„Welcome in Republica Srpska!“ Dass die Verhältnisse in Bosnien und Herzegowina relativ kompliziert sind, ist allgemein bekannt. Doch die Details, die lerne ich während meines Aufenthaltes hier kennen. Wir überqueren die Grenze bei Grenzübergang Svilaj. Die folgenden Meter geht es über eine Brücke, die den Fluss Save umspannt; wir haben Kroatien verlassen, sind noch nicht in Bosnien & H. Wir fahren durch Niemandsland. Dieses Niemandsland ist jedoch keineswegs verlassen, wie man meinen könnte. Unten auf dem Fluss sind Hausboote zu sehen, und segeln kann man scheinbar auch. Ein seltsames Gefühl, durch ein Stück Erde zu wandeln, das niemandem gehört. So sehr gewöhnten wir uns bereits an den Gedanken an Zugehörigkeit und Besitz, dass uns das tief und fest in den Genen sitzt.
Ein zweiter Übergang, dann sind wir dort, wo sich der serbische Teil Bosnien & H. befindet. Nach dem unkomplizierten Prozedere, wo nur kurz in unsere Pässe geschaut wurde, fahren wir die ersten beiden Kilometer über eine neue, exzellent ausgebaute, jedoch geisterhaft leere Autobahn, die A1. Die Fahrbahn glatt wie ein Babypopo und so gar nicht das, was man vom Balkan erwarten würde – doch das Wunder endet bereits abrupt nach den eingangs erwähnten zwei Kilometern. Danach geht es über eine Landstraße in den ersten Ort hinter der Grenze, wo unsere Übernachtung auf uns wartet: das Gasthaus Dobor Kula in Muse Ćazima Ćatića. Am Fluss Modrica.
Da hier vorwiegend bosnische Serben leben, flattern entsprechend viele serbisch aussehende Flaggen im Wind. Die bosnischen Serben, erzählt uns Jacob, der sich längst mit den politischen Verflechtungen dieses komplizierten Landes auseinander gesetzt hat, seien noch prorussischer als die Serben auf dem „Festland“. Doch grundsätzlich ist vor zu schnellen Urteilen Vorsicht geboten. Noch haben wir uns nicht selbst ein Bild gemacht.
Die Flagge der Republica Srpska gleicht der serbischen bis auf ein Detail: die Tricolore rot, blau und weiß weist in der serbischen Variante den heraldisch silbernen Doppeladler auf, die der Republica Srpska ist offiziell frei von Emblems. Inoffiziell sind das serbische Kreuz oder der hl. Sava häufig auf ihnen zu sehen. Die Abspaltungs-Ambitionen der Serben sind ein offenes Geheimnis. Warum ist es so?
Schauen wir uns Bosnien und Herzegowina einmal genauer an.
Als die Republik Jugoslawien zerfiel, wuchsen die Spannungen zwischen den Ethnien im heutigen Bosnien & H. Während die serbischstämmigen für einen engeren Anschluss an Serbien und den Verbleib in Jugoslawien plädierten, wollten die Bosniaken einen unabhängigen Staat. Die Kroaten in westlichen Herzegowina wiederum wollten enger an die Seite Kroatiens treten und zum sich neu bildenden, kroatischen Staat dazugehören. 1992 fand auf dem heutigen bosnischen Territorium ein Unabhängigkeitsreferendum statt, infolge dessen die Unabhängigkeit der Republik Bosnien & Herzegowina beschlossen wurde. Fast parallel dazu wurde eine bosnisch-serbische Republik ausgerufen.
Nach der Anerkennung der Republik Bosnien & Herzegowina durch die EG und die USA 1992 begannen die Parteien, sich gegenseitig militärisch zu bekämpfen. Dabei wurden die bosnischen Serben von Serbien und der noch offiziell existierenden Republik Jugoslawien unterstützt, die bosnischen Kroaten von Kroatien. Die Bosniaken erfuhren Unterstützung unter anderem durch muslimische Staaten, jedoch aufgrund eines auferlegten Embargos kamen nur wenige der benötigten Waffen ins Land und zu den Bosniern. Die Kämpfe wurden durch nationalistische Gruppen zusätzlich angeheizt. Sie eskalierten in Massenmord und sog. ethnischen Säuberungen. Der Gipfel war vermutlich der Genozid von Srebrenica, der erste Völkermord in Europa seit der Beendigung des Zweiten Weltkriegs, bei dem die Armee der Republika Srpska über 8000 Bosniaken, meist Männer im Alter zwischen 13 und 78 Jahren, ermordet hatte. Bis heute ist umstritten, welche Rolle die Blauhelme dabei gespielt hatten. Der Vorwurf, sie hätten sich zurückgezogen und das Massaker zugelassen, klingt noch heute nach.
Der Krieg dauerte Jahre. Erst 1995, unter der Intervention der Vereinten Nationen und der NATO und internationalem Druck, erklärten sich die müden Kriegsparteien zu Verhandlungen bereit. Der Krieg endete nach dreieinhalb Jahren mit dem Vertrag von Dayton. In diesem wurde festgelegt, dass zwei Entitäten (hier: Verwaltungseinheiten), die Föderation Bosnien und Herzegowina sowie Republika Srpska, den Staat Bosnien und Herzegowina bilden. Begleitet wird das Land seither von Einheiten der NATO Friedenstruppe.
Warum erörtere ich all das so lange? Um dieses Land zu verstehen, muss man seine Geschichte kennen. Von manchen Politikwissenschaftlern wird Bosnien und Herzegowina als „Experiment“ bezeichnet, als ein künstliches Konstrukt. Das Land ist befriedet, doch ist es auch friedlich? Die Wunden sind noch frisch und die Erinnerungen noch da. Zwei – genauer gesagt, drei – Einheiten, die sich aufs Blut bekämpften. Nun sind sie ein Staat. Sind Bürger – Mitbürger – eines und desselben Landes. Vielleicht Bekannte, Nachbarn? Kann das gut gehen? Wir werden sehen. Unter anderem kommt es heute mehr denn je auf eine kluge, besonnene Politik der führenden Parteien an.
Tomek stimmt uns mit seinen Insidergeschichten auf die Vergangenheit des Landes ein. Erzählt uns im Zusammenhang der Kriege etwas von einem Konzentrationslager gleich hinter kroatischer Grenze, von Hinrichtungen und Blutrausch. „Die haben sich schrecklich geprügelt hier unten.“ So sein nüchternes, doch mitfühlendes Fazit.
Ich versuche, mit dem nicht gerade umfangreichen Wissen, welches ich zu diesem Zeitpunkt besitze, unvoreingenommen an unsere Zeit hier ranzugehen. Man ist schließlich da, um sich einen Eindruck zu verschaffen, so einseitig und unvollständig dieser auch sein mag. Als wir in der Republika Srpska aus dem Auto steigen, ist das, was ich sehe, für mich zunächst mal Bosnien (und Herzegowina natürlich, doch ich werde hin und wieder der Einfachheit halber von Bosnien sprechen. Oder von BH. Was euch lieber ist.). Wir halten vor unserem Host auf Zeit, dem Dobor Kula. Unsere Knochen knacken, als wir uns aus dem Auto quälen. Eine lange Fahrt war es bis hierhin, und zwischen sieben und halb acht in der Früh sind wir losgefahren.
Für mich ist zunächst also alles Bosnien und was ich zunächst sehe, sind zerschossene Häuser. Von den schrecklichen Jugoslawienkriegen habe ich natürlich gehört; frühestens, als ich als Kind in Polen in den Neunzigern vor dem Fernseher saß. Bosnien und Herzegowina, Sarajewo – das waren die Synonyme für Krieg. Diese Kriegszeugnisse sind noch immer überall zu sehen. Eine ganze, zerschossene Hauswand gegenüber von unserem Gasthaus. Die Überbleibsel der Kämpfe sind vielerorts bis heute da, sind nicht beseitigt worden. Entweder zur Mahnung, oder weil sich das Geld nie gefunden hatte.
Nach dem Einchecken und nachdem wir unsere Siebensachen in die Zimmer (zwei an der Zahl, eines für Weiblein, eines für Männlein) verfrachtet haben, dürstet es uns nach Essen und hungert nach Bier. Unten in Restaurant schauen uns gleich mehrere erstaunte Augen an: die örtliche Polizeitruppe hatte anscheinend das Gleiche im Sinn wie wir. Noch bevor wir überlegen können, ob wir denn nun in Anwesenheit der bosnischen Cops etwas essen wollen oder nicht, sagt jemand von uns: „Kommt, hier riecht es so nach Zigaretten. Wir setzen uns raus.“ Also nehmen wir draußen vor dem Haus Platz, wo sich der Himmel bereits zu einem schwachen Rosa verfärbt. Die warme Küche hat zu, doch ein großes Sarajevsko versüßt uns den Abend. Wir sind bestens gelaunt, ein gemeinsames Selfie muss sein. Oder zwei. Oder zehn. Mit Fratzen. Ohne Fratzen. Doch lieber mit Fratzen.
Bier macht hungrig. Tomek verspricht uns ein leckeres Essen; dafür müssen wir nur eben ein paar Schritte gehen, eine Brücke und einen Fluss überqueren. Im Gänsemarsch natürlich, denn hier sind Fußgängerwege rar. Ich spüre das Bier warm in meinen Adern. In einem urigen Lokal, wo nur wenige Einheimische sitzen und alle Augen zunächst auf uns gerichtet sind, bekommen wir die beste Fleischplatte unseres Lebens. Und dabei mag ich Fleisch nicht mal besonders. Doch hier, in Bosnien, sind Fleischplatten mit Gemüsebeilage und Pommes so etwas wie eine Spezialität: nirgendwo werden sie so gut zubereitet wie auf dem Balkan. Garniert wird das Ganze mit den besten Kroketten meines Lebens. „Das schaffen wir niemals!“ Rufen wir aus, als das Essen zu uns hereinschwebt, getragen von einem zuvorkommenden, leicht schielendem Mann. Doch, schaffen wir. Am Ende pieken wir die letzten Pommes auf. Ein Traum. Selbst lange, nachdem diese Reise zu Ende ging, dachte ich im Nachgang noch immer an diese Fleischplatte und die Köstlichkeiten, die im Mund zergingen, heruntergespült mit dem besten, hausgemachten Rakija meines Lebens.
Zum Mittagessen gehört ein guter Obstbrand. Zum Abendessen auch. Denn nichts anderes ist Rakija als ein ausgezeichneter, klarer Brand. Der Trester ist weich, mild und aromatisch, um nicht zu sagen, sogar noch besser als damals in Georgien. Es gibt ihn aus Trauben, aus Birnen, aus anderen Obstsorten – und wir probieren uns durch. Der Abend wird länger; zunächst sitzen noch andere Gäste mit uns im Restaurant, am Schluss ist nur noch eine Gruppe Männer irgendwo im Eck da – und wir. Um nicht gleich betrunken zu werden, überbrücken wir die Zeit zwischen zwei Rakija mit etwas Nichtalkoholischem, also Bier. Irgendwas machen wir jedoch falsch, denn als wir wieder auf dem Zimmer sind, drehen sich die Wände. Probleme mit dem Einschlafen hat in dieser Nacht niemand.
[…] über Bord zu werfen. Beispiel: normalerweise bin ich ein Pflanzenkostvertilger. Doch auf dem Balkan würde ich (und habe ich) einen Fleischteller nach dem anderen verputzt und brav […]
Danke für die knackige Zusammenfassung der jüngeren Geschichte Bosniens. Klar, ich erinnere mich natürlich an diesen schrecklichen Krieg Anfang der 90er Jahre mitten in Europa. Aber all die komplexen Umstände, die Bosnien zu händeln hat, hatte ich so genau nicht mehr auf dem Schirm.
Kulinarisch seid ihr an diesem ersten Tag ja jedenfalls voll auf eure Kosten gekommen. Genügend „Spülmittel“ mit schlaffördernder Wirkung gab es auch. Bin gespannt, wie eure Tour weitergeht und was ihr noch so alles erlebt habt.
Es gibt weiterhin viel Fleisch und „Spülmittel“ (die charmante Umschreibung gefällt mir). Und so zogen sie weiter durch den Balkan… 🙂
Vielen Dank für die Schilderung dieser Phase Ihres Tipps, Kasia. Ich wünsche dir eine sichere Reise!
Dankeschön. Die Reise fand bereits vorletztes Jahr statt. Wir sind gut angekommen und leben noch 😉