Hej, hej, hej Sokoły
Omijajcie góry, lasy, doły…„Aber Mama, heißt das, wir sind keine richtigen Polen?“
Ich weiß noch: so und nicht anders war meine Reaktion auf das langsame, jedoch stetige Eintauchen in die Tiefen unserer – meiner – Familiengeschichte. „Heißt es, dass wir zu einem Teil Ukrainer sind?“ Für mich als Zehnjährige sehr verwirrend, war ich es bislang gewohnt, Schwarz oder Weiß, polnisch oder ukrainisch zu sehen. Etwas dazwischen hatte keinen Platz in meinem kleinen Kopf, in dem der in der Schule vermittelte Patriotismus aus beiden Ohren schwappte. Ukrainer, zum Teil? Das geht nicht. Nicht dass ich was gegen Ukrainer sein hätte. Doch ich wollte ganz genau wissen, wer ich bin. Irgendwelche nebulösen Unklarheiten bedrohten meine Identität, mein Gefühl der Zugehörigkeit. Wenn Ukraine, dann bitte ganz. Oder überhaupt nicht.
Mein Opa war da ebenso konsequent. Nein, auf keinen Fall, beantwortete er rigoros meine Frage. Niemals hätten sich beide Völker miteinander vermischt, obwohl sie Tür an Tür, Seite an Seite lebten. Das ist in unserer Familie nicht passiert, sagte er ganz sicher. Niemals. Meine Mutter war da ganz pragmatisch. Ja, das kann schon sein. „Aber mach dir keine Sorgen, das war so lange her. Davon bin ich dann schon viel eher betroffen als du. Du bist Polin.“
Ich blieb mit der Antwort. Mehr oder weniger beruhigt. Inzwischen kenne ich unseren Stammbaum etwas genauer – zumindest jenen mütterlicherseits, denn die Vatersvorfahren sind noch immer eine Blackbox. Seitens meiner Großeltern, der Krawczuks, ist der Pfad recht gut erschlossen. Wir hatten Polen, Ukrainer, ja – sogar deutsche Namen in der Familie. Eine bunte Mischung, ein Bukett aus Gensträngen. Doch was bedeutet es schon?
Meinen Großeltern nicht so viel, denke ich. Sie waren Polen, fühlten sich als Polen. Sie stammten aus einer Region, die es so heute nicht mehr gibt und die den sehnsuchtsvollen Namen trägt: Kresy. „Kresy“, was klingt wie kurz vor dem Ende der Welt. „Kresy“, polnisch, aber weit, weit weg. Eine Grenzregion. Mit einer anderen Kultur, anderen Bräuchen, einer anderen Sprache.
„Kresy, bisweilen auch Ostpolen, wurden die nach dem Zerfall der Kiewer Rus 1240 zum Königreich Polen gekommenen ruthenischen Gebiete bezeichnet. (…) Bis zu den Teilungen Polens waren damit die östlichen Grenzregionen von Polen-Litauen gemeint, die damals auch Wildes Feld (polnisch Dzikie Pola) genannt wurden.“ (Wikipedia)
Im II Weltkrieg war es vorbei mit der Nachbarschaft. Die Polen verließen Kresy, flohen vor dem, was wir heute als „das Wolhynien-Massaker“ verzeichnen. Ich höre das Grauen in Omas Stimme, wenn sie es aussprach. Das Wolhynien-Massaker. Wie sie nachts kamen, ihren Vater zu holen. Wie er im Winter bei Schnee barfuß in den Wald floh – für Schuhe blieb keine Zeit. Schließlich verließen sie jene Gegend, die seit Generationen ihr Zuhause war. Ließen alles hinter sich zurück, Haus und Hof. Es war verloren, denn von wem sollten sie entschädigt werden? – und kamen in den Westen. „Warum passierte das alles?“ Fragte ich, die ich schon als Kind verstehen wollte, warum Menschen tun, was sie tun. Sie wollten eine Ukraine, „rein, wie eine Träne“, wie sie sagten, antwortete sie.
Heute weiß ich, es war noch mehr. Sie wollten die Unabhängigkeit. Und es gab nationalistische Strömungen, für die dies der Weg war. Begangen wurden die Massaker unter anderem von der UPA, der Ukrainischen Aufständischen Armee, eine militante Einheit der Bandera-Formationukrainischer Nationalisten und von ihr befehligt. Man schätzt, dass beim Wolhynien-Massaker rund 50 bis 120 Tausend Polen starben, und im Rahmen von Vergeltungsaktionen 2-3 Tausend Ukrainer.
Eines Tages wolle er dorthin zurück, sagte mein Opa. Oft erzählte er mit leuchtenden Augen von einem Wald, so dicht, dass das Blätterdach kaum Licht hindurchließ. Von einem reinen Fluss, in dem er als Junge schwamm und Krebse fing. Von einem Berg hinter seinem Haus (der sich lange Zeit später als ein Hügel entpuppte.). Eines Tages wolle er zurück in jene Gegend, einfach mal gucken, was noch da ist. Ich nicht, sagte meine Oma. Sie meinte, sie habe Angst, schreckliche Angst, noch immer.
Mehr als einmal erwähnte meine Oma, dass sie, als sie hier ankam, noch kein Polnisch sprach. „Was hast du dann gesprochen? Ukrainisch? Russisch? Was?“
Ihr kam es vor, als spräche sie ukrainisch. Doch so war das nicht. Die Sprache, die in jener Zeit in jener Gegend unter Polen verwendet wurde, war wie eine Mischung aus beiden. Nicht ganz sauber. Chachlatisch, wie „einfach“ oder „wir-reden-auf-unsere-Weise“.
Chachlatisch wird heute noch immer in östlichen Regionen Polens, vor allem von Älteren, verwendet. Sie wird oft zu den ukrainischen Dialekten gezählt, doch so einfach ist es nicht, denn sie enthält zusätzlich Einflüsse aus dem Polnischen, Russischen und Weißrussischen. Auch die Fonetik unterscheidet sich. Früher hatte der Begriff „chachlatisch“ sprechen einen negativen Beiklang, die Sprache galt als „verunreinigt“ oder „verhunzt“ und Menschen, die so sprachen, wurden von Russischsprachigen verächtlich als „Chachel“ bezeichnet.
Doch eigentlich ist die Sprache Zeugnis davon, wie stark sich die Bevölkerung jener Regionen miteinander vermischte. Aus der Verschmelzung entstand eine Art zu sprechen, die von vier Völkern verstanden werden konnte: Polen, Ukrainer, Weißrussen und Russen. Heute ist sie ein Relikt der Vergangenheit.
Im Nachfolgenden Video möchte ich euch ein Gedicht in chachlatischer Sprache zeigen. Meine deutschsprachigen Leser werden es nicht verstehen, ich verstehe das meiste selbst nicht. Einige Wörter sind polnisch, andere wiederum nicht. Es zeigt euch ganz gut den Klang jener Sprache. Sie wird heute noch in den polnischen Regionen Podlasie und Polesie verwendet.
Noch lange Jahre danach, nach fast einem ganzen Leben im zentralen Polen, zelebrierte unser Familienzweig die Bräuche aus eben jener fernen Region. Meine Oma wurde von den Hiesigen aufgrund ihres anders klingenden Polnisch lange Zeit als „nicht dazugehörend“ erkannt, obwohl das im Alltag keine Rolle zu spielen schien. Immer mal wieder sprach sie jemand an. „Sie sind von dort?“ Ich mag es nicht, wenn sie heraushören, wo ich herkomme, erwähnte sie. Doch für mich hörte sich meine Oma nicht „anders“ an. Nur wie Oma eben. Ohne es zu wissen, hatte ich einige Sprachgewohnheiten von ihr übernommen.
Heute, Generationen später, ist dieser Zweig der Geschichte ein geheimnisvoller und spannender zugleich. Viele Polen kehrten vor Ausbruch des Krieges zurück in jene Gegend, wenn auch nur zu Besuch, um sich ihr altes Zuhause, die Häuser und Dörfer ihrer Großeltern anzusehen. Die Großeltern leben nicht mehr, doch unsere jüngeren Familienmitglieder haben bereits mehr als einmal die Ukraine besucht. „Es ist schön.“ Erzählten die Kids mit leuchtenden Augen. Sie erzählten von herzlichen Menschen, gutem Essen, Spareribs, so groß wie ein Unterarm. Die Ukraine sei so, wie Polen sein sollte, jedoch nicht mehr ist. Es ist die Jugend, die Brücken baut.
Und ich? Nach langen Jahren der Abneigung fühle ich heute eine seltsame Art der Verbundenheit. Als hätte ich dort etwas vergessen oder verloren. Als würde meine Familie gerade angegriffen. Zu sagen, ich hätte keine Zeit gehabt, das Land meiner Vorfahren zu besuchen, ist nicht richtig. Ich fühlte mich nicht willkommen, beeinflusst von der großen Angst meiner Oma. Doch jetzt, wird es da nicht höchste Zeit?
Quellen: u.a. polskazachwyca@pl, wikipedia
Spannend! Diese Facette der polnischen Geschichte kannte ich noch nicht. Schön, dass du dich intensiver damit beschäftigt hast.
Vieles liegt noch im Dunkeln, meine Verwandten haben sich in aller Welt zerstreut. Wer weiß, welche Vorfahren ich noch alles habe.
Sehr international bei euch!
Hätte man gar nicht gedacht. Angeblich habe ich sogar in Australien Verwandte. Ob die wohl ein Bett frei haben? 😉
Na DAS wäre doch mal was!