Ein schöner Tag, die Wolken jagen den blauen Himmel entlang und die Sonne wärmt schön meinen Nacken. Ich sitze am Ufer der Bzura in Łowicz; einer polnischen Stadt mit alten Bauten und einer lange Tradition.
Im Gebüsch höre ich einen Wasservogel rufen, doch er zeigt sich nicht – schwer zu sagen, was es ist. Nun antwortet ein zweiter, ein dritter und ein vierter… es ist nun ein ganzer Chor, der nur langsam verstummt, bis der erste Vogel wieder zu rufen beginnt.
Hinter mir höre ich ein „Halt! Komm wieder her!“ Drehe mich um und sehe einen mittelgroßen Hund, der mich mit gespitzten Ohren aufmerksam beobachtet. Der Besitzer kommt gleich hinterher gelaufen: „Der beißt nicht.“ Wir wünschen uns einen angenehmen Tag und Herrchen und Hund gehen weiter.
Heute ist Christi Himmelfahrt. Deshalb ging ich davon aus, dass fast alle meiner Landsleute entweder zu Hause vor dem Allerheiligsten sitzen, und das ist der Fernseher, oder in der Kirche sind. Ich sollte noch eines Besseren belehrt werden! Wieviel sich hier verändert hat – oder vielleicht bin ich bislang immer fälschlicherweise von den Gewohnheiten ausgegangen, die meine Großeltern an den Tag legten…?
Schon als ich in Łowicz ankam und mich in Richtung Stadtzentrum bewegte, fielen mir die vielen Menschen auf den Straßen und die Massen an parkenden Autos auf. Mit Mühe fand ich dann in einer engen Seitengasse eine (halbwegs legale) Parkmöglichkeit unter einem Baum, da aber die anderen auch alle so standen… Ich schloss das Auto ab und ging weiter zu Fuß in Richtung „Alter Marktplatz“, und je näher ich kam, umso mehr Menschen kamen mir auf der Straße entgegen.
Ich kannte bereits unsere Gepflogenheiten bezüglich de Kleiderordnung an Feiertagen und zog mich vorsorglich sehr elegant an; ein anliegendes Wollkleid, dazu hohe Schuhe. Okay, vorhin am Flussufer war das ein bisschen deplatziert… aber auch wieder nicht. Denn Polinnen ziehen sich immer sehr elegant an, selbst wenn sie „nur“ spazieren gehen. Doch hier, mitten in der Stadt, wirkte ich kein bisschen fehl am Platz, denn meine Landsmänninnen sahen eine schicker aus als die andere. Egal ob jung oder alt, erwachsen oder Kind, alle hatten sie sich herausgeputzt wie zum Staatsempfang. Manche Eltern kleideten ihre Kleinen in traditionell folkloristische Trachten aus unserer Region. Das waren bei Mädchen : eine weiße Bluse, ein farbiger, schwarz-grüner Rock mit Ornamenten, der bis über die Knie reichte, geschnürte Stiefel und bunt bestickte Kopftücher mit Blumenmustern. Bei Männern: Hosen, vorwiegend in braun-orange, ein weißes Hemd, darüber eine schwarze Weste und ein Hut, der meist mit einem samtenen Band geschmückt war. Dazu ebenfalls schwarze, geschnürte Stiefel. Diese Traditionskleidung kann man oft bei religiösen Festen und traditionellen Feiern bewundern.
Ach, siehe da… zwei Mädchen in solchen bunten Trachtenkleidern kommen mir entgegen! Soll ich sie vielleicht fragen, ob sie ein Foto… Sie laufen an mir vorbei, der Augenblick verstreicht. Ich gehe weiter.
Verkaufsstände mit bunten Bildern tauchen auf; ausgestellte am Straßenrand Gemälde, kleine, bunt bemalte Püppchen und Holzfiguren, bestickte Tücher, Kleider… alles im Zeichen der Folklore. Ich kaufe zwei bunt bekleidete Püppchen, eine für meine Mutter und eine für Sui. Die blonde Polinnen-Puppe mit den strahlenden Augen wird Sui an mich erinnern.
Die alte Dame am Verkaufsstand telefoniert; sie erzählt gerade jemandem am Telefon, wie wenig sie bis jetzt verkauft hat. Sie tut mir leid. Ich würde die Püppchen ja gerne, wenn sie doch nur das Telefon zur Seite…
Am nächsten Stand kaufe ich „Obwarzanki“, traditionsreiches Gebäck, welches es bei uns bei religiösen Feierlichkeiten oft zu kaufen gibt. Sie werden rund gebacken, wie etwas härtere Brötchen. Eigentlich erinnert die Form an Bagels. Sie werden reihenweise an einer Schnur aufgehängt und zu einer Kette gebunden. Viele Menschen, die Obwarzanki kaufen, tragen sie dann tatsächlich um den Hals. Als Kind fand ich das ganz toll, meinen „Schmuck“ immer anknabbern zu können.
Ich kaufte mir zwei solche „Ketten“, hing sie mir um den Hals, und sofort fing es vor meiner Nase an, nach frisch Gebackenem zu duften. Ein Taxifahrer fotografierte mich auf meinen Wunsch hin mit dem alten Rathaus im Hintergrund und der „Kette“ um den Hals. „Es wird ein wunderschönes Foto werden.“ Sagte er charmant. „Weil Sie so eine wunderschöne Frau sind.“ Die weiteren Meter schwebe ich nur so dahin, mit einem festgeklebten Lächeln auf dem Gesicht. Diese charmanten Polen!
Ein Transparent am alten Rathaus klärt mich darüber auf, weshalb hier heute so viel los ist: Łowicz feiert sein 800-jähriges Bestehen. Und von wegen, alle Geschäfte würden geschlossen sein, wie meine Mama prophezeihte (-willst du wirklich heute fahren?) Wohin das Auge schaut, fast alle Geschäfte haben geöffnet, und fast jeder, der noch gehen kann, ist draußen auf der Straße. Ich bin froh, dass ich hergekommen bin.
Der Stalker
Ich betrete die Kathedrale (Katedra pw Wniebowzięcia NMP). Wunderschön, barock eingerichtet, wie die meisten Kirchen in Polen. Stellenweise ist die Kirche renoviert, der Boden erneuert worden. Manche Menschen sitzen da und beten. Einige fotografieren. Doch geschieht das auf eine sehr rücksichtsvolle, unaufdringliche Art. Im hinteren Teil der Kirche, um die Betenden nicht zu stören, findet eine Führung statt. Mir fällt ein Mann auf, der sich, seit ich die Kirche betreten habe, fast die ganze Zeit um mich herum aufhält, unabhängig davon, in welchem Teil des Raumes ich mich gerade befinde.
Ich teste. Laufe ans andere Ende des Ganges. Drehe mich abrupt um, als wäre mir gerade eben etwas eingefallen, und stoße dabei fast mit ihm zusammen. Also in die entgegengesetzte Richtung. Doch kurze Zeit später habe ich ihn wieder hinter mir.
Also doch. Ärgerlich. Ich warte einen Augenblick und passe einen Moment ab, in dem ein anderer Besucher ihn in ein Gespräch verwickelt, und schlüpfe schnell durch die Seitentür.
Draußen drehe ich mich nochmal um, um die Kathedrale von außen zu fotografieren. Da sehe ich ihn durch die Seitentür kommen. Er muss mich beim Hinausgehen beobachtet haben.
Verdammt.
Wie ich den Stalker in die Flucht geschlagen habe
Ich bleibe stehen, „beschäftigt“ mit dem Fotografieren. Der Mann kommt auf mich zu und fragt mich von der Seite:
„Sie waren noch nie in Łowicz, oder?“
„Und Sie verfolgen mich, ja?“ Ich habe keine Lust, höflich zu sein. Der Mann hat etwas an sich, das mir kalte Schauer über den Rücken jagt.
„Eh was, ich verfolge Sie bestimmt nicht. Das scheint Ihnen nur so. Verfolge ich Sie etwa?“ Fragt er mit einem schelmischen Grinsen.
„Ja, so scheint es mir tatsächlich.“ Antworte ich, den Blick weiterhin in die Kamera und auf das Gebäude gerichtet. Er geht weiter, läuft an mir vorbei. Ich laufe in die entgegengesetzte Richtung los. Doch nach einem kurzen Moment sehe ich, wie er sich umdreht und wieder hinter mir her ist.
Da hatte ich es dicke.
Ich bleibe stehen und fange an, ihn zu fotografieren. Er bleibt unschlüssig stehen und schaut mich erst einmal an, dann dreht er sich um und verschwindet in der Menge.
Doch einen Moment später habe ich ihn wieder hinter mir.
So. Das reicht. Ich drehe mich zu ihm um und gehe auf ihn zu. Die Kamera in der Hand, beginne ich wieder, Aufnahmen von ihm zu machen. „Vielleicht ein Foto, der Herr, wenn Sie mir schon überallhin hinterher schleichen?“ Ich hebe wieder die Kamera. Er drängt sich an mir vorbei und versucht dabei, sein Gesicht abzuwenden. Ich setze ihm nach:
„Noch ein Foto, der Herr, damit ich später zeigen kann, wer mich hier die ganze Zeit verfolgt.“
„Aber ich verfolge Sie doch gar nicht!“
„Dann verschwinden Sie!“ Ich zeige in die Richtung, in die er sich zu entfernen sucht. „Verschwinden Sie, da entlang! Ich will Sie hier hinter mir nicht wieder sehen!“ Er wirft mir einen spöttischen Blick zu, verzieht sich dann aber – ab da habe ich wieder meine Ruhe.
Ich gehe weiter, zu der Kościół Ojców Pijarów (Kirche der hl. Väter Pijard). Doch die Leichtigkeit ist dahin, ich bin auf der Hut. Als ich die Kapelle betrete, schaue ich mich mehrmals um. Doch ich sehe ihn nicht mehr.
Kościół Ojców Pijarów
Die Kirche ist von außen vielleicht nicht so imposant, aber was wirklich sehr beeindruckt, sind die farbenfrohen, harmonisch wirkenden Wand- und Deckenmalereien. Stellenweise sieht man frische Spuren; die Kirche wird restauriert, die Fresken erneuert.
Auch als ich die Kirche verlasse, bin ich alleine. Mein unfreiwilliger Begleiter hat anscheinend endgültig das Weite gesucht.
Ich schaue mir nochmal die Tafel mit den Sehenswürdigkeiten an. Hier soll es einen original erhaltenen, dreieckigen (!) Marktplatz geben, genannt „Der Neue Marktplatz“, der aber, ungeachtet der Namensgebung, aus Zeiten des Mittelalters stammt. Ach so, da entlang, gerade mal zwei Straßen weiter.
Auf dem Weg dorthin kommen mir zum zweiten mal heute Trachtenträger entgegen. Es ist ein junges Pärchen. Jetzt, denke ich… die sind mir…!
„Guten Tag!“ grüße ich die beiden (in Polen grüßt man mit „Hallo“ nur Menschen, die man gut kennt und mit denen man einen lockeren Umgang pflegt.). „Darf ich vielleicht ein Foto von euch beiden machen? Das sieht so wunderschön aus!“ In dem Moment entnehme ich den Gesichtern, dass ich heute wahrscheinlich nicht die erste und auch nicht die zweite bin, die diese Bitte äußert. Nichtsdestotrotz sagen die beiden „Aber ja, natürlich!“ -Mit einem etwas gequälten Lächeln postieren sie sich; der Junge stemmt eine Hand in die Hüfte, während das Mädchen den Rockzipfel in die Hand nimmt. Wunderbar! Ich mache schnell mein ersehntes Bild, bedanke mich und gehe weiter.
Volkstänze und Musik
Aus der Richtung, wo sich der Neue Marktplatz befindet, kommen mir immer mehr junge Menschen in bunter Tracht entgegen. Aber ich hab ja nun mein Bild… Als ich am Platz ankomme, ist er voller Zuschauer. Rechts, von mir aus gesehen, wurde eine Bühne aufgebaut, auf der jetzt ein Tanzverein, auch in polnischer Traditionskleidung, Tänze und Gesang aus früheren Zeiten darbietet.
Glücklich gehe ich näher heran. Das sieht so toll aus! Jetzt kann ich fotografieren, wie ich lustig bin, und ich nutze diese Gelegenheit auch weidlich aus.
Die Tänze sind schnell und zackig, die Mädchen strahlen und wirbeln herum, immer wieder werden sie von den Jungs hochgehoben und auf die Schultern gesetzt. Alles ist perfekt einstudiert und sie tanzen mit solch einer Freude, mit solch einer Leidenschaft; ich bin restlos begeistert. Ich fühle mich an die Weihnachtssänger von Warschau erinnert. Oh ja, ich bin wirklich sehr froh, dass ich heute hergekommen bin!
An einem der Stände kaufe ich noch weitere Püppchen in süßen Trachtenkleidchen und von Hand aufgemalten Gesichtern, die es als Magnete gibt. Eine für Franci, zwei für Kuba und Ania, meine beiden Nichten. Später kehre ich nochmal zum Stand zurück und kaufe noch eine vierte. Die bringe ich Stefan mit.
So, jetzt bin ich mein Geld los. Ein Glück, dass ich nicht so viel dabei hatte, ich hätte wohl sonst alles an Püppchen aufgekauft, was es dort zu kaufen gab. 🙂
Irgendwann, als die Sonne sich schon langsam gen Horizont bewegte, kam ich auf dem Weg zum Auto an einem schönen, schattigen Park vorbei. Hier bin ich nun für mindestens zwei Stunden versackt, sitze auf einer Schaukel und schreibe meinen Bericht (jaaa… diesen hier ;-)) Es wird Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.
[…] als ich so durch die Räume gehe, mal hier und mal da einen Blick werfend, da fällt er mir auf, dieser seltsame Mann, der sich wie von Zauberhand immerzu in demselben Raum einzufinden scheint wie ich. Und nein, hier […]
Die Püppchen sind toll 🙂