Juni 2021
Ich mag sie. Diese verträumte, verschlafene Stimmung hier im Niemandsland, im Dreiländerdreieck zwischen Deutschland, Frankreich und Luxemburg. Sanft wogen die goldenen Weizenfelder im Wind, sanfte Kurven führen an Weinrebenhügeln entlang. Leere Straßen im Sonnenschein, ein Schein, der mich blinzeln lässt. Ich fahre nach Perl.
Perl. Was ist Perl? Perl ist ein kleiner Ort hier an der Grenze, am äußersten, südwestlichsten Zipfel Deutschlands. Es gehört noch zur Saarland („Im Kleinen beginnt das Große“, wie süß! Kleines, putziges Saarland…), doch tut es das wirklich? – frage ich mich unwillkürlich, als ich nach langer Parkplatzsuche das Auto direkt an der Polizei abstelle. Mit Parkscheibe fünf Stunden, reicht mir das für das, was ich heute vorhabe?
Ich will einmarschieren. Zu Fuß. Nach Luxemburg. Ich will nach Schengen.
Moment, Schengen, haben wir das nicht schon mal gehört? Meint die jetzt den Schengenraum, in dem wir uns jetzt alle wohlweislich befinden?
Ja – und nein. Im Moment, nein. In diesem Augenblick meine ich Schengen, den klitzekleinen, luxemburgischen Ort hier hinter der Saar, wo vor über dreißig Jahren das Schengener Abkommen unterzeichnet worden ist.
Hier hat also alles begonnen, geht mir durch den Kopf und ich betrachte aufmerksam die Anwohner von Perl. Der Ort ist so verschlafen wie auch der Rest der Landschaft, die Menschen rechnen kaum mit Besuch. Höchstens mit Durchgangsverkehr, wie ich einer bin. Ein paar Wanderer suchen sich die Premium-Wanderwege. Ansonsten ist nicht viel los. Obwohl Perl an sich ein putziger Ort ist.
Deutsche, französische und luxemburgische Kennzeichen füllen die Straßen. Menschen sprechen französisch und flämisch, und im Vorbeigehen denke ich mir: hä? Ach, hätte ich im Französischunterricht nur besser aufgepasst. Denn alles, was mir jetzt bleibt, ist nur zu sagen: „Je nois parles francais, aber bitte, red weiter…“ Ach, lassen wir das.
Ich bin aufgeregt, bin der Meinung, dass bereits hier etwas anders ist. Die Häuser sehen anders aus. Das luxemburgische dringt durch. Doch kann man das wirklich so sagen? Sind Kategorien und Schubladen denn noch zeitgemäß? Und was ist es überhaupt, dieses „luxemburgische“, das mir im Kopf herumschwirrt? So oder so, solche Grenzgebiete finde ich überaus faszinierend. Orte, deren wechselhafte Geschichte sich auf ihr jetziges Antlitz ausgewirkt hat, Bereiche, die von beiden Seiten geprägt worden sind. Das Kribbeln und die Gewissheit, so unmittelbar an einer anderen Grenze zu sein.
Mit geschulterten Rucksack laufe ich bis zur Brücke, wo mich die B 407 auf die andere Seite der Mosel – und über die Grenze führt. Auch ich habe mir eine Premium-Wanderroute ausgesucht, die S-Schleife Grenzland-Tour.
Voller Ehrfurcht nähere ich mich dem ersten Schild. Luxemburg, umrandet von einem Kranz aus Sternen auf blauem Grund. Noch immer ist so ein Grenzübertritt „einfach so“ für mich nicht selbstverständlich. Noch immer ist er etwas Besonderes, „einfach so“, völlig unbeachtet, in ein anderes Land „einlaufen“ zu können. Einmarschiert in Luxemburg. Und keinen juckt‘s.
Es ist faszinierend, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die Leute hin und her bewegen, jenseits der unsichtbaren Grenzen, ohne sie überhaupt noch groß zu beachten. Vorbei, die Zeit der Grenzkontrollen, wie sie noch vor 25 Jahren für die Menschen hier im Dreiländerdreieck Realität war. Hier, wo alles so nahe beieinanderliegt, wo Nationalitäten kaum eine Rolle spielen und der tägliche Kontakt mit der „anderen Seite“ (ich kann nicht aufhören, in Kategorien zu denken…) etwas selbstverständliches ist. Wie mühsam es damals gewesen sein muss, vor der Zeit der offenen (nicht vorhandenen?) Grenzen. Wollen wir dahin zurück?
All das Davor und Danach zeigt anschaulich das Europäische Museum in Schengen.
Europäisches Museum in Schengen
Vor dem Museum wehen Fahnen der E-Unionsmitglieder. Das heißt, sie wehen nicht, denn es ist windstill. Sie hängen lustlos an ihren Fahnenstangen herunter. So lustlos wie manchmal einige der Mitglieder einander begegnen. Auch Teile der Berliner Mauer sind hier ausgestellt. Als immerwährende Mahnung, die uns daran erinnern soll, wie schädlich die Spaltung für uns ist.
Der Eintritt in das Museum ist gratis. Hier wird das Schengen Abkommen im Rahmen einer Dauerausstellung gewürdigt. Warum ausgerechnet Schengen, dieser unbedeutende kleine Ort im Nichts? Aus praktischen, nicht ideologischen Gründen: Schengen war damals, am 14 Juni 1984, die Anlegestelle für die „MS Princesse Marie-Astrid“. Die Benelux-Staaten Frankreich und Deutschland waren die ersten, die das Abkommen unterzeichnet haben. Zu den europäischen Grundfreiheiten gehört unter anderem die Reisefreiheit und das Abschaffen der Grenzkontrollen. Im Laufe der Zeit werden immer mehr Länder Teil des sogenannten Schengenraums.
Die ganze Geschichte der Europäischen Union liegt vor mir ausgebreitet, hier, im Schengen-Museum. Sogar Großbritannien ist durchgestrichen; mit den aktuellen Geschehnissen sind sie zügig, das muss man schon sagen. Es ist ungewöhnlich, dass ein Gründungsmitglied geht. Im Nachhinein haben sie ihre Entscheidung nicht gut durchdacht. So zumindest mein Verdacht. Während der eine emanzipiert im Alleingang seinen weiteren Weg bestreitet, gibt es Länder, die den Anwärter- oder besser: den Kandidatenstatus haben. Dann heißt es, Hausaufgaben machen. Eine ganze Reihe an Bedingungen muss erfüllt werden, damit aus dem Kandidatenstatus ein „juhu, ich bin drin“ wird: politische und wirtschaftliche Stabilität, Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Die Kopenhagener Kriterien haben es in sich. All das kann Jahre dauern. Und nicht selten blockieren sich die Länder gegenseitig, da sie ihre hausgemachten Interessen von einem anderen Anwärter bedroht sehen. Und dann gibt es wieder welche, für die bereits der Kandidatenstatus ein heiß ersehnter Etappensieg wäre.
Ich für meinen Teil bin immer froh, wenn ich sehe, dass unsere Gemeinschaft, unsere Werte, unsere Bewegungs- und Handelsfreiheit hoch gehalten werden. So hoch, dass selbst in Staaten, vor denen noch ein weiter Weg liegt, die EU-Fahnen an Häusern hängen. Damit man weißt, wohin der Weg führt. Und doch ist es ein beklemmendes Gefühl. Denn die viel beschworenen „Werte“ der Europäischen Union: führen wir sie nicht selbst ad absurdum? Ich denke da an Flüchtlingszwischenlager in Libyen, an illegale Pushbacks EU-Grenznaher Staaten, die sich mit der „Sache“ (hier: flüchtende Menschen) von anderen Mitgliedern der Union alleine gelassen sehen. Ich sehe Gastarbeiter, die ausgebeutet werden, für ihre Massenunterkünfte einen nicht unerheblichen Teil ihres Verdienstes auf den (Spargel)Feldern der Republik abdrücken müssen. Die trotzdem wieder kommen, weil es sich für sie immer noch lohnt.
Die Werte der Europäischen Union. Hand aufs Herz. Werden wir ihnen selbst gerecht?
Es sind so die Gedanken, die mir im Kopf herumflattern, als ich das Museum inspiziere. Solche Gedanken sind nicht neu noch sind sie revolutionär. Im Grunde habe ich hier ein kleines Sammelsurium dessen zum Besten gegeben, das in der einen oder anderen Form bereits berichtet/durchgekaut wurde. Das eine oder andere haben wir schon mal gehört. Und mal ehrlich: neu ist uns all das nicht.
Der Brexit wird thematisiert, und – für mich besonders nostalgisch – die Mützen der Zollbeamten, die die Grenzen kontrollierten, damals noch, in nebelgrauer Vorzeit. Ja, ihr jüngeren unter uns. Ich kann mich noch genau an die Grenzkontrollen erinnern. Wenn der volle Reisebus mitten in der Nacht stehenblieb und ein Beamter einem ins verschlafene Gesicht leuchtete. Einmal auf jeder Seite der Grenze. Ich habe noch meinen alten Reisepass und die Ein- und Ausreisestempel nach Polen und zurück, jedes Jahr, wenn ich meine Familie besuchte. Ich habe meine alte Arbeitserlaubnis noch, die es mir ermöglichte, einen Nebenjob zu verrichten. Jetzt können wir kreuz und quer durch Europa gondeln, einfach nur wenn wir Bock drauf haben. Einfach nur sagen: hier bin ich. Man, was haben wir es gut.
Im Anschluss suche ich die Wegmarkierung. Bereits beim Eintritt in die Stadt irrte ich wie eine Ameise auf Koks durch die Industriegebiete, Weinberg hinauf, Weinberg hinunter, ehe ich mich zurecht fand. Doch das ist wohl Normalzustand und wird es bei mir auch bleiben. Wozu die Markierung beachten, wenn man sich auch verlaufen kann. Ist eh spannender, und man macht extra Meter.
Nun suche ich sie wieder. Die Markierung, die den Traumschleifenweg kennzeichnet. Währenddessen sammeln sich schwere, dunkle Wolken über Luxemburg.
Der Wolkenbruch kommt mit Ansage. Das Land steht unter Wasser, was mich schnellstmöglich zum Auto flüchten lässt. Die Route lässt sich heute wohl nicht wandern… oder vielleicht doch?
Das Krachen eines Donners irgendwo in der Nähe lässt mich noch ein bisschen schneller laufen. Schengen, ich komme wieder.
Ach, wie wunderbar, dass du seit letztem Sommer immer mal wieder in meiner alten Heimatregion nach dem Rechten schaust 😎. Ich kenne Perl, muss aber zu meiner Schande gestehen, dass ich Schengen bisher nur vom Durchfahren kenne. Das sollte ich wohl ändern, wa?
Ja, die EU und ihre mehr oder weniger wilde Geschichte. Vieles ist selbstverständlich geworden, und wir nehmen oft gar nicht mehr bewusst wahr, welch ein Privileg es ist, Grenzen als solche nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Weil man, um es mit deinen Worten zu sagen, einfach mal so eben einmarschieren kann. Da können viele nur davon träumen. Und ich meine damit nicht Herrn P.
Liebe Elke,
ich weiß selbst nicht, warum es mich immerzu an Orte zieht, für die ich ausgerechnet ein Visum brauche und wo die Einreise kompliziert und die Sicherheitslage volatil ist. Der Mensch mag wohl Herausforderungen. Und immerzu ermahne ich mich selber, mal in der nächsten Nachbarschaft zu stöbern, Luxemburg und Frankreich liegen praktisch um die Ecke 😉 Es wird ein paar Beiträge zu meinen Frankreich-Ausbrüchen geben, doch dann ist auch wieder gut und ihr bekommt von mir wieder Exotik zu lesen 😉 Wie geht es dir denn da, wo du gerade bist (ich will den anderen nichts spoilern, bin aber neugierig…)
Jetzt waren Sie relativ kurz in der Nähe Kasia. Für uns ist das Dreiländereck verbunden an das dorf Vaals aber das ist B/NL/D Belgien, Niederland, Deutschland. Vielen Dank für uns das andere Deiländereck zu zeigen. Mir war das gans neu.
Ich arbeite mich so langsam entlang der Grenzgebiete vor, irgendwann werde ich sicher noch zu euch in die Nähe kommen 😉