Helsinki, Januar 2017
Die Welt ist weiß. Weiß-blau. Es ist der dritte Tag Helsinki. Ich habe es immer noch nicht geschafft, wie von mir geplant, entsprechend früher aufzustehen (d.h. um sechs oder so). Aber wozu denn? Habe ich nicht Urlaub?
Alles zugeschneit… Helsinki ist heute ein Wintermärchen. Die Welt liegt unter einer plüschigen, weißen Decke begraben und es rieselt noch immer.
Allein. Ob es mir schwer fällt, allein zu sein? Nein, ich genieße es. Genieße das Schweigen, dieses In-sich-kehren, mit meinen Gedanken bei mir selbst zu sein. Meine Stimmungen nicht erklären zu müssen. Es lädt mich auf, lädt meine Akkus neu. Eine Woche Schweigen. Ich wusste, dass ich das brauchte. Etwas Entspanntes, einen Ort, so in sich und seine Dunkelheit gekehrt wie ich. Wo man dich sein lässt. Kuba wäre mir zu viel geworden. Ich habe Helsinki gebraucht.
Je mehr es schneit umso mehr taue ich auf und werde zum Kind. Und es macht nicht den Anschein, als wolle es aufhören… So unbegründet meine Sorge, als ich am Frühstückstisch durch die Scheibe spähe, dass der Schnee innerhalb der nächsten zehn Minuten zu schmelzen beginnt.
Der See ist zugedeckt mit einer weißen Decke. Ich fotografiere den eingeschneiten Park. Eine junge Frau mit Kinderwagen kommt aus dieser Richtung.
Ich fotografiere den See. Bewundere die Schneeflocken, die sich auf dem Schwarz meiner Jacke niederlassen – perfekte kleine Sternkristalle.
Die Frau ist nun neben mir. Sie spricht mich an.
Schön!
Auf finnisch.
Verdammt!
„Excuse me?“
„Oh…“ Sie bleibt stehen. „Do you know the snowman movie?“
„Ähm… no.“
„I just wanted to say… its like in the movie.“ Sie lächelt, geht weiter. Das Schneegestöber wird immer dichter. Ich blicke zum See. Doch eigentlich… sehe ich den See kaum noch; er verliert sich in tausend weißen Flocken.
In der Stadt legt sich ein feiner, weißer Flaum auf die Ränder der Pflastersteine. Am Hafen frieren die Möwen. Aufgebauscht und unzufrieden sitzen sie im Schnee, die Beine unter sich begraben. Zwei Jungs passieren das Schiff, das seit Ewigkeiten als dekoratives Restaurant vor Anker liegt. Sie bleiben stehen, einer beugt sich hinunter, nimmt einen Handvoll Schnee. Sein Freund sagt wohl so etwas wie: Oh, nicht doch, tu das nicht. Der erste hält inne, lächelt… und schon prallt Schneekugel gegen Jacke. Menschen werden zu Kindern. Kinder werden zu Kindern. Und meine Augen leuchten.
Ich laufe am Segelschiff vorbei, überlasse die beiden Freunde sich selbst, passiere den Hafen und den kleinen Markt mit seinen warm und gelb beleuchteten Ständen. Menschen, die mir entgegen kommen, starren mich im Vorbeigehen an. Neugierig, intensiv. Habe ich einen roten Punkt auf der Nase? Doch dann verstaue ich probeweise meinen Touristenausweis meine Kamera in der Tasche. Welch ein Unterschied!
Schnee, graues Wasser des Meeres, graue Wolken. Gedanken. Entgegenkommende Menschen. Boote, die vor Anker liegen. Ein imposanter Kreuzer. Ich muss an Fräulein Smillas Gespür für Schnee denken. Doch der spielt in Dänemark, das hier ist Finnland. Ich mag Finnland. Ein so ruhiges, unaufgeregtes Land. So ruhige, höfliche Menschen. Die Finnen, meine ich. Warum ich das hier so betone?
Finnland, allen voran Helsinki, hat einen erheblichen Anteil an russischer Bevölkerung. Und die sind… anders. Sie sind… ähm… offensiver. Ähm… direkter. Ähm… halt keine Finnen. Ich meine… ein Finne geht zur Seite, wenn nicht viel Platz zum Vorbeigehen ist. Ein Russe schubst dich im Zweifelsfalle um an. Ein Finne wartet, wenn du ein Foto machst. Ein Russe rennt dir vor die Linse. Und so weiter… (an dieser Stelle möchte ich mich bei all den freundlichen, wohlerzogenen und netten Russen entschuldigen, die es ja auch gibt und die vielleicht zufällig diesen Beitrag lesen. Verzeiht mir! Ich weiß, dass es Euch irgendwo da draußen gibt. Ganz sicher! Nur leider… in Helsinki habe ich Euch nicht angetroffen…)
Aber genug pauschalisiert, ich gehe weiter, immer schön am Ufer entlang, umrunde Helsinki sozusagen vom Hafen aus in die westliche Richtung. Im Cafe Ursula kehre ich ein. Eine heiße Schokolade später sitze ich am Fenster an einem kleinen Tisch und betrachte den Schnee, die sich spiegelnden gelben Lichter und die Eiszapfen, die auf allen Seiten lang und glänzend vom Dach hinunter hängen.
Ein Mann setzt sich zu mir dazu. Er hat ein volles Tablett bei sich, das er jetzt auf dem Tisch abstellt. Er spricht mich fragend auf finnisch an; ich deute auf den Platz mir gegenüber. Er beginnt zu essen.
Was war denn nochmal Guten Appetit auf finnisch? Ich befrage mein Handy. Trotz W-lan keine Verbindung möglich. Ich befrage mein Notizbuch. Guten Tag, auf Wiedersehen, Danke, Bitte… ja toll, Kasia, das hast du dir nicht aufgeschrieben.
Der Mann hat schon die Hälfte seines Tellers aufgegessen. Seine grünen Augen schauen mir gütig zu bei meiner hektischen Kramerei. Ich gebe auf. Meine heiße Schokolade ist kalt.
Weitere Menschen kommen mit Tabletts rein, schauen sich suchend nach einem freien Platz um. Daher verziehe ich mich; meine Mütze und mein Schal sind wieder einigermaßen Trocken, also begebe ich mich wieder nach draußen und in den Flockentanz hinein.
Ein Auf Wiedersehen! auf finnisch konnte ich ihm wenigstens noch sagen; zumindest soviel gab mein Notizbüchlein her.
Eine Mutter, die auf dem Spielplatz mit ihren Kindern Schneeballschlacht spielt. Das Kind lässt sich in den Schnee fallen und schaut mich mit großen Augen an, als ich vorbeigehe. Ein Mädchen versucht, die Flocken mit ihrem Mund aufzufangen. Sie schließt die Augen, lächelt. Öffnet sie wieder, geht weiter. Lächelt mich an.
Es zählen keine Straßen, keine Wege mehr, nur noch die ausgetretenen Spuren im Schnee. An den Bojen bleibe ich stehen. Fege den Schnee zur Seite und setze mich auf die Bank, entsage jeder Bewegung und lausche den Schneeflocken, die lautlos zur Erde schweben. Ein Wintermärchen in Helsinki wird wahr – das isses, deshalb bin ich hergekommen. Und wegen der Sauna natürlich. Und wegen dem Winterschwimmen. Ja, das kann man hier auch tun. Und wegen der Nordlichter, falls mir dieses Glück zuteil wird. Und um mit mir selbst allein zu sein.
Nur die ausgesprochenen Worte verfolgen mich, sie sind wie ein Fluch, der versucht, mich zu bremsen, wie ein schaler Geschmack, den ich nicht loswerden kann. Jede Trennung ist schwierig. Doch manchmal ist Schweigen Gold.