18.06.022
Entspanntes Leben. Obwohl es in der Bäckerei eng ist und voll, obwohl alle warten müssen, bis die Kunden sich mit einem Plausch von der Verkäuferin verabschiedet haben, so ist niemand ungeduldig oder gar verärgert. Die Menschen haben Zeit, die Menschen haben ein Lächeln auf den Lippen. Und so schiebt sich die Schlange langsam nach vorne in dem kleinen Raum. Auch mich schiebt sie nach vorne, vorbei an köstlichen Kleinigkeiten wie bunte Kuchen oder schokoladige Törtchen, jedes davon sicher ein Gedicht und jedes einzelne eine Sünde wert.
Doch heute wird nicht gesündigt. Wir suchen uns lediglich ein Bisschen Verpflegung in Form von frischem Gebäck zusammen, ehe wir den Laden verlassen. Denn wir haben dies oder jenes vor, was „in die Berge“ fahren mit beinhaltet. Doch das köstliche Gebäck lockt und so setzen wir uns für einen Augenblick draußen auf den nicht allzu großen, überschaubaren Platz, um den sich Läden gruppieren und in deren Mitte ein Brunnen seine plätschernden Wasserspiele spielt. Noch ist die Hitze des Tages nicht da, noch ist es ein erfrischender Morgen. Nein, ich würde nicht behaupten, es sei kühl. Es ist – geradezu perfekt.
„Ich war schon damals beim Arbeiten gerne hier.“ Sagt Stefan und meint: hier in dieser Gegend um den Lago Maggiore. Die Menschen seien entspannt und angenehm, dolce vita eben. Und obwohl hier ein jeder – oder ein jeder zweite – recht betucht sein muss, merkt man es ihnen nicht an.
Allzu lange bleiben wir nicht hier sitzen. Das Auto bringt uns hoch hinaus über die Städte und Orte, hin zum Cardada. Die schlangenartig verlaufende Straße bietet nahe der Seilbahn tatsächlich sowas wie Parkmöglichkeiten und oh! Ich habe selten einen Parkplatz mit solch einem Ausblick gesehen. Sanft schimmert der See in einem leuchtenden Blau, zart und rauchig blau zeichnen sich die Berge ab. Wir sehen Häuser, Straßenzüge und Kirchtürme und ein Gitternetz aus Verbindungsstellen, das die Häuserzüge der Stadt Locarno in mehr oder weniger feine Rechtecke trennt. Die Menschen dort unten können wir nur erahnen. Doch die heutigen Ausblicke werden besser, viel besser.
Bei Cardada handelt es sich um einen auf dem 1671 m hohem Berg Cimetta gelegenen Aussichtspunkt, zu dem auch eine Gaststätte gehört. Der Cimetta ist Teil der Bergkette Alpi Lepontine und kann ruhig als der „Hausberg von Locarno“ bezeichnet werden, denn durch die Nähe zu diesem touristischen Ort und die gute Erreichbarkeit ist er ein beliebtes Ziel für diverse Tagesausflügler wie uns. Die Bergspitze ist sowohl über Wanderpfade zur Fuß als auch mit der Seilbahn erreichbar. Ratet mal, was mich gereizt hätte (ja, den Berg zur Fuß zu erklimmen) und was wir am Ende gemacht haben (Option zwei, die Seilbahn). Die Möglichkeit, zur Fuß vom Berg zu steigen, behalte ich als Möglichkeit im Hinterkopf.
Ausstieg in großer Höhe. Aufgeregt (ich) und leicht höhenängstlich (Stefan) verlassen wir die Gondel. Im Gegensatz zu den unteren Bereichen ist es am Aussichtspunkt angenehm frisch. Verschiedene Pfade und Beschriftungen wollen entdeckt und gelesen werden, und zunächst führt uns der Pfad zum View Point.
Der Aussichtspunkt
Dieser ist instagrammable und voller Menschen. Sachte schiebt sich die Plattform hinaus ins Nichts und der nach Pinien duftende Wald bleibt hinter uns. Es hat etwas vom Schweben, wie wir dort oben stehen und in die Gegend schauen. Die Sicht ist nicht wirklich klar. Es ist dunstig – und erst jetzt ist zu erkennen, dass Locarno auf einem Delta liegt, auf einer Landzunge aus über lange Zeit angespülten Sedimenten liegt, die sich hinein in den See schiebt. Es ist das Maggiadelta, gehörend zum gleichnamigen Fluss. Auf beiden Seiten sind Bebauungen zu sehen; das Delta liegt zwischen Locarno und Ascona. Irgendwann wird es den Lago Maggiore in zwei teilen, doch noch ist es nicht soweit. Ich bin fasziniert darüber, wie sich manche Landschaftsformen erst aus großer Höhe erschließen und so manches Rätsel gelöst wird.
Ein Stück weiter, auf der anderen Seite, erstreckt sich die Gebirgskette scheinbar ins Unendliche, und kleine Straßen winden sich kaum erkennbar inmitten von Grün und Stein. Über dem Lago Maggiore schweben Gleitschirmflieger glücklich am Himmel entlang und ich muss an meinen ersten Gleitschirmflug in Pokhara, Nepal denken. Wie gern würde ich diese Erfahrung wiederholen und noch lieber würde ich sie meinem Stefan angedeihen lassen, doch dieser will davon nichts hören. So schnell geben ich jedoch nicht auf; der Gleitschirmflug wird Thema beim heutigen Ausflug bleiben.
Seit unserer Panne in Frankreich und dem zur Regungslosigkeit verdonnertem Tag ist mein Bewegungsdrang nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Unfähig, auch nur eine Minute länger als nötig an Ort und Stelle zu bleiben verlasse ich den Aussichtspunkt und wandere den gefestigten Weg in die andere Richtung, um zu sehen, was es hier noch alles gibt. Stefan schlendert gemütlich hinterher. Vorbei an einer kleinen Kapelle und einem steinernen Brunnen, an Skulpturen, von denen ich nicht weiß, was ich von halten soll, gelangen wir zur nächsten Gondelstation, die uns eine weitere Ebene nach oben bringt. Klein und unwichtig verschwindet unser Aussichtspunkt unter unseren Füßen und wieder einmal steigen ein höhengeplagter Stefan und ich aus der Gondelkabine.
Hier erwartet uns eine Riesenschaukel.
Eine Schaukel ist schon geil. Wie sehr muss ich mich auf Spielplätzen dieser Welt zusammenreißen, um nicht die Kinder fremder Leute von selbiger zu schubsen – leider bringt ein solches Verhalten soziale Sanktionen mit sich. Die Riesenschaukel ist frei. Also hüpfen wir drauf, erst Stefan, dann ich(ja okay, erst ich, dann Stefan), um uns angstfrei über der genialen Aussicht dunstblauer Berge in die Lüfte zu erheben. Mein Liebster macht dabei fast ein Salto – und macht dabei ein Kind neidisch, welches, wie wir später auf Bildern sehen, micky-mausig und etwas ratlos neben dem schaukelnden, großen Mann steht.
Genug geschaukelt. Notgedrungen lassen wir das Kind mal ran. Stattdessen schlendern wir an einem Restaurant vorbei, denn ich liege Stefan noch immer wegen des Gleitschirm Fliegens in den Ohren. Auf einem abschüssigen Stück Rasen haben die Gleitschirmflieger ihre Schirme ausgebreitet und starten von dieser Stelle zu einem Rundflug über dem Lago. Die Thermik ist heute fantastisch, der Auftrieb optimal. Scheinbar mit wenig Mühe kommen die Schirme vom Boden in die Luft und nach nur ein paar Schritten verlassen die Füße den Boden.
Nicht unsere Füße freilich, denn dafür müsste mein Stefan seine Angst vorm Fliegen überwinden, und mit Engelszungen rede ich auf ihn ein. Doch es hilft weder der Hinweis auf die einmalige Gelegenheit noch auf das perfekte Wetter und auch nicht darauf, dass man noch keine roten Farbklekse, die von aufgeschlagenen Gleitschirmfliegern stammen, auf den Steinen sieht. Mürrisch sitze ich da und schaue sehnsüchtig den vor Freude laut jauchzenden Menschen dort oben hinterher. Siehst du, es macht Spaß… aber nein, auch dieser Hinweis verpufft im Wind.
Wir verlassen den Platz unverrichteter Dinge. Stefan ist froh, dass der Kelch an ihm vorbei geschwebt ist. Über Schotterwege erreichen wir eine weitere Aussichtsplattform. Auf tausendsechshundert Metern Höhe merkt man die dünne Luft eigentlich noch nicht, und trotzdem komme ich mir auf den folgenden Treppenstufen vor, als würde ich mindestens den Everest besteigen. Ohne Sauerstoffflasche. Denn der Sauerstoff ist (theoretisch) noch in der Luft.
Der Ausblick ist der Mühen wert. Und mit einem müden Lächeln muss ich daran denken, wie ich unten am Parkplatz auf dem Weg zur Gondelbahn noch dachte, was für eine Aussicht. Nun, alles Aussichts… ähm, Ansichtssache. Besser als hier wird es nicht. Ja, besser wird es wirklich nicht, denn das ist quasi fast der Gipfel des Berges Cimetta. Mehr oder weniger, denn ein weiterer Pfad führt seitlich noch etwas höher, doch wir reden hier von höchstens zweihundert Metern. Von hier ist das Delta, auf dem Locarno liegt, noch besser zu sehen und während ich nach unten spähe und den Ausblick genieße, überlege ich gleichzeitig, wie ich am besten eine der großen Kuhglocken stehlen könnte, derer vier oder fünf an den Drahtseilen der Brüstung hängen und bunt bemalt im Wind vor sich hin bimmeln.
Falls sich einer über meine Diebstahlpläne wundert und was ich mit einer übergroßen Kuhglocke will, das hat einen driftigen Grund. Ihr kennt das sicher. Man erzählt seiner Verwandtschaft, dass man in die Schweiz fährt, und die Verwandtschaft sagt sowas in der Art wie: bring mir etwas mit. Meist wird in diesem Zusammenhang Schweizer Schokolade oder, seltener, der Schweizer Käse erwähnt. Meine Mutter will eine Kuhglocke haben. Eine original Schweizer Kuhglocke – um sie im Garten in den Kirschbaum zu hängen. Dann noch eine Schnur an die Glocke binden, fertig. Von einer solchen Vorrichtung erhofft sie sich, die Kirschen vor Staren zu schützen, die in Scharen über die gerade erst reif gewordenen Früchte herfallen.
Also halte ich seit meiner Ankunft die Augen nach einer Kuhglocke offen. Das Problem: der Lago Maggiore scheint keine Gegend für Kuhglocken zu sein, denn Fakt ist, ich habe bislang keine einzige in den Souvenirläden gesehen. Die Glocken an dem Aussichtsposten des Hausberges Cimetta sind die ersten, die ich erblicke.
Nein, nur die Ruhe, ich habe keine der Glocken von den Drahtseilen abmontiert; sie hängen noch in voller Anzahl an Ort und Stelle und wenn sie nicht verrostet sind, dann bimmeln sie noch heute. Tatsächlich habe ich am Folgetag eine sündhaft teure Kuhglocke in einem Shop am Rheingletscher erstanden. Ich weiß es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch ich werde exakt die gleichen Glocken einige Zeit später in Nordmazedonien entdecken – für umgerechnet vier Euro das Stück…
Auf der anderen Seite, dort, wo vor uns die Bergkette aufragt, sehen wir eine Weile einem Übungsflug der Schweizer Luftwaffe zu. Die grauen Flieger sind kaum zu erkennen, wie sie ihre Pirouetten in der Luft drehen. Der Anblick verleiht Stefan ungeahnte Energie und beschwingt und singend (Stefan) als auch hungrig (ich) fahren wir via Gondel wieder auf Ebene Eins herunter, wo im einzig vorhandenen Restaurant „original Tessiner Küche“ mit Ausblick auf uns wartet. Warum die Gänsefüßchen? Ob es sich um original Tessiner Küche handelt, kann ich nicht nachvollziehen. Eines ist sicher. Wir sind überrascht, wie lecker das Essen schmeckt.
Ich sagte ja zur Beginn, dass ich mir den Abstieg zur Fuß vom Berg hinunter vormerken werde? Richtig. Während die Gondel vor sich hin wackelt und uns nach unten bringt, ist der fußläufiger Weg vorgemerkt, ganz sicher. Nur dass wir beide in der Gondel sitzen.
Unten in Locarno erschlägt uns die Hitze. Während wir uns zum Auto schleppen, wird uns klar, wie gut wir es dort oben hatten. Das Thermometer hat die Marke von dreißig Grad längst geknackt und der Abend verspricht nicht gerade, kühler zu werden. Das schreit nach unserer heimischen Terrasse – und einem kühlen Bier.
Das war die Kunstflugstaffel der Schweizer Luftwaffe die Patrouille Suisse, die waren unten im Tal Gast bei einer Veranstaltung der Armee. Ich glaube ich würde her Tandemspringen machen als mit einem Gleitschirm ins Unglück zu segeln :D.
Tandem springen? Machen wir. Sag nur, wo und wann. Ich helfe sogar beim Absprung, so nett bin ich 😉
Du bist soooooooooo „nett“ 🙂
Nur zu dir 😉
Der Blick ist umwerfend!
Der Blick ist den Aufstieg wert. Oder für Faule: die Gondelbahnfahrt 😉
Also, ich hätte den Törtchen nicht widerstehen können…
Die Aussicht ist ja wirklich genial, da habt ihr tolles Wetter erwischt. Kann man von der Schaukel auch direkt ins Tal abspringen?
Haha… theoretisch ja, das wäre dann aber wirklich der kürzeste Weg… außer man wählt die Gondel. Zum Abspringen, meine ich 😉
Es ist wunderbar dort oben… Ich war bisher zweimal dort. Zuletzt vor ca. 3 Jahren. Ich habe auch die Aussicht und den Gleitschirmflieger genossen.
Die Kuchen ganz am Anfang deines Blogs sehen sehr verlockend aus 🙂
Die Kuchen waren ein kleines Träumchen, aber wir sind standhaft geblieben 🙂 Hätten wir Cardada zu Fuß erklommen, wäre das was anderes gewesen. Der Ausblick von da oben ist wunderbar. Ich könnte mir in Zukunft noch eine kleine Wanderung vorstellen.
Ach, wie schön! Die Aussichten waren ja wirklich formidabel. Warum bist du denn nicht alleine auf einen Gleitflug gegangen, wenn dein Herz so daran hängt? Das Wetter war ja wirklich perfekt. Gut, dass du auch die Kuhglocken vollzählig hast hängen lassen 😅. Bestes Foto: ratloses Kind neben selbstvergessen schaukelnden Stefan. Unbezahlbar 🤣!
Ja, und das Beste war ja, dass die Mutter fleißig meinen Stefan dabei fotografiert hat *lach*
Ich bin schon mal Gleitschirm geflogen, ich wollte unbedingt, dass mein Stefan in den Genuss kommt. Außerdem wäre dann das gemeinsame Erlebnis nicht mehr da. Ich mache solche Aktionen lieber ein anderes Mal alleine, wenn meine Gesellschaft nicht so will, wie ich will 🙂