Es ist unglaublich, wie viele Eindrücke auf einmal auf einen einprasseln können. Ich bin erst gestern angekommen – und habe jetzt schon das dringende Gefühl, dass alles raus muss, wie der Spiegel des Meeres, der hoch und höher steigt, eine Flut an Gedanken, die sich ein Ventil im Schreiben suchen will.
Kleine, verborgene Gassen, von denen man nicht vermuten würde, dass es sich dabei tatsächlich um echte Straßen handelt. Babuschkas, Musik, der Geruch nach Holzkohle, der mich so sehr an Zuhause erinnert. Gespräche der Menschen, die wie ein einziges Echo an der Wänden verhallen. Das Geräusch von Schritten auf dem Kopfsteinpflaster. Und das entfernte Brummen einer Baustelle.
Gestern im Bus
Eine einzige Party. Die Wodkaflasche wandert von Hand zu Hand und findet unter lauten Rufen und Gegröll immer neue Abnehmer. Musik aus voll aufgedrehten Kopfhörern wie eine lästige Grille im Hochsommer, die sich immer tiefer in den Gehörgang bohrt. Dann plötzlich wird sie ganz laut. Die Kopfhörer haben ausgedient. Ich seufze in meine Kaputze hinein und drücke mich tiefer in meinen Sitz.
Doch die Jugendlichen bremsen sich gegenseitig wieder ab. „Hey Alter, mach das aus! Hier sind auch andere Leute!“ Die Musik wird wieder zu einer kleinen, zirpenden Grille. Dankbar lehne ich mich an und lächle in mich hinein. Eltern, vertraut euren Kindern. Sie wissen selbst, wo ihre Grenzen sind. Dann schlafe ich ein.
Mein Schlaf auf der siebeneinhalbstündigen Fahrt nach Prag ist hellhörig, doch er erfüllt seinen Zweck. Gegen halb elf am Vormittag beschließe ich endgültig, die Augen aufzulassen. Neben mir läuft bereits eine angeregte Unterhaltung dreier Mädels. Klamotten, Styling, Glätteisen, Gähn. Bestätigen wir wirklich so bereitwillig unsere Klischees?
Ich schaue aus dem Fenster. Es ist längst hell und sonnig geworden, die Sonne bescheint sanft die hügelige Landschaft, die draußen an uns vorbei zieht. Meine Erwartung des Neuen und Unbekannten wird vorerst nicht erfüllt, denn all die kleinen, zusammengerückten Ortschaften mit ihren spitzen Kirchtürmen hätten auch in Deutschland, vielleicht irgendwo in Odenwald, stehen können. Doch dann, weit entfernt am Horizont: Plattenbauten. Typisch Ostblock?
Als wir die Prager Außenbezirke erreichen, hat die Stadt noch nichts weltliches und glamouröses an sich, jedoch erinnert sie mich stark an meine Heimat mit ihren bröckelnden Fassaden, Baustellen, hier und da aufgerissenen Mauern oder fehlenden Fensterscheiben, den mit Graffitis überdeckten Wänden, genauso zerfallend wie die Vororte Warschaus und anderer polnischen Großstädte. Ein heimatliches Gefühl kommt bei mir auf.
Unerwarteterweise halten wir nicht, wie im Fahrplan angekündigt, am Hauptbahnhof. Am Florence Busbahnhof kommt das Fahrzeug zum Stehen. Ich bin mit Handgepäck unterwegs und als solches dient mir diesmal meine Umhängetasche, in der ich alles habe, was ich brauche für vier Tage Prag. Und während sich alle anderen an der Gepäcksausgabe anstellen und darauf warten, dass sich der Busfahrer an derselben zu schaffen macht, springe ich leichtfüßig aus dem Bus. Ich versuche, nicht aufzufallen. Mit fehlendem Gepäck und meinen slawischen Gesichtszügen tauche ich in der Masse unter.
Im Innengebäude hat sich vor dem Fenster der Geldwechselstube eine Schlange gebildet. Es ist, als wollen alle neu angekommenen mit einem Mal ihr Geld tauschen. 24,5 Kronen für einen Euro; nicht besonders prickelnd, aber ohne Kommission. Ich stelle mich nicht hinten an. Statt dessen setze ich mich auf eine Bank in der großen Halle und sortiere meine Gedanken, beobachte die Menschen. Ein kurzer Blick rundum, um zu sehen, ob ich auffalle. Keineswegs. Erleichtert überlege ich, wie ich weiter vorgehen soll.
Nachdem ich eine Runde um den Busbahnhof gedreht habe, entdecke ich eine zweite Wechselstube drüben im zweiten Gebäude, wo auch die Ticketschalter sind.
Und niemand steht an.
Ein paar Euro ärmer und dafür um ein paar tschechische Kronen reicher marschiere ich los. Zuerst kreise ich ein wenig sinnlos um das Bahnhofsareal herum. Es wird immer wärmer, das Wetter scheint auf Frühling aus zu sein. Immer wieder bleibe ich stehen und versuche, die Wegbeschreibung des Hostels zu verstehen. Gehen Sie zur Ausfahrt der Busse – doch wo zum Kuckuck ist denn hier die Ausfahrt? Natürlich wäre es sinnvoller, mal die Stadtkarte in meinem Rucksack rauszuholen, doch ich bin zu sehr damit beschäftigt, so zu tun, als wüsste ich genau, wohin es geht, um nicht als unwissender Tourist aufzufallen. Irgendwann traue ich mich doch und hole mein I-Pad aus der Tasche. Die sichtbare Polizeipräsenz um das Bahnhofsgelände herum überzeugt mich schließlich davon, dass mir höchstwahrscheinlich niemand einen auf den Deckel gibt und die Tasche aus der Hand reißt. Danach geht alles relativ schnell. Vieles in den Außenbezirken von Prag erinnert mich an Warschau. Die Gebäude, die Graffitis, die Menschen und ihre Art. Das Heulen der Polizeisirenen irgendwo weit weg. Ich fühle mich wohl und heimelig.
Nicht mehr so heimelig fühle ich mich, als ich entdecke, dass das Hostel Elf genau an einer Baustelle liegt. Gegenüber der Bushaltestelle, na, diesen Zusatz kann man getrost vergessen, denn die Straße ist ein großes, klaffendes Loch – von einer Bushaltestelle keine Spur.
Im Hostel selbst putze ich mir schnell die Zähne. Es ist halb zwei, das Einchecken zu der frühen Uhrzeit ist kein Problem. Auf der überdachten Terrasse auf der Rückseite des Hauses sitzen bereits einige Leute, rauchen und trinken Bier. Ich mache mich wieder auf den Weg in Richtung Stadt.
Mein Weg führt am Hauptbahnhof vorbei. Und wieder breitet sich dieses Heim-Gefühl wohlig in mir aus. Hier ist so vieles wie in Polen, die Schilder mit Straßennamen, weiße Schrift auf rotem Grund – und selbst die Zugwaggons sind die gleichen wie die Regionalzüge, die bei uns herumfahren.
Streetart sehe ich kaum. Graffitis ja, sehr viele sogar, doch nichts, das ich unter „Kunst“ verbuchen würde.
Immer prächtiger werden die Hausfassaden, bis ich mich irgendwann auf einer großen Einkaufsmeile wiederfinde. Hier sind all die Touristen, die ich in den Außenbezirken ein wenig vermisst habe. Zara, McDonalds und unzählige Shops reihen sich auf. Menschen machen Selvies (das ist doch noch nicht die historische Altstadt…?) und ein mittleres Aufgebot der Prager Polizei versucht, einen Obdachlosen vom Bordstein aufzulesen, der sich anscheinend völlig abgeschossen hat. Ein paar Schritte weiter tanzt ein überdimensionaler, plüschiger Eisbär auf einem Platz herum, mutige Kinder lassen sich mit fotografieren, umarmt von weißen Riesentatzen. Pantomimekünstler stehen still da und tun… gar nichts und auf der linken Seite… oh, sehe da, die haben hier sogar einen Ostermarkt!
Glühwein, Honigwein, bemalte Eier und allerlei Schnickschnack kann der zahlungswillige Tourist hier erstehen. Am Spieß dreht sich über dem Feuer der berühmter Prager Schinken. Ich halte Ausschau nach diesen speziellen, geschmückten Ruten, die eine Freundin von mir aus Prag mitgebracht haben wollte. Die gäbe es zur Osterzeit überall zu kaufen, sagte sie, und die Bewandtnis mit diesen geflochtenen Weidenruten ist folgende: Die Ruten kommen am Ostermontag, hier auch „Peitschenmontag“ genannt, zum Einsatz. Männer, jung und alt, gehen klingelnd von Tür zu Tür zu Nachbarinnen, Verwandten und Freunden. Doch der Brauch startet zu Hause im eigenen Familienkreis: Die Frauen und Töchter werden mit den Ruten scherzhaft durch das Haus gejagt. Leichte Schläge auf die Waden sollen die Kraft und Vitalität der Weide auf die Frau übertragen. Gerne wird auch von jungen Männern die Angebetete mit der Rute über den Hof gejagt 😉
Doch egal, wie lange ich schaue, nirgendwo finde ich diese Dinger zu kaufen. „Die gibt es überall,“ sagte meine Freundin. Hm.
Ich verlasse den Ostermarkt und laufe weiter. Die Gassen werden enger und belebter, hier sieht es schon mehr nach Altstadt aus.
Was vermittelt Prag? Ein Lebensgefühl. In der Steampunk-Bar zu sitzen oder in einer der vielen Absintherien, am Sex-Machines-Museum vorbei zu laufen, sich verlieren im Gewirr. Man muss sich hier wirklich verlieren wollen. Prag ist keine Stadt für abgehackte Sightseeing-Punkte, obwohl es hier sehr vieles zu sehen gibt.
Und überall an jeder Ecke begrüßt mich der Duft nach frisch gebackenem Trdelnik. Diese Dinger kann man pur essen, man kann sich aber auch eine echte Kalorienbombe zusammenstellen lassen, denn es gibt sie mit Eis gefüllt, mit Cremes bestrichen (Himbeere, Pistazie usw.) oder mit Nutella, und mit Schlagsahne garniert.
Vor kurzem habe ich in einem Beitrag gelesen, dass obwohl es Trdelnik an jeder Ecke zu kaufen gibt, sei es doch keine typische Prager Spezialität, denn ursprünglich käme es nicht aus Prag. Da der Trdelnik inzwischen aber längst die Prager Altstadt prägt, sind mir Spitzfindigkeiten nicht wichtig; der Absinth ist ja auch keine Prager Spezialität, doch diese beiden Dinge gehören für mich einfach zum Stadtbild dazu. Viele Dinge sind ursprünglich von anderen Ländern und Kulturen aufgenommen und interpretiert worden und wurden irgendwann „typisch“ für diese Stadt/dieses Land. Ein Beispiel? Die Freiheitsstatue war ursprünglich auch nur ein Geschenk der Franzosen…
Immer wieder checke ich meine Richtung, denn ich möchte zur Karlsbrücke und anschließend hoch zur Burg. Es gibt hier verwinkelte, kleine Gässchen, Durchgänge, die wie Einfahrten zu Innenhöfen wirken, in Wirklichkeit aber ganz normale, durchgängige Straßen sind. Und in einer solchen verborgenen Ecke entdecke ich eine für die Prager Altstadt recht günstige, vegetarische Kantine. Später kehre ich dorthin zurück und mache mir meinen Teller mit Salat und Gemüse voll.
Doch nun gehe ich weiter und stoße fast wie von selbst auf das Sex Machines Museum. Ich beschließe, später dorthin zurück zu kehren, denn erst einmal will ich einen Überblick über die Stadt verschaffen. Und immer noch versuche ich dabei, nicht wie ein Tourist auszusehen…