sehr nett. Die polnische Sprache verbindet, genauso wie die Tatsache, nach Hause zu kommen.
Der blutrote Sonnenuntergang lässt mich beim Schreiben inne halten. Als hätte sich ein Mord am Himmel ereignet.
Apropos Mord – London würde ich gerne im November sehen, düster, neblig, alt und geheimnisumwoben. Da hat Sonnenschein nichts verloren. Jack the ripper hatte auch nur des Nachts gemordet. Oh ja, noch eins für meine Löffel-Liste: An einer geführten Jack-the-ripper-Tour teilnehmen.
Langsam lasse ich die Tavor-Tablette in meinem Mund zergehen. Den nächsten Halt – Darmstadt – bekomme ich gar nicht mehr mit. Ich schlafe einen fantastisch erholsamen Schlaf. Auf einer Busreise ist das ein Segen. Irgendwann, mitten in der Nacht, stupst mich etwas an. Ich versuche, es zu ignorieren, doch das Stupsen wiederholt sich. Also öffne ich die Augen.
„Sie fahren nach…?“ Unser Scout Asia beugt sich über mich.
„Warschau…“ Antworte ich verpennt.
„Dann steigen Sie gleich um, die Nummer Ihres Busses ist 127.“ Sie drückt mir einen handgeschriebenen Zettel in die Hand.
Dann, in Słubice, stehe ich draußen vor dem Bus und friere. Es ist nachts um drei. Mit mir zusammen warten noch weitere Passagiere darauf, dass ihr Gepäck abgeladen wird. Die glücklichen, die eine Direktfahrt ihr eigen nennen dürfen, wechseln stattdessen fröhlich in Richtung Bar, Restaurant und Toiletten.
Diesmal werden die Sitzplätze nicht zugeteilt. Doch ich quetschte mich zielstrebig an einen Fensterplatz. Auf der hin- wie auch auf der Rückreise werden abends Filme gezeigt. Es sind meist Komödien „für die ganze Familie“, doch manchmal, wenn es später wird, wird es auch mal verruchter. Die Filme werden auf polnisch und nicht synchronisiert ausgestrahlt. Wer möche, schaut mit, wer nicht – schläft. So wie ich, jetzt hier, im zweiten Bus, nachdem mein Gepäck wieder einmal sicher verstaut wurde. Ich schlafe so lange, bis ich irgendwann mitbekomme, dass es hell geworden ist und eine junge Mutter vor mir laut zu ihrem Sprössling sagen höre: „Steh auf, wir müssen zusammen packen – gleich sind wir in Warschau!“ Schnell denke ich daran, meine Sachen zusammen zu suchen, jedoch… die Tasche ist in meinem Arm (Kissen-Ersatz), der Mantel ist an meinem Leib… fertig!
Warschau-Ost, Busbahnhof.
Kalt. Der Himmel ist grau in grau. Ich warte auf meine Mutter, die mich abholen soll und frage mich, wie sie es wohl schaffen wird, so fahr-unerfahren wie sie ist, hier durch den Verkehr zu kommen. Unerwartet früh sehe ich sie mit ihrer Freundin Ela den Bahnhof betreten. So also!
„Ich wusste nicht, dass du kommst, deshalb war ich noch nicht einkaufen.“ Sagt sie.
Es ist nichts neues. Obwohl ich immer frühzeitig Bescheid sage, ist jedes Mal die Überraschung groß.
Zu Hause gibt es Suppe, traditionelle Piroggen und leckeren, ungesunden Kuchen. Mein Opa hat eine gesunde, braune Farbe im Gesicht bekommen. Hund und Katze erkennen mich. Das ist gut.
Ich weiß nicht, ob’s dem Wetter geschuldet ist oder dem Tavor, doch ich verschlafe den ganzen Tag. Doch es tut gut, mal nichts zu machen, sich um nichts weiter zu kümmern.
Ela, die Freundin meiner Mutter, ist eine quirlige, lebenslustige Frau. Vermutlich werden wir zusammen zu dritt wegfahren, etwas unternehmen. Meine Mutter will in den Kampinos, doch bei dem Wetter (wir erinnern uns: grau in grau) zieht’s mich nicht in den Wald.
Ich bin froh, dass es meinem Opa gut geht. Erleichterung.
Das Gefühl von Zuhause; ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was das ist. Meine Mutter hatte es bisher immer und überall geschafft, einen Ort zu einem Zuhause zu machen. Ihr mir viel zu großer Pulli, der am besten wärmt. Die Blumen draußen im Garten, die Obstbäume. Der Hund, der mir wie selbstverständlich überallhin folgt, während ich meine Arbeit verrichte, ganz so, als würde sie zu mir gehören und über mich wachen. Der Satz: Ich hole dir die Daunendecke vom Speicher, die wird dich viel besser warm halten.
Ich helfe draußen, die Thujen zu pflanzen. Aza folgt mir auf Schritt und Tritt. Ab und zu legt sie sich auf den Boden und lässt sich kraulen. Dann bereite ich Essen vor. Die Katze schleicht um mich herum, verfolgt jede meiner Bewegungen, lauert auf Essbares. Opa schleicht um mich herum, beobachtet jede meiner Bewegungen, wartet aufs Mittagessen. Inzwischen sitzt die Katze auf dem Stuhl und sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. Und kaum ist der Salat fertig, die Beilagen aufgewärmt, kommt schon meine Mutter aus dem Garten, ganz so als hätte ich sie telepathisch gerufen.
Gegessen wird immer in der Küche; nie beim Fernsehen, immer zusammen; nie jeder für sich. Früher, als meine Oma noch lebte, nutzte man die Mahlzeiten als eine Gelegenheit dazu, gemeinsam den Tag revue passieren zu lassen, einfach um zu reden. Danach war jeder entlassen, ging seine Wege. Doch es würde niemandem auch nur im Traum einfallen, sein Essen, wie es hier oft Unsitte ist, mit vor den Fernseher zu nehmen.
Mein Onkel kam zu Besuch, erzählte von den Wanderungen mit seinen Kindern über die Gipfel der polnischen und slowakischen Tatren. Wie schön es ist, Kinder zu haben, mit ihnen lachen und Unsinn machen zu können. Dass ihm ohne etwas fehlen würde.
Seine linke Hand ist verbunden. Die starken Schmerzmittel wirken nach, er hat Fieber, versucht es aber nicht zu zeigen. Am Donnerstag geht es ins Krankenhaus. Später schreibe ich Stefan: „Mein Onkel hat sich sehr über deine Grüße gefreut. Lieben Gruß zurück. Er muss ins Krankenhaus; sich einen Schraubenzieher durch die Hand zu rammen ist kein Zuckerschlecken…“
Nicht mal die Katze will raus
Der Oktoberhimmel bildet weiterhin ein fröhliches Grau in Grau und ein kalter, schneidender Wind fegt durchs Land. Das Auto jault und gibt bei jedem Anfahren grelle Schmerzensschreie von sich. Ein Mofa-Fahrer, der sich gewagter Weise auf unserer Spur eingefunden hat und gemütlich entlang tuckert, entgeht nur knapp dem Schlimmsten.
Ich sitze auf dem Beifahrersitz und meine entspannte Haltung ist reine Farce – denn meine Augen sind überall; mein Überlebensinstinkt gebietet mir, den Verkehr im Auge zu behalten und meiner Mutter beim Fahren gut zuzureden.
Ziel dieser Übung ist es, meinen Nichten ein Mitbringsel zu besorgen; dafür fahren wir bereits die zweite Ortschaft an. Es ist jedes Mal ein Elend: Was schenkt man Kindern, die schon alles haben? Oder besser noch: von denen man nicht weiß, was sie noch nicht haben. Und die zudem eigentlich keine Kinder mehr sind.
Die beiden gehen wandern, vorzugsweise in den Bergen. Das Angebot im zweiten Geschäft ist, was die Sportabteilung betrifft, relativ eingeschränkt. Mit zwei Trinkbechern zum Einhacken für den Gürtel und integrierter Abdeckung spazieren wir schließlich raus. Und hoffen, dass die zwei so etwas nicht schon haben. Sicher, es gibt noch Decathlon – irgendwo in Warschau.
Als wir fertig sind, ist es nachmittags um vier.
Das war gestern. Heute morgen um halb neun – das ganze Haus schläft, nur die Katze ist wach. Zum Grau in Grau gesellt sich nun ein stetiger, feiner Nieselregen. Selbst die Katze mag ihre Schnauze nicht aus der Tür stecken. Nur der Hund tapst fröhlich durch die Wasserpfützen. Über den trüben Himmel fliegt eine Schar schwarzer Krähen und die weißen Lampions auf der Terrasse wanken im Wind hin und her. Ja, windig ist es auch noch; die biegsamen Äste der Birke hinter dem Nachbargrundstück wirbeln im Wind herum wie das flatternde Kleid einer Flamingo-Tänzerin. Draußen sehe ich meine Mutter in gefütterter Weste und farbintensiven, pinkenen Mütze abgestorbene Pflanzenreste im Garten zusammen rechen. Doch auch das Pink ihrer Kopfbedeckung vermag das Grau in Grau nicht zu vertreiben; alles verschmilzt zu einer undefinierbaren Einheit.
Der Herbst hat alles in seinem kalten, feuchten Griff.
Doch ich kann nicht leugnen, dass auch dieses Wetter seinen gewissen Reiz hat. Alles rückt näher zusammen. Die Kleidung wird warm, kuschelig, gemütlich.
Opa kreist mangels Alternativen über den Flur. Er steckt den Kopf durch die Tür; ich schaue von meinem Block auf.
„Na, was plant ihr denn?“
„Wir planen nichts.“ Der Kopf verschwindet wieder; tappende Schritten entfernen sich.
Etwas planen wir schon noch. Wir planen, heute Spiritus und Honig zu kaufen – für selbstgemachten Honigwodka. Und nachdem man ihn angesetzt hat und ihn einen Tag und eine Nacht lang ziehen lässt, kann man ihn morgen Abend trinken.
So, der Wodka ist in Arbeit und Opa läuft singend den Gang entlang. Fetzen alter Vorkriegs-Lieder dringen zu mir ins Zimmer. Meine Mutter spielt in der Küche die Hexenmeisterin. Gerührt, nicht geschüttelt… 🙂
Das war: Polen, Oktober 2016