Als ich in der Ferienwohnung ankomme, steht meine Mama bereits in den Startlöchern. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits früher Nachmittag ist und nicht mehr viel vom Tag bleibt. Für mich war der heutige Vormittag bereits ereignisreich: ich habe die Grenzen ausgetestet und habe mich zur Außengrenze der Europäischen Union mit der Russischen Föderation begeben. Mit einer leisen Befürchtung, ob da nicht doch eine verirrte Kugel über den Grenzzaun fliegt; doch nichts dergleichen passierte. Stattdessen stehe ich nun in unserer gemeinsamen Ferienwohnung und wir packen Strandtaschen.
Am Strand
Koki darf endlich seinen langen Spaziergang haben. Diesmal gebe ich meiner Mama die Hundeleine in die Hand. Bitteschön. Der Hund läuft erfreut vorneweg und schnuppert an allem links und rechts des Weges. Manchmal versucht er auch, sein Frauchen mit der Leine zu fesseln und zu Fall zu bringen. Manchmal gelingt ihm das beinahe.
Um auf die andere Seite der sandigen Landzunge zu gelangen, dorthin, wo die offene See Sand an die Küste gespült und lange, weiße Sandstrände erschaffen hatte, müssen wir zunächst das dichte Kiefernwäldchen überqueren. Wir sind hier nicht alleine; Spazierwege durchschneiden die Waldfläche und es sind viele Menschen unterwegs. Auch Wildschweine sind unterwegs, da bin ich mir sicher. Noch können wir sie zwar nicht sehen, aber ich spüre ihre immerwährende Anwesenheit. Nein, Quatsch, die spüre ich nicht. Es ist der große, dicke Schatten, den ich aus den Augenwinkeln wahrnehme. Der große, dicke Schatten huscht über die Straße und verschwindet im Schweinsgalopp zwischen den Bäumen. Meine Mama bekommt davon nichts mit, doch ich verlangsame mein Tempo, bis ich mich wieder auf ihrer Höhe eingefunden habe.
„Wenn wir ein Wildschwein sehen“, sage ich im ernsten Ton, „und es sich aggressiv verhält, dann lass den Hund von der Leine.“ Sie nickt. Weil der Hund schneller weglaufen kann als wir, sagt sie. Ja, und weil das Wildschwein mit etwas Glück dem Hund folgt und nicht uns, sage ich. Und weil das Wildschwein mit etwas Glück damit beschäftigt sein wird, den Hund zu Mittag zu verspeisen, während wir uns in Sicherheit bringen können, denke ich, sage das aber nicht mehr. Koki bekommt davon nichts mit. Er ist damit beschäftigt, die Gegend zu erschnuppern und hört nicht, wie wir gerade untereinander vereinbaren, ihn gegen unser Leben einzutauschen.
Doch eine solche Notwendigkeit besteht zum Glück nicht. Ohne Zwischenfälle erreichen wir den Strand und breiten unsere Decke aus. Der Hund wird an einen Zaunpfahl gebunden, der die mit Schilf bewachsenen Dünen vor unbefugtem Zutritt schützt. Der Entspannung steht nichts mehr im Wege.
Dies ist jenes Stück Strand, an welchem ich am ersten Tag diesen sagenhaften Sonnenuntergang gesehen habe. Es ist warm, leicht windig, doch sonnig genug, um mit einem Strohhut über dem Gesicht ein wenig zu dösen. Koki liegt im Sand und ist sogar recht brav. Der normalerweise freche Hund hat einen gewissen Charme, und mit seinen Löckchen und seinen großen, dunklen Knopfaugen wirkt er wie ein Magnet auf Menschen, vor allem auf Kinder und andere Hundebesitzer. So führt immer eines zum anderen und meine Mama wird in Gespräche mit anderen Leuten verwickelt. Eine Strandanbeterin tauscht sich gerade mit ihr über die Eigenschaften der Rassenmischung aus.
Schläfrig betrachte ich den Strand unter halbgeschlossenen Lidern. Menschen haben sich auf Liegestühlen und hinter Strandparavents ausgebreitet. Die Strandparavents habe ich bislang nur an der polnischen Ostsee gesehen, und sie haben Hochkonjunktur. Es sind perfekte Strandraumteiler, die Sichtschutz, Windschutz und Privatsphäre bieten. Und meine Landsleute stehen auf Privatsphäre. An Stränden besonders frequentierter Urlaubsorte sehen ganze Strandabschnitte nicht selten wie ein einziges Labyrinth aus abgeteilten Flächen aus, die da aussagen: ab hier gehört der Strand mir. Das ist das Strand-Wohnzimmer… die Strand-Küche… die Strand-Umkleidekabine… also weg da, du Spanner. Ja, die Polen mögen es privat, noch mehr vielleicht als andere Europäer.
Da wir recht spät losgegangen sind und eine Weile gebraucht hatten, um anzukommen, bleiben uns eine- bis zwei Stunden Strandzeit. Als die Sonne tiefer sinkt und sich der Sandstrand langsam leert, überkommt mich leichte Unruhe. Meine Mama würde noch bleiben, doch ich muss an die Gangs von Birmingham Krynica denken. Gegen Abend, als es dunkel wird und die Straßen sich leeren, gehört die Stadt den Wildschweinen. Das ist ihr Königreich und wer sich ihnen in den Weg stellt, wird gnadenlos zerfleischt angestarrt, bis er sich freiwillig zurück zieht und davon rennt. Eine kurze Erinnerung daran reicht schon und Mama packt eilig ihre Sachen. Wildschweine bei Nacht, das braucht kein Mensch.
Wildschweinüberfall
Auf dem Rückweg durch die Stadtmitte von Krynica werde ich Zeuge eines Wunders. Das aus Bronze gegossene Denkmal der Wildschweinfamilie, welches normalerweise die Promenade ziert, ist lebendig geworden und sonnt sich unbekümmert auf einem kleinen Stück Rasen mitten in der Stadt, während die zu einer Traube versammelten Menschen rundum mit gezückten Handys das Geschehen beobachten. Dann streckt die Bache kurz ihre Schnauze in die Luft und läuft los, auf eine ältere Frau zu, die vermutlich unachtsamer Weise Essbares in ihrer Handtasche versteckt hat. Die raubüberfallene Frau erstarrt zu einer Salzsäule, während die Wildsau an ihrer Handtasche schnuppert. Was immer du da drinnen versteckst, rück es raus. Als sie schließlich von der Fußgängerin ablässt, huscht diese eilig davon. Für heute ist der Bedarf der Urlauberin an Abenteuer wohl gedeckt. Meine Mutter, die bereits mit dem Hund vorgelaufen ist, bekommt von dem Vorkommnis nichts mit. Noch immer hatte Koki nicht das zweifelhafte Vergnügen, sich mit einem Wildschwein anzulegen – hoffen wir inständig, dass es so bleibt.
Der Ostseekanal
Unsere Zeit an der Frischen Nehrung neigt sich dem Ende zu. Packen, alles abschließen. Ein letzter Spaziergang mit dem Hund, ehe es an die dreihundert Kilometer zurück in die zentral gelegene Stadt Blonie geht. Eine Besonderheit dieses Ortes möchte ich mir vor unserer Weiterreise noch ansehen: das ist der vor kurzen von der PIS-Regierung erbaute, recht umstrittene Ostsee-Kanal, der Schiffen die Möglichkeit geben soll, direkt in Ebling am Hafen anzulegen, ohne, wie bislang, einen Umweg über die Bucht von Kaliningrad machen zu müssen.
Der Kanal ist ein Prestigeprojekt. Jahrhundertelang kam dem Hafen von Ebling große Bedeutung zu, und zu seiner alten Größe soll er wieder ausgebaut werden. Das Frische Haff, eine langgezogene Lagune, verband den Hafen mit dem offenen Meer. Seit der Landstreifen in der Mitte durch eine polnisch-russische Grenze geteilt ist, ist es damit vorbei. Die Schiffe müssen von nun an durch russisches Gewässer und zu russischen Auflagen und Bedingungen, um nach Ebling zu gelangen. Der seit 2006 geplante Ostseekanal soll das ändern und den Hafen von Ebling wieder bedeutsam machen. An die zwei Milliarden Zloty hat das Projekt gekostet und wurde von Jaroslaw Kaczynski, dem Kopf der PIS-Partei, angestoßen. Am 17 September 2022 wurde der Kanal nach zwei Jahren Bauzeit eröffnet.
Nun könnte der Hafen von Ebling zu einem Be- und Entladehafen für große Überseefrachter werden. Ihr bisheriger Anlaufpunkt ist der etwa fünfzig Kilometer gelegene Hafen von Danzig. Doch das Problem liegt in Ebling selbst, denn der Hafen dort ist zu seicht für die riesigen Containerschiffe. Sie könnten den neu erbauten Kanal nutzen, würden aber kurz vor Ebling auf Grund laufen. So ist der Ostseekanal momentan nichts weiter als eine kuriose und teure Sehenswürdigkeit, während sich die Behörden gegenseitig die Verantwortung für ein weiteres Vorgehen zuschieben. Nach dem erfolgten Regierungswechsel in Polen ist die ehemaligen Opposition nicht erpicht darauf, das Projekt weiter zu verfolgen.
Weitere Informationen dazu findet ihr bei mdr.de
Auch ein Strandttag kann aenteuerlich sein 🙂
Das ist wahr 🙂
Aber interessant wäre so ein Showdown zwischen Schwein und Hund für uns Leser schon gewesen. Na, vielleicht ein anderes mal…
Vielleicht, wenn der Hund mal größer ist und zu einem gefährlichen Wildschweinjäger ausgebildet wurde… 😉
Wie gut, dass du dich morgens woanders herumgetrieben hast und damit die drohende Strandzeit auf ein erträgliches Maß zurechtgestutzt hast 😂. Sehr schlau und elegant gelöst!
Eure Gedankenspiele den Hund betreffend finde ich berechtigt. So ein Tier muss sich irgendwie ja auch mal als nützlich erweisen, wenn es nötig wird 😇.
Tja, das Kanalprojekt … Wenn Profilierungssucht stärker ist als sachliche Überlegungen, kommt sowas raus. Ein Geldgrab!
Ach, ich bin erleichtert, dass du das nicht stattgefundene Hundeopfer so locker nimmst. Ich hörte schon das Engelchen auf meiner Schulter sagen: „Kasia, das kannst du so nicht schreiben!“ Aber ja, ich denke auch, dass so ein Hund schneller rennen kann als ein Wildschwein. Zumindest kann er schneller abhauen als Mama und ich 🙂