November 2021
Gegenwart
Man spürt die Veränderung in der Luft. Starke Windböen fegen Blätter vom Asphalt und treiben Müll und Plastikbecher vor sich her. Wenn es überhaupt möglich ist, so wird die Straße noch leerer. Die Zigarre ist aufgeraucht. Ich ziehe mich zurück und schließe das Fenster.
Gestern
Istanbul by night. Bitte, Fee, nur diesen einen Augenblick für mich alleine. Ich sitze am Fenster, der Rauch der Zigarre entweicht in die Abendluft. Ich überlege, was ich anziehen soll. Unten auf der Straße – dichter Verkehr. Taxen, Autos, Kleinbusse, Menschen. Viele Menschen. Laute Musik dröhnt aus Autoboxen. Die obligatorische Polizeistreife dreht ihre Runden. Heute ist der Abend, an dem Istanbul ausgeht. Heute ist Samstag Abend.
Die Fahrweise der Türken ist mit der von Georgiern vergleichbar. So beobachte ich von meinem Adlerhorst aus die unmöglichsten Situationen. Wer hupt, hat Recht, Sagt Fee. Und es wird mächtig gehupt. Ich bekomme bereits im Flieger beim Landeanflug eine vage Ahnung von dem, wie es hier zugeht, denn die Hauptstraße (welche Hauptstraße von den vielen?) windet sich unter uns wie eine goldene, dichte Schlange aus Licht.
Das Taxi lässt uns nahe der Feiermeile raus. Jetzt weiß ich auch, woher der Name unserer Mannheimer Shisha Bar stammte. Der Taxifahrer lässt es sich nicht nehmen, uns ein Stückchen zu begleiten und einen Hauf guter Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Am liebsten würde er mit uns ausgehen, sagt er, und uns alles zeigen. Doch das kommt überhaupt nicht infrage.
Taksim Square
Eingehackt gehen wir beide weiter, zwei Mädels auf Abwegen. Die Riesenmetropole pulsiert, Taksim ist voller Leben. Das ganze touristische Istanbul konzentriert sich hier, im Stadtteil Beyoglu, auf der europäischen Seite. „Schau mal.“ Sagt Fee. „Du siehst vor lauter Menschen die Straße nicht mehr.“ Bars, Restaurants und Clubs reihen sich aneinander. Männer laufen gestylt und Frauen und Mädels frivol in engen Röhrenjeans, kurzen Röcken und sexy Outfits umher. Dicke Karossen geben Standgas. Laute Bässe werden noch lauter aufgedreht. Wir tauchen in das Nachtleben ein. „Ihr werdet dort alles finden.“ Sagte man uns im Hotel. „Discos, Huren, Drogen… Schaut euch am besten selbst um und entdeckt, was es alles gibt.“
Taxim heißt aber auch „Platz der Teilung.“ Hier endeten in altem Konstantinopel die Wasserleitungen der Stadt. Heute ist er ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, das ist immer wieder zu lesen. Die Straßen aus aller Richtungen kommen hier zusammen. Und die Menschen, abends, nachdem die Sonne untergegangen ist. Hier trifft sich die Jugend der Stadt. Eine Einkaufsmeile endet am Taxim Platz, was zusätzliche Menschenmassen an diesen Ort spült.
Wir stöckeln vorbei an Clubs, vor denen lange Schlangen stehen. Betrunkene – nein: angeheiterte Leute, ausgelassene Stimmung. Wir vermeiden es, gleich in der erstbesten Disco zu verschwinden. Die Meile zieht sich weiter, doch irgendwann enden die Restaurants und Bars und wir kommen nur noch an Clubs vorbei. Der Abend hat erst angefangen, wir wollen nicht gleich zu Beginn in irgend einem Club versumpfen.
So schlendern wir über die nun leeren und dunklen Straßen, löchrige Pflaster und hohe Bordsteinkanten. An einer großen Moschee (welch Ironie) fragen wir nach dem Weg. Das zweite Ausgehviertel Karaköy befindet sich anscheinend gleich hinter der Moschee. Bei dem Gedanken muss ich lachen. „Hinter der Moschee kann Gott das wilde Treiben nicht sehen…“
Der Maronenverkäufer an seinem Stand gibt uns Recht. Fee übersetzt, während die heißen Maronen im Feuer brutzeln und mich holziger Rauch einhüllt. „Nicht jeder der einen Bart trägt, ist ein Opa und nicht jeder, der ein Takke (muslimische Kopfbedeckung für Männer, wird beim Gebet getragen) trägt, ein Gelehrter.“
Das beschreibt diese gewisse, überall auf der Welt anzutreffende Doppelmoral ziemlich gut.
Das hippe Karaköy
Im Gegensatz zu Taksim ist Karaköy eine moderne, leicht alternativ angehauchte Ausgehmeile und sofort gefällt uns die Stimmung. Das „Schwarze Dorf“, wie der Name des Viertels übersetzt werden kann, besteht auf den ersten Blick aus einer autofreien Hauptstraße, an der sich links und rechts Bars und Lokale reihen. Von der Hauptmeile gehen links und rechts kleine, süße Seitengassen ab und führen tief in das ehemalige Hafenviertel. Hier kann man viel entdecken, Graffiti an den Wänden und gemütliche Lokale. Bunte Lampions und aufgespannte Schirme sorgen für Atmosphäre. Das viele Laufen macht Hunger; Fee zeigt mir eine Spezialität ihrer Heimat, Kokorec. Das Kokorec ist ein Gericht aus gehacktem Schafsdarm, der aufgerollt und am Spieß über einem Holzgrill gebraten wird. Kleingehackt und gewürzt landet das Fleisch zwischen zwei Brötchenhälften. Es schmeckt erstaunlich lecker, auch wenn man weiß, was drin steckt. Dazu bestellen wir einen Teller gegarter Muscheln mit Zitronensaft, die in der Form überall in der Stadt an kleinen, mobilen Ständen verkauft werden.
Dabei kann der erste, frische und junge Eindruck leicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass es sich bei Karaköy um eines der ältesten und historischsten Teile der Stadt handelt. Das Viertel, dessen alter Name Galata lautete, war bereits zu byzantinischer Zeit ein Hafengebiet. Galata war in jener Zeit noch kein Istanbuler Stadtteil; es handelte sich um eine eigene, befestigte und wehrhafte Stadt, die Konstantinopel gegenüber stand. Es wird vermutet, dass die Stadt italienisch ausgesehen haben muss; erhalten hat sich davon nur der Galata-Turm.
Schließlich bleiben wir in „Berlin“ hängen. In dem Tanzclub geht die Post ab. Fee informiert mich, dass Alkohol hier genauso teuer wie in Deutschland sei, es wird hoch versteuert. Mit diesen Maßnahmen soll der Konsum der Bevölkerung gesenkt werden, nach dem Motto: „Trinkt Ayran statt Raki.“ Also gut, dann mal langsam mit den Drinks und dem Konsum. Doch auch ohne Hilfsmittel reißt mich die Stimmung vom Hocker. Die Leute tanzen und feiern aus purer Lust heraus. Es sind hauptsächlich Touristen hier, doch auch feierwütige Türken mischen sich unters Volk. Und es läuft alles an bekannten Titeln, die jeder kennt und (fast) jeder mag. Ich kann mich kaum auf meinem Sitz halten.
Später in der Nacht, oder besser gesagt: früh am Morgen holt uns „unser“ Taxifahrer ab. Wir haben ihn sozusagen aus dem Schlaf gerissen, denn er ist offiziell nicht im Dienst und mit seinem privaten Auto unterwegs. Auf dem Weg zum Hotel halten wir an einem Lokal, in dem es Linsensuppe gibt. „Das ist so bei uns, wir essen Linsensuppe zum Frühstück.“ Klärt mich Fee auf. Hier sitzen Istanbuler und nehmen ihr frühes, sättigendes Mahl zu sich. Das Lokal hat genau zwei Suppensorten, die in großen Töpfen vor sich hin garen. Frühstück, der Begriff erscheint mir absurd im Angesicht der Tatsache, dass ich noch kein Auge zugetan habe und nur davon träume, mich im Bett zu verkriechen. Der Himmel ist nicht mehr nur gräulich, er nimmt langsam die goldene Färbung der aufgehenden Sonne an.
Als ich gegen acht Uhr morgens endlich in den wohlverdienten Schlaf falle, hängt bereits ein zartes, perlmuttfarbenes Leuchten über den Dächern der Riesenstadt.
Na, ihr beiden seid mir ja echt ein paar Nachteulen 😅! Ihr scheint mir ja ordentlich Spaß gehabt zu haben. Sehr schön!
Eines ist sicher: da werde ich nicht mal ansatzweise mithalten können. Ich bin schon froh, wenn ich bis kurz nach 23 Uhr noch halbwegs bei Bewusstsein bin. Linsensuppe hingegen könnte ich vermutlich zu jeder beliebigen Uhrzeit vertragen 😎.
Ich bin normalerweise auch nicht so die späte Eule, vor allem nicht auf Reisen, weil ich da noch so viel bei Tageslicht sehen möchte. Allerdings konnte ich mit Fee das Nachtleben so genießen, wie es mir alleine vermutlich nicht möglich gewesen wäre. Das ist viel wert.
Ihr hattet Spaß, und das ist die Hauptsache!
Sehr nützliche Informationen für diejenigen, die einen Besuch in Istanbul planen 🙂 Ich fahre in etwa einem Monat nach Österreich.
Österreich ist wunderschön, leider war ich bisher nur kurz beim „Vorbeifahren“ dort, auf dem Weg nach Italien. Ich bin gespannt auf Ihre Eindrücke, ich hoffe doch, dass Sie die im Blog verarbeiten werden?