Europa, Schweiz

Filmstadt Locarno

19.06.20

Die Zeit des Abschieds neigt sich uns zu. Viel zu kurz war unser Aufenthalt in Tessin – dem Schicksal und der widerspenstigen Technik geschuldet, die uns einen Tag unseres Lebens gestohlen haben. Ein nach Bergen und Urlaub hungernder Stefan hat deshalb noch ein paar Pläne parat.

Wir besuchen Asconas Zwillingsstadt Locarno, in der das großartige, alljährliche Jazz Festival stattfindet. Ein Jazz Festival, welches ich überhaupt nicht auf dem Schirm habe, als ich die ersten Besucher in diesen seltsamen, weißen „Mafiosi“-Hüten sehe. Ich wundere mich zunächst nur, doch dieser Hüte werden es immer mehr. Fakt ist, dass wir das Jazz Festival um knapp eine Woche verpasst haben.

Ansonsten liegt Locarno verschlafen in der Morgensonne da. Wir parken irgendwo am See und machen uns zur Fuß in die Altstadt. Die Promenade muss, ähnlich wie in Ascona, das schlagende Herz des Ortes sein, denn nach einer großen Kreuzung passieren wir reihenweise quadratische Plattenbauten. Sie sind zwar bunt angestrichen und unter den ausgefahrenen Markisen blüht eine Menge Grünzeug, was dem ganzen einen südländischen Flair verleiht. Aber trotzdem. Diese hässlichen, mehrstöckigen Gebäude, in denen eine Wohnung als „Penthouse“ vermutlich eine Seele und eine Niere zusätzlich kosten würde, ziehen sich bis hinauf auf die Berghänge. Blühende Bougainvilleen machen sich gut als Farbtupfer und lassen verträumt dolce vita singen. Doch noch bin ich nicht beeindruckt. Locarno, gib mir mehr.

Dieses Mehr kriege ich, als wir die mehrstöckigen Wohnhäuser und Hotels hinter uns lassen. Das alte Zentrum der Stadt ist überschaubar, nichtsdestotrotz kann man sich darin vertiefen und einen ganzen Vormittag nur schlendern. Wir haben ein wenig Zeit, denn wir haben es nicht eilig, nach Hause zu kommen.

Ein großer Platz – die sinngemäß auch so benannte Piazza Grande – mit eng aneinander gedrückten Villen, zierliche Balkone, jedes dieser Häuser in einem anderen Pastellton gestrichen. Die engen Altstadtgassen führen alle hierher und treffen hier zusammen, es ist sozusagen das Zentrum der Stadt. Auf dem Platz ist bereits eine große Bühne aufgebaut, welche wir im breiten Bogen umgehen. Nicht dass noch jemand um eine Singeinlage bittet. Doch die Gefahr besteht nicht. Seitlich der Piazza kleben Cafés und Bars an den Häusern und schon zu dieser Zeit sitzen hier Leute drin. Doch im Großen und Ganzen ist der Andrang überschaubar, sehr überschaubar. Quasi nicht vorhanden. Es ist die Tageszeit, zu der noch alles schläft oder frühstückt; die Tagestouristen kommen erst zum Nachmittag hin.

Von der Piazza Grande führen enge Gässchen in die Altstadt hinauf. Stefan ist kein Freund davon, die Steigung auf sich zu nehmen, doch ich bin kompromisslos und will alles sehen.

Sowohl die Piazza wie auch die engen Gassen zwischen hohen Hauswänden sind mit Pflastersteinen ausgelegt. Verblasste und teilweise abgeblätterte Heiligenbilder zieren noch das eine oder andere Gemäuer und die Grüneinlage wird dominiert von Zypressen und Palmen. Es blüht alles, was blühen kann. Schnell vertiefe ich mich in das Innere einer Kirche, an der ich fast vorbei gegangen wäre – sie steckt wie festgesetzt zwischen anderen Häusern. Nur die Ikonen und Fresken stechen heraus und lassen inne halten. Im Inneren der Kirche beeindruckt eine fantastische barocke Decke. Bei der Gestaltung wurde mit Farben und Formen ein wahres Kunstwerk geschaffen. Da kann man nicht anders, da muss man einfach den Kopf gen Himmel heben. Falls das die Mission des Künstlers war, dann erkläre ich sie für erfolgreich beendet.

Beim weiteren Schlendern entdecken wir eine Festungsanlage, die mir sehr nach einer Burg aussieht. Es handelt sich dabei um Castello Visconteo. Stefan bleibt an eine Mauer gelehnt im Schatten und wartet, während ich die zugänglichen Bereiche der Burganlage erkunde. Sie ist teilweise zerstört, und auf der zur Hauptstraße hin gewandten Seite sind neuere Anbauten zu sehen. Laut einer Infotafel gehen die Ursprünge der Burg auf das Jahr 866 zurück, als Kaiser Ludwig der II seiner Frau Engelberga die Anlage als „Königlichen Hof“ schenkte. In den Folgejahren/Jahrhunderten wurde die Burg von verfeindeten Adelsfamilien zerstört und zu Zeiten der Visconti aus Mailand (1342-1439) als Festung wieder aufgebaut.

Weitere Besitzerwechsel und weitere Ausbauten folgten; Gerüchten zufolge sollte bei der Gestaltung sogar Leonardo da Vinci seine Finger im Spiel gehabt haben. Doch schließlich ereilte die Festung das Schicksal vieler anderer Burgen, wenn ihr Dasein seinen Zweck verloren hatte: sie wurde zerstört. Oder in diesem Falle, nachdem sie zuletzt als Sitz der Landvögte diente, im 18 Jhd. „geschleift“, da der Unterhalt als zu teuer erachtet wurde. Als solche Anlagen an Bedeutung verloren, wurden sie teilweise wieder rückgebaut und das Gestein für andere Zwecke verwendet; so steht heute nur noch etwa ein Fünftel der einst großen Anlage da. Darin ist heute ein archäologisches Museum enthalten

Langsam schlendern wir wieder zurück zur immer noch ziemlich leeren Piazza Grande und von dort aus gemütlich zur Uferpromenade. Am Lago Maggiore ist nun etwas mehr los, Spaziergänger kommen uns entgegen. Viele dieser weißen Hütte sind zu sehen, in denen ich zu Beginn fälschlicher Weise mafiöse Ambitionen vermute. Ja, das alljährliche Filmfestival ist definitiv zu erwähnen wie auch die Tatsache, dass Locarno die drittgrößte Stadt der Schweiz ist – und dennoch mit 16000 Einwohnern überschaubar. Sie ist mit Lugano die nördlichste Stadt mit mediterranem Klima, die an einem See gelegen ist. Zugleich gilt sie als der wärmste Ort der Schweiz.

Riesige und unglaublich dicke Stämme ahornblättriger Platanen sprengen beinahe die Gehwege und wie Zwerge schleichen die Menschen an ihnen vorbei und zwischen ihnen hindurch. Die Bäume spenden Schatten und sind eines der vielen Gründe für die Beliebtheit der Promenade. Der Zweite ist sicher der Reiz von Gewässern, insbesondere wenn sie von Bergen umschlossen sind wie dieses hier. Irgendwie verläuft das Leben entspannter und langsamer am Lago Maggiore. Doch kommt es einem gestressten Deutschen nicht immer so vor dort, wo er seine persönliche Ruheoase findet? Verläuft das Leben nicht überall vermeintlich langsamer als im eigenen Land? Ist das gestresst sein nicht eine Grundeinstellung, die uns zueigen ist und sollte es nicht ein Indiz dafür sein, das etwas in unserem Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist?

Blaue Berge, die blasser und blasser werden, im Dunst der See entschwinden. Boote liegen noch ruhig da, schaukeln auf dem Wasser. Zypressen, eine kleine Kirche. Alles zieht vorbei, als wir uns auf den Weg machen. Irgendwo auf einem kleinen Flugfeld landet gerade ein kleiner, roter Flieger – das Wetter ist perfekt – und ein erwürgter, weißer Teddybär hängt als Trophäe vor uns an einem Wohnwagen befestigt. Hohe Berge und himmelblaue Bergflüsse. Steinkirchen, Viadukte und massive Brücken. Immer schroffer wirkt die Bergwelt, in die wir uns vertiefen. Ich rechne beinahe damit, auf dem schnellsten Wege wieder nach Mannheim zu kommen und habe wenig Hoffnung, etwas mehr von der Landschaft zu sehen, doch so wird es nicht sein. Denn der Tag wird anders verlaufen. Ganz anders.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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6 Kommentare

  1. Ja, Locarno zeigt seinen Charme offensichtlich erst beim zweiten Blick all denjenigen, die nicht sofort aufgeben, wenn sie die weniger schönen Häuser auf dem Weg zum Zentrum sehen. Die Altstadt macht dann aber einen richtig tollen Eindruck. Und die phänomenale Lage am See mit den Bergen als Hintergrundkulisse ist eh unschlagbar. Bin gespannt, wie es an eurem Rückfahrttag noch weiterging.

    1. Ich denke, diese ganzen Örtchen am Lago Maggiore sind eher zum Flanieren und Verweilen genau richtig. Wenn man aber Sehenswertes abhaken und weiter möchte, könnte man das Gefühl haben, nicht auf seine Kosten zu kommen. Ansonsten, zwei ganz entspannte Städte.

  2. Guter Cliffhanger!

    1. Danke! Die Bergwelt lässt uns so schnell nicht los 🙂

  3. Wunderschöne Bilder von Locarno. Ganz toll diese Stadt wieder in deinem Blog Kasia zu bewundern.

    1. Es ist in der Tat eine schöne Stadt. Ich bin sicher, dass man dort eine gute Zeit verbringen kann. Wir hatten nur einen Vormittag, aber was wir gesehen haben, hat uns gut gefallen 😉

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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