Asien, Georgien

Die Wehrtürme Tuschetiens

Ziemlich früh bin ich wach. Beziehungsweise stelle mir den Wecker. Und das hat einen Grund. Da das Haus mit Kohleofen und das Wasser mit Boiler gewärmt wird, will ich die erste sein, die duscht. Einschlägige Erfahrungen aus meiner Kindheit in Polen haben mich gelehrt, dass für Nachzügler in solchen Fällen nur noch lauwarme Plörre übrig ist. Und vor dem Duschen hier graut es mich eh schon. Hier kommen wieder einschlägige Erfahrungen auf kalten Campingplätzen zum tragen.

Doch die Sorge ist unbegründet, das Haus ist mollig warm. Die heiße Dusche dampft und kurze Zeit später stehe ich draußen auf dem Terrassengeländer und schaue hinunter auf die nur langsam im grauen Licht erwachende Landschaft. Bergketten schälen sich aus der Morgendämmerung. Wie war das? Ich bin tatsächlich hier.

Ein wenig später: Kind aufwecken (Gosia wälzt sich verschlafen noch einmal auf die andere Seite), frühstücken, packen. Noch vor dem Frühstück tragen wir unsere Siebensachen zum Auto.

Dann, unten in der warmen Küchenstube, bekommt mein Onkel endlich sein Gruppenbild mit der schönen Tuschetin. Tomek, der die Aufnahme macht, sagt scherzhaft: „Na, das wird dich einiges kosten. So ganz umsonst gibt es dieses Foto für dich nicht…“

Der Wetterumschwung draußen ist jetzt bereits spürbar. Wolkenschleier sammeln sich langsam, aber unaufhaltsam an. Wir wollen heute noch ein Ziel anfahren und dann heißt es: nichts wie runter vom Berg. Unsere Sachen sind gepackt und wir abfahrtbereit (kurzfristig findet Tomek noch einen Schäferhund zum spielen). Tiefe Wolkenfelder hängen über den Bergen, als wir losfahren. Sie prophezeien Regen, da gibt es wenig zu deuteln. Einige junge Fohlen werden über die unbefestigte Straße getrieben, auf der wir uns schaukelnd vorwärts bewegen.

Unser Tagesziel für heute (außer der Flucht vor dem Wetter) sind Tuschetiens Wehrtürme, ein geschichtliches Überbleibsel aus vergangenen Jahrhunderten, welches bis in die frühe Neuzeit genutzt wurde. Skurril sehen sie aus, wie sie sich aus den Berghängen erheben wie schwarze Feenkamine. So als würde in dem Berg selbst ein Riese hausen, und dies hier wären die sichtbaren Ausläufer seiner Festung. Doch ganz so ist es nicht, denn die Türme, welche aus aufeinandergelegten Schieferplatten gebaut wurden, dienten der Bevölkerung Tuschetiens dazu, sich vor Angriffen vor außen zu schützen. Und das sehr erfolgreich, da sie im Laufe ihrer Geschichte nie erobert werden konnten.

Wir parken das Auto auf einem flachen Hügel vor dem Dorf und laufen zu Fuß weiter. Hierbei handelt es sich um einen Teil der Ortschaft Omalo; das Sommerdorf. Die Siedlung besteht aus wenigen Häusern. Tuschetien ist heute dünn besiedelt. Zu Sowjetzeiten wurden Versuche unternommen, die Bevölkerung sesshaft zu machen. Viele vor allem junge Menschen verließen die Gegend. Inzwischen ziehen einige zurück in ihre Heimat, angezogen von der Natur und der Einsamkeit betätigen sie sich in der Tourismusbranche. Tuschetien ist bei weitem kein Ziel des Massentourismus, doch wie wir an jedem schicken Ferienhaus gestern gesehen haben, wird auch diese schroffe Gegend immer mehr von Reisenden entdeckt. Entsprechend sieht man vereinzelt Ferienhäuser, sogar mit deutschsprachigen Infotafeln.

Omalo, in dem wir untergekommen sind, ist das größte der Dörfer und stellt das Verwaltungszentrum Tuschetiens dar und verfügt über eine Krankenstation und eine Schule. So etwas wie Geschäfte gibt es hier oben nicht, vieles, was benötigt wird an Lebensmitteln, wird aus den Ebenen hier hoch transportiert. Einige Tuschen überwintern in Omalo, während es die meisten in die Ebene Kachetiens zieht. Das Nomadentum war schon immer fest mit Tuschetien verbunden, so zogen früher die Hirtenvölker mit ihrem Vieh im Winter in die tiefer gelegenen Regionen. Und obwohl Tuschetien, wie auch der Rest von Georgien, christianisiert worden war, konnte der Rest des alten Glaubens bis heute nicht verdrängt werden. Heute noch beten die Menschen an Schreinen zu ihren Halbgöttern – und zu den christlichen Heiligen gleichermaßen.

Das kleine Dorf ist bereits hellwach, es geht jedoch beschaulich in dem kleinen Ort zu. Ein Pferd steht in seinem Gatter. Ein anderes trägt einen tuschetischen Reiter über die Hügel. Auf einem Platz wird ein Transporter entladen. Tomek zeigt auf einen Mitsubishi Delicia, derer unzählige durch die hiesige Gegend fahren. „Sie sind unverwüstlich.“ Erzählt er. „Und perfekt für die Bedingungen in diesen Bergen geeignet.“ Selbst hier oben, in dieser unwirtlichen Gegend, ist neben der georgischen auch die Fahne der Europäischen Union zu sehen. Damit jeder weiß, wohin die Reise geht.

Viele der Häuser bestehen aus schwarzgrauen Schieferplatten; auch die Türme sind aus demselben Material erbaut. Die Schieferplatten wurden, wie ich später feststelle, einfach aufeinander gelegt und halten zusammen durch ihre Griffigkeit und ihr eigenes Gewicht. Und das so gut, dass sich in jenen Türmen ganze Sippen vor Überfällen der Perser schützen konnten.

Im Gänsemarsch nähern wir uns den Märchentürmen. Die Luft hier oben auf 2000 Metern ist dünn, ich spüre, wie meine Lunge protestiert. Doch zumindest bin ich nicht die langsamste in der Truppe; das sind mein Onkel und die Kids. Mein Onkel, weil er stehen bleibt, um zu fotografieren und die Kids, weil… ja. Schnaufend kämpfe ich mich nach oben. Tomek ist wie immer ganz weit vorne und scheint so ruhig zu atmen, als wäre er zu Hause auf der heimischen Couch.

Als ich ihn eingeholt habe, klettern wir in diejenigen Türme, die nicht verschlossen sind. Die ältesten von ihnen stammen aus dem 12 und 13 Jahrhundert. „Früher konnte man hier hinauf steigen.“ Erzählt mir Tomek. „Die Türme waren mit Leitern ausgestattet, die man beim Angriff hinaufziehen konnte.“ So saßen die Menschen oben in Sicherheit und konnten sich wehren. Auch der Eingang, weiß er zu berichten, war mit Absicht sehr niedrig gebaut. Als wir die Türme betreten, müssen wir uns bücken. Einerseits, um Demut vor den Gastgebern zu zeigen, andererseits deshalb, weil ein potentieller Angreifer in dieser Position nicht schießen konnte.

Ich schaue hinauf und versuche mir das alles vorzustellen. Die Holzleitern, die oberen Ebenen und die Menschen, wie sie von oben auf mich hinabschauen. Doch die kämpferischen Tuschen taten wohl mehr als das. Vermutlich hätten wir bereits in diesem Moment einen Pfeil im Rücken, oder womit auch immer hier gekämpft wurde.

Doch aktuell gibt es hier nicht viel zu sehen, und so gehen wir wieder nach draußen und warten auf die anderen, die sich nach und nach ermattet zu uns gesellen. Ich lobe mir im Stillen meine vielen Wanderungen in den Pfälzer Bergen, die mir so etwas wie Kondition eingebracht haben. In der Zeit vor Corona und vor meinen vielen Outdoor-Aufenthalten würde ich mir wohl ebenfalls die Lunge aus dem Leib kotzen.

Als wir alle endlich beisammen sind und der Rest der Truppe das Innere der Türme inspiziert hat, schauen wir uns einfach nur um. Weit, sehr weit kann das Auge reichen, bis hinter die Berge, die zusammengefaltet wie eine Mundharmonika die natürliche Grenze nach Russland, genauer gesagt nach Tschetschenien bilden …und gleich dahinter, zum Greifen nahe, ist Russland, zu diesem Zeitpunkt noch verheißungsvoll und unbelastet. Wir sind so weit weg von Zuhause, in einer Ecke der Welt, fern und wild, von der wir nicht mal träumten. Ein Stück Sehnsucht hat sich soeben in Wirklichkeit verwandelt und wir wollen nicht mehr weg.

Und während die anderen irgendwann längst wieder auf dem Weg nach unten sind, bleiben mein Onkel und ich noch hier oben und ergeben uns den Träumereien. Bis ich ihn aus seiner verklärten Stimmung reißen muss. „Onkel, komm.“ Sage ich. „Eine polnische Reisegruppe ist gerade auf dem Weg nach oben.“ Inmitten der Einsamkeit und verschlafenen Stimmung des Ortes denkt mein Onkel natürlich an einen Scherz. Doch die Reisegruppe ist echt. Schnatternd steigen sie den schmalen Pfad hinauf zu den Wehrtürmen, vor denen wir gerade stehen. Es ist höchste Zeit, die Flucht zu ergreifen.

Einen informativen Artikel zum Thema Leben in Tuschetien, auf den ich bei manchen Informationen zurückgegriffen habe, gibt es von Deutschlandfunk: Tuschetiens heilige Orte

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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10 Kommentare

  1. Ja, Einsamkeit gepaart mit guter Aussicht kann verlockend sein – bis lärmende Horden einfallen 😁.

    1. Vor allem dort in dieser Gegend hätte ich mein Lebtag nicht mit einer Reisegruppe gerechnet 🙂 Aber selbst die entlegensten Orte werden irgendwann erschlossen. Das soll mir egal sein, solange ich die ERSTE war… 😉

  2. Spannende Sache!

    1. Hm, ja, das war sehr abenteuerlich.

      Gibt es übrigens schon Beiträge zu Nairobi? Ja? Nein? Wenn nein, dann hätte ich gern welche 🙂

  3. EU-Flaggen in (noch-)Nicht-EU-Staaten, das erwärmt immer mein europäisches Herz.
    In Albanien habe ich das auch gesehen.

    Aber diese Türme und die Landschaft sind schon der Hammer!
    Gut zu wissen, dass man da sogar mit Deutsch durchkäme. 😉

    1. Ja, die Georgier sind schon ein seltsames Völkchen. Viele sind pro-europäisch (vor allem die jüngeren), aber auch konservativ in vielen Dingen. Ich freue mich auch immer, zu sehen, dass der europäische Verbund mit seinen Werten Anklang in der Welt findet, nur denke ich mir manchmal, dass wir dem auch gerecht werden müssen.

      Lg Kasia

  4. Spannend 🤗 … mit superschönen Aufnahmen 😍

    1. Oh, Dankeschön, liebe Sabine 🙂

  5. Vielen Dank für diese interessante Informationen von ein Land das mit total unbekant ist.

    1. Tuschetien mit seinen Wehrtürmen war mir auch bisher nicht bekannt gewesen, und doch bin ich froh, dort gewesen zu sein.

      Liebe Grüße
      Kasia

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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