Es dauert ein wenig, bis ich den richtigen Weg finde. Der schmale Pfad, der am Flussufer entlang führt, versteckt sich zunächst zwischen den Bäumen; um ihn zu erreichen, muss ich erst einmal den Hof des „Wiedfriede“-Gasthauses überqueren. Dann tauche ich in den Wald ein.
Immer schmaler und immer kurviger wird der Weg, den ich jetzt gehe, unterbrochen durch umgekippte Bäume, tief hängende Äste und dichte Vegetation. Und neben mir rauscht der Fluss. Eine Stille, die keine ist. Vögel, die sie unterbrechen, die Rufe des Waldes. Die klare, „grüne“ Luft. Es ist jedesmal so, wenn ich hier bin: Bereits ein kurzer Augenblick im Westerwald an der Wied, am Rande des tiefen Waldes und der eisernen Brücke bringt mich zur Ruhe, nimmt sofort einen- bis zwei Gänge raus aus meinem chaotischen Alltag. Nur ein kurzer Augenblick hier reicht aus, um so vieles zu vergessen.
Während ich weiter laufe, mich an Baumstämmen vorbei zwänge und über dichtes Wurzelgeflecht klettere, überkommen mich Zweifel, ob dies hier überhaupt ein offizieller Wanderweg ist. Andere Menschen sehe ich keine, doch frische Reifenspuren im Sand lassen erahnen, dass dies hier eine beliebte Strecke für Mountainbiker zu sein scheint. Auch sehe ich einen solchen kurze Zeit später an mir vorbeifahren, als ich ein wenig abseits am Ufer der Wied stehe und den wilden Gänsen zuschaue. Das unablässige Plätschern begleitet mich den gesamten Weg über. Bis ich schließlich zu einem kleinen Bach komme, der sich leise plätschernd von oben von der Anhöhe aus in die Wied ergießt. Zielstrebig hat sich das Wasser einen Weg zwischen den bröseligen Steinplatten gebannt. Und plötzlich habe ich große Lust, nicht mehr den Wanderweg entlang zu gehen. Ich klettere den Lauf des Bachs nach oben.
Vorsichtig taste ich mich entlang der schmalen Schlucht, platziere immer schön meine Füße von Stein zu Stein und suche nach trockenen Stellen. Das erfordert manchmal ein wenig Erfindungsreichtum. Und wo keine Steine parat liegen, um mich trockenen Fußes über das Wasser zu bringen, da werden eben welche entsprechend platziert. Denn was gar nicht geht, ist, sich die Schuhe nass zu machen. Denn Freizeitschuhe trage ich keine – und die schicken Treter brauche ich morgen wieder für die Arbeit…
Gar nicht so einfach, sich in einem Wald querfeldein zu bewegen, nichtsdestotrotz ungeheuer spannend. Probier das ruhig mal aus: Verlasse (und diesmal buchstäblich) den ausgetretenen Trampelpfad und mache dich auf in die Vegetation. Du wirst vielleicht ein wenig nass oder wirst Deine Kleidung ruinieren – es lohnt sich. In einer Zeit, in der man alles sofort nachlesen, jede Frage sofort beantworten kann, was gibt es da spannenderes als sich selbst aufzumachen, nach Antworten zu suchen, die einem nicht eben Google oder Facebook vorgibt? Auch wenn die Frage, die einen wurmt, einfach nur der profanen Neugierde entspringt, wo diese Schlucht und dieser Bach denn überhaupt hinführen? Und wo komme ich anschließend wieder raus? (Jaja, das kann man googeln – nein, will ich nicht…)
So unberührt wie ich zunächst glaube, ist dieser Ort hier gar nicht. Schon nach kurzer Zeit sehe ich ausrangierte Autoreifen, die jemand hier sorglos reingeworfen hat. So springe ich von Reifen zu Reifen, immer noch steil nach oben und immer noch – toi toi toi – trockenen Fußes.
Wenn ich hoch über den Abhang blicke, den letzten Sonnenstrahlen entgegen, scheint die Luft um mich herum zu wirbeln. Kleine Staubstückchen schweben umher, leuchten, geben der Szenerie etwas Elfenhaftes. Und ebenfalls elfenhaft sind die grünen, da mit Moos bewachsenen Steine, die wie eine Gruppe kleiner Gnome über mir stehen. Schon oft habe ich solche „Kobolde“, seien es Steine, Äste oder Baumwurzeln, in den Wäldern gesehen und immer noch bin ich überrascht darüber, welche Bilder die Fantasie immer und immer wieder in meinem Kopf erstellt. Die abenteuerlichsten Formen erscheinen im Unterholz, seien es Zwerge, Totenschädel oder lächelnde Gesichter. So erklärt sich so mancher früherer Aberglaube, der die Menschen umtrieb.
Ein Blick auf die Uhr. Gegen sieben wird es dunkel. Langsam klettere ich wieder den Bachverlauf hinunter.
Wieder an meinem schmalen Pfad angekommen habe ich Lust, zu laufen, mich zu bewegen, über die hervorstehenden Wurzeln zu springen. Ich erschrecken dabei ein paar Gänse, die sich mit lautem Geschnatter und heftigen Flügelschlägen erheben, um sich einige Meter weiter wieder auf dem Wasser nieder zu lassen. Als ich am „Wiedfriede“ ankomme, wird es bereits dunkel. Das Wasser rauscht unaufhörlich.