November 2021
Wir schlendern durch Karaköy. Karaköy, das so seltsam nüchtern und geschäftig aussieht bei Nieselwetter am frühen Morgen. Meine Freundin zeigt mir endlich Simit, die Art Frühstück „auf die Schnelle“ für Studenten und Menschen, die nicht viel Geld zum Ausgeben haben. Es ist ein kleiner Snack, bestehend aus einem Sesamkringel mit Weichkäse und Tee, etwas, das es für wenige Lira an jeder Ecke zu kaufen gibt. „Simit“ steht eigentlich nur für den Sesamkringel, doch Fee meint damit das Frühstück als Ganzes. Ich finde den Kringel seltsam sättigend, dafür, dass nicht viel dran ist. Wir ziehen weiter.
Ein wenig schlendern wir durch die Geschäfte und kaufen eine Menge Nippes. Eigentlich bin ich kein Fan von Billigware, doch so, wie der Lira steht, kann ich schlecht nein sagen. Der türkische Lira ist allein in der einen Woche, in der wir jetzt hier sind, um einiges gefallen. Und der Trend setzt sich fort.
Das Betreten der Geschäfte ohne Mundschutz ist übrigens kein Problem, auch wenn die meisten Kunden sie tragen. Entweder wir werden einfach herein gewunken, oder uns wird eine medizinische Mundschutzmaske geschenkt.
Die Tüten und Tütchen in unseren Händen werden immer mehr. Auch deutsche und sonstige Touristen bevorraten sich hier in diversen Shops mit allem, was sie (nicht) brauchen, von Kleidung über Kosmetik bis hin zu Schmuck und Elektronik. Doch langsam reicht es mit dem Nippes. Die Frage ist: wie geht es weiter?
Ein Plan für den weiteren Tagesverlauf muss her. Mit einem Taxi oder einem Bus über die Galata-Brücke wieder auf die andere Seite zu kommen würde bei dem Verkehr aktuell bis zu zwei Stunden in Anspruch nehmen. Der Istanbuler Verkehr steht um diese Uhrzeit kurz vorm Infarkt. Nicht wie gestern, als die Nacht uns gehörte. Die einzig annehmbare Lösung besteht darin, die Fähre zu nehmen. „Dann sind wir auch mal tagsüber mit der Fähre gefahren.“ Sagt Fee, ganz die Reiseleiterin.
Sowohl die Busse als auch die Fähren gehen von Eminönu ab. Wir brauchen nur zu Fuß die Brücke zu überqueren. Im Hafenbereich ist es wie immer voll. Aus den Imbissbuden zieht der Geruch von gebratenem Fisch an unsere Nasen und auf der Brücke stehen reihenweise Fischer und Hobbyfischer und halten ihre Ruten ins Wasser. In kleinen, weißen Eimern schwimmt oder besser: quetscht sich der Fang des Tages. Und hier, auf dem Eminönu-Platz nahe der Galata-Brücke, hier „erlebt man die halbe Türkei“, lese ich später bei TripAdvisor. Hier passieren die meisten Taschendiebstähle, erfahre ich von den Einheimischen. Und hier steht auch die Istanbuler Stadtpolizei. Die ist auch einheimisch.
(Ich darf an dieser Stelle an Fees Wortschöpfung der Reise erinnern; immer wenn sie von „Einheimischen“, also Locals, redet, sagt sie: die Eigenheimlichen, scheinbar eine Kombination aus den Worten „Eigenheim“ und „heimlich“. Die „Eigenheimlichen“ sind einmalig und werden den restlichen Urlaub prägen.)
Wir kaufen Tickets für die Fähre
Wir kaufen Tickets für die Fähre und schon kurze Zeit später ergießt sich die Schaar der Wartenden in die Fähre. Fähren können übrigens auch mit dem Istanbul Ticket genutzt werden. Auch hier am Anleger gibt es Automaten, wo man die kleine, rote Karte mit frischem Guthaben aufladen kann. Dann nur einmal an die Schranke halten, fertig.
Von unserem Deck aus beobachten wir durch die Glasscheibe hindurch, wie sich das Ufer mit seinem Turm (hier: Galata-Turm) langsam von uns entfernt. Möwen, ganze Scharen von ihnen, fliegen an uns vorbei. Sie sind so nahe an der Scheibe, dass es fast wie ein Standbild aussieht. Als sei man in der Matrix. Da sich die Fähre ebenfalls – und das nicht gerade langsam – vorwärts bewegt, wirkt es, als würden die Vögel in der Luft stehen.
Wieder in unserem Stadtteil. Die Zeit ist inzwischen weit fortgeschritten und wir haben für heute Abend etwas vor. Doch unsere Füße wollen uns einfach nicht zum Hotel tragen, denn Fee möchte schlendern. Hier mal schauen, da die aktuellen Wechselkurse vergleichen, dort mal fragen.
Wir sind beide müde, meine Füße bringen mich um. Im Hotel angekommen tun wir das naheliegendste – wir zoffen uns. Dann legt sich meine Freundin schlafen. Ich brauche Luft, ziehe mich an und gehe wieder raus. Vielleicht waren wir zu lange zusammen, vielleicht haben wir zu sehr aufeinander gehockt. Ich spüre, wie ich ein paar Augenblicke für mich brauche und wie gut das tut.
Und doch. Im Park am Rathaus Gaziosmanpasa setze ich mich auf eine Bank, beobachte die Leute und bin unsagbar traurig. Ob sich jemand über die einzige, einsame, traurige Touristin in diesem Stadtviertel wundert?
Ich sehe Menschen kommen und gehen. Ein Mann trifft sich mit Frau und Kindern – die Familie war shoppen, davon zeugen die vielen Türen und Taschen in den Händen der Frau. Der Mann lacht und drückt seine Kinder, die Frau küsst er auf die Stirn. Ein Zeichen von Liebe und tiefer Ehrerbietung.
Ich merke, wie sich jemand neben mich setzt. Ich achte nicht weiter darauf, bin in meinen eigenen Gedanken versunken. Und während die Protagonistin so dasitzt und sinniert, könnte ich euch in der Zeit erzählen, was am gestrigen Abend nach meinem verhunztem Friseurbesuch so los war.
Was am Abend zuvor geschah
Meine Freundin Fee ist dann in ihrem Element, wenn sie neue Orte entdecken und Kontakte mit Menschen knüpfen kann. Wie an jenem schicksalshaften Dienstag, als sie auf den Basaren der Stadt unterwegs war, während ich das Hotelbett hütete und über die Gemeinsamkeit von Sünde und Sühne sinnierte. Als meine Fee also vollbeladen mit ihren Einkaufstaschen am Hafen von Eminönu landet, ist es ihr ein Leichtes, mit den dort Wache schiebenden Polizisten ins Schwätzchen zu kommen. „Kann ich hier kurz stehen bleiben?“ Fragt sie. „Meine Beine tun so weh…“ Natürlich konnte sie „kurz stehenbleiben“ und nicht nur das, sie durfte sogar ihre vielen Taschen bei den Beamten abladen, während sie weiter die Gegend auskundschaftete. Die Stadtpolizei ist eine Art Sicherheitspolizei, in etwa mit unserem Ordnungsamt vergleichbar. Nur mit Waffen – und ein paar Befugnissen mehr. So lässt meine Freundin ihre Taschen stehen und erkundet die umliegende Gegend.
„Ich habe eine tolle Shisha-Bar entdeckt!“ Schwärmt sie, als sie an diesem Abend wieder ins Hotel kommt. „Es wird dir dort gefallen, es ist, als wenn man direkt am Wasser sitzt.“
An jenem Mittwochabend, nach dem Wellnesstag im Hammam und der Geschichte mit meinen verhunzten Haaren finden wir uns also am Platz von Eminönu wieder. Ich schaue mich neugierig um und lasse die Blicke über diesen belebten Ort schweifen. Verkäufer, Stände mit Waren, Fisch und Snacks, Leute, die ihre Angelruten ins Wasser werfen. Ein Gewirr aus Stimmen, Rauch der in die klare Nacht entweicht. Über dem Wasser tanzen tausend Lichter der Stadt, beleuchtete Brücken, die beleuchtete Hagia Sophia.
Obdachlose. Es gibt sie auch hier, natürlich. Die Stadtpolizei hat immer Brot dabei; die ihnen zu diesem Zweck zugeteilten Rationen werden täglich mitgenommen und an Bedürftige verteilt. Das hatte Fee bei ihrem Plausch mit der Polizei erfahren. Das ist es, wie sich die Türken umeinander kümmern.
Doch auch in Istanbul gibt es sie, die organisierten Banden, die ihre Kinder zum Betteln auf die Straße schicken. Oder sie gleich betäuben, damit diese tagein-tagaus unbeweglich in den Armen ihrer „Mütter“ liegen können. Oder habt ihr schon mal gesehen, dass ein gesundes, kleines Kind so lange ruhig daliegen und schlafen kann? Achtet mal darauf. Als wir so durch Karaköy streunen, bemerken wir ein Mädchen, das scheinbar Pommes aus dem Müll isst. Doch als wir stehen bleiben und sie länger beobachten, stellen wir fest, dass das nicht stimmt. Die Kleine tut nur so, als würde sie essen. Man erklärt uns, das sei eine häufige Masche; sogar den Essensmüll bringen die Kinder selbst mit und räumen ihn später säuberlich wieder weg, wie heimlich von Passanten aufgenommene Videos im Internet zeigen. „Ihr müsst kein Mitleid haben.“ Sagt man uns. Tatsächlich, ich habe schon vor langer Zeit festgestellt, dass Mitleid ein Geschäftsmodell ist, ein lukratives noch dazu. Einzig Mitleid habe ich mit der Kleinen, weil sie das hier machen muss.
Erst suchen wir uns ein Plätzchen, um was zu essen. Eine leckere Grillplatte muss her. Dann geht es über die Brücke wieder auf die Seite von Eminönu. Nun präsentiert mir Fee stolz eines der Lokale, welches sie bei ihrer Erkundungstour entdeckt hat. Die Lokalitäten befinden sich direkt unter – oder besser: an der Brücke, wo nun, mitten unter der Woche, ordentlich die Post abgeht. Gut, der Laden ist nicht brechend voll, doch hochgeklappte Bürgersteige sehen anders aus.
Wir suchen uns einen Platz direkt am Wasser. „Und?“ Fragt mich Fee stolz. „Ist es nicht so, als wenn du auf dem Wasser bist?“ Ich lassen den Blick gleiten über die hell beleuchtete Stadt. Ja, das ist es. Wunderschön.
Unsere Shisha kommt. Laut dröhnt die Musik. Eine Gruppe Frauen tanzt auf der Tanzfläche, ein Sänger performt dazu. Ein kleines Mädchen geht ab wie Schmidts Katze, ihre Moves sind einfach unschlagbar. Ich und der sichtbar stolz schauender Papa des Kindes sind wohl ihre größten Fans.
Doch der Abend ist irgendwann auch vorbei. Nun sitze ich am folgenden Tag hier im Park und bin unsagbar traurig. Während meine liebe Freundin schläft. Vielleicht hätte ich auch ein Nickerchen machen sollen, nichts wirkt so heilend wie das.
Der alte Mann
So im Rückblick erscheinen mir solche Zwisten natürlich ungeheuer affig, doch just in diesem Moment hatte sich alles zu einer Frage auf Leben und Tod geschaukelt. Also weiter im Text. Hatte ich mitbekommen, dass sich jemand neben mich setzte?
Sicher, so am Rande schon. Und irgendwann drehe ich mich auch um – und schaue in das gütige Gesicht eines alten Mannes. Der alte Mann streckt mir einen Bonbon entgegen, den ich dankbar annehme. Die Situation entbehrt nicht einer gewissen Komik, denn Bonbons gibt man eigentlich traurigen Kindern, die sich das Knie aufgeschlagen haben. Und diese Situationskomik bringt sofort ein wenig Heiterkeit in den Tag. Ich muss schmunzeln, so richtig vom Herzen. Süßes vertreibt schon seit jeher Kummer und Sorgen. Wussten das nicht schon die Kleinsten?
Der Mann sagt etwas. Ich gebe zu verstehen, dass ich… ähm… ihn nicht verstehe. Er macht „hm.“ Dann, nach einer Weile, bietet er mir einen Tee an. Na ja, das kleine Wörtchen „Chai“ kenne ich inzwischen. Ich lehne dankend ab (hätte ich annehmen sollen?), doch ich bin dankbar, einfach nur dafür, dass er da ist und hier neben mir sitzt. Meine Welt ist soeben ein bisschen heller geworden.
Dann reiße ich mich zusammen, kaufe Baklava ein und kehre damit zurück ins Hotel.
Ein sehr wechselhafter Tag, aber auch solche darf es geben während einer Reise. Traurigkeit und Heiter-Schönes liegen oft ganz dicht beisammen. Ich hoffe, ihr beiden habt euch wieder ausgesöhnt.
Ja, das haben wir, ziemlich schnell sogar. Solche Dinge schweißen enger zusammen 😉
Es war ein toller Tag, wie alle andere zuvor.
Der alte Mann mit seinem Bonbon war das beste von allem 😉
Nochmals vielen Dank für Ihre faszinierenden Geschichten über Ihren Aufenthalt in Istanbul. Einkaufen und Essen scheint dort noch intensiver zu passieren als hier in unseren westlichen Ländern 😉
Ich denke, dass die Polizei, die unverkauftes Brot an Obdachlose verteilt, nur ein erbauliches Beispiel ist, von dem wir etwas lernen können.
Es gibt in der Türkei ein starkes soziales Netz und man unterstützt sich gegenseitig. Natürlich gibt es auch Schattenseiten. Aber bei der aktuellen Wirtschaftslage geht es ohne ein Miteinander einfach nicht.