September 2021
Muss ich den Chacha noch erwähnen? Nein? Gut. Dann von vorne.
Durchgefroren finden wir uns in der warmen Stube ein. Die fleißige Gastgeberin hat das Abendessen beinahe fertig. Außer uns befinden sich noch weitere Gäste hier: ein Schweizer Pärchen, welches tags darauf, bereits am frühen Morgen (diszipliniert wie die Schweizer, das Klischee kommt nicht von ungefähr…) raus aus den Federn und zur einer Erkundung der Gegend aufbrechen will. Und – leider einen Tisch weiter – ein paar Russen, denen eher der Sinn nach ein bisschen Feiern steht.
Die zwei mit weißer Folie bedeckten Holztische sind lang. Das, wie wir merken werden, wird auch nötig sein, denn nach georgischer Sitte werden sie sich auch hier unter den vielen Vor- und Hauptspeisen biegen. Es gibt deftige Salate (die lokale Art ist es, manche davon mit Mayonnaise anzumachen), eingemachtes Gemüse, Frischkäse, Brot – und einen großen, dampfenden Topf Chinkali, dieser Maultaschen, die wahlweise mit Fleisch oder vegetarisch gefüllt werden. Ein großer Krug kristallklaren Chacha an jedem Tisch ergänzt das Ensemble. Wir stürzen uns aufs Essen, wohl wissend, dass die Gastgeberin all dies, während wir spazieren waren, innerhalb von zwei bis drei Stunden selbst gekocht hatte. Und es schmeckt köstlich.
Der Chacha geht um; immer mal wieder wird zwischendurch das Gläschen gehoben. Zumindest an unserem und dem russischen Tisch, denn die Schweizer „müssen morgen früh raus.“ Das müssen wir auch, flüstere ich meinem zu Onkel, „und wir saufen trotzdem…“ Mein Onkel antwortet scherzhaft, die Schweizer würden uns, anderen Gästen, Schande bringen, und ich merke an, dass es schade ist, dass wir nicht bei den Russen am Tisch sitzen.
Es ist ja nicht so, als würde man als Besucher verhungern müssen hier in Georgien, wahrlich nicht. Onkel ermahnt uns, fleißig die Chinkali aufzuessen, denn „man darf die Gastgeberin nicht beleidigen.“ Das sehen wir voll und ganz ein und greifen beherzt zu. Schließlich bleiben doch noch ein paar Chinkali übrig, denn keiner von uns bekommt noch etwas runter. Wir sind pappensatt. Zufrieden mit uns, uns auch diesmal als gute Gäste erwiesen zu haben, beginnen wir bereits, unsere sprichwörtlichen Gürtel zu lockern, da kommt unsere Köchin, schaut kurz auf die Teller, sagt so etwas wie „Ach, die sind ja schon kalt“, und bevor wir uns versehen, kommt sie auch schon mit einem neuen, vollen Topf Maultaschen angeschwebt. Wir stöhnen. Doch mein Onkel ist unerschütterlich. „So, jeder von uns nimmt sich zwei.“ Anscheinend hat er wirklich vor, die brave Frau zu heiraten. Und Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen. „Statt für mich einen Georgier zu finden, fanden wir für dich eine Georgierin.“ Sage ich schmunzelnd.
Des Weiteren sinnieren wir darüber, wie hart es sein muss, hier zu leben, wie sehr uns das beeindruckt und wie gerne wir bleiben würden. Für länger. Für immer. „Eigentlich braucht man nicht viel zum Leben.“ Sagt mein Onkel. Doch das mit dem Bleiben, selbst für einige Zeit noch, ist nicht machbar, denn für die nächsten zwei Tage wird ein Wetterumschwung mit Regen angesagt. Und eine aufgeweichte Piste an den unbefestigten Hängen entlang ist gefährlich, ein Hangrutsch nicht ausgeschlossen. Morgen also wird es wieder heißen: auf über den Abano-Pass und zurück in die warme Ebene. Wir sind untröstlich.
Vor lauter Verzweiflung und weil das alles so hart ist, machen wir die Pulle Chacha leer. Nur Tomek, der Fahrer, hält sich zurück. Gosia verschwindet kichernd auf unserem Zimmer, und auch die anderen verziehen sich nach und nach. Später in der Nacht wollen wir uns Sterne ansehen, und zwar nicht die Sterne über unseren Köpfen an der Zimmerdecke, die sich drehen, während wir in den Betten liegen, sondern die richtigen: den grandiosen Himmel über dem Großen Kaukasus.
Nur mein Onkel und Jacob sind noch da. Mein Onkel bemerkt die Sammlung von Widmungen und guten Wünschen der Gäste am Eingang und findet sie toll. „Komm, Jacob, mach ein Foto von mir vor der Tafel.“ Doch Jacob ist das sichtlich peinlich. „Aber Andrej.“ Sagt er augenrollend. „Das ist nicht… so etwas.“ Da ich quasi dabei zusehen kann, wie in diesem Augenblick das zarte Vaterherz zerbricht, sage ich, als Jacob sich verzogen hat: „Komm, Andrej. Ich mache ein Foto von dir vor der Tafel.“ Sofort schmeißt sich mein Onkel in eine coole Pose.
Später, gegen elf, klopft Tomek kurz an unsere Mädchenzimmertür. Draußen ist es inzwischen völlig dunkel, es wird Zeit für die Sterne. Es ist noch kälter geworden und unseren warmen Klamotten fügen wir nun eine zweite Unterschicht Kleidung und Handschuhe hinzu. In der pechschwarzen Nacht sehen wir unseren Atem als weiße Wölkchen in den Himmel steigen.
Als ich kurz den Blick gen Himmel wende, erstarre ich vor Ehrfurcht. Das ist ja der reine Wahnsinn. Der Himmel ist vollgeschlagen mit leuchtenden Diamanten, Milliarden davon, und quer durch die Mitte ergießt sich die Milchstraße wie eine Staubwolke. Jedes Staubkörnchen – ein Stern. Vielleicht ein Sonnensystem. Eine Galaxie. Wer weiß das schon, so nach einem einzigen Blick.
Ein einziger Blick, und mein Kopf beginnt, sich zu drehen. Also schaue ich zügig wieder vor meine Füße. Alle anderen sind auch schon da. Sorgfältig wird das Tor verschlossen (die Hühner!), und dann steigen wir im Gänsemarsch über die Hecke zwischen den Weideflächen wieder den Hügel hinauf, um von dem spärlichen Licht der Häuser so weit weg zu kommen wie möglich. Nicht dass der schwache Schein unsere Wahrnehmung in irgend eine Art beeinträchtigt hätte.
Oben auf dem ersten Hügel wenden sich die Köpfe nach oben in den Himmel. Wow und Ach ist zu hören. Und während ich es den anderen gleich tue und ebenfalls im Stehen die Sterne bewundere, sorgen die dünne Luft und der Chacha in meinem Kopf für ein Gefühl der Leichtigkeit. So leicht fühle ich mich, dass ich den Boden unter den Füßen verliere und beinahe den steilen Hügel herunterfalle (fliegen habe ich leider noch nicht gelernt…). Glücklicherweise fängt mich jemand auf. Daraufhin folgt ein Befehl der Familienoberhäupter: „Auf den Boden.“
Dort, wo wir stehen, legen wir uns auf den Rücken. Auf die bloße Erde, das Gesicht zum leuchtenden Nachthimmel gewandt. Hin und wieder fällt eine tiefsinnige Bemerkung in die Stille hinein. Über die Galaxien, das Leben und darüber, ob es weiteres Leben gibt. Dieser Idee stehen meine Leute erstaunlich offen gegenüber. Wir fühlen uns wahnsinnig tiefgründig in diesem Moment, doch das wird wohl dem Chacha geschuldet sein. Ich lasse meinen Blick über diesen Abglanz der Unendlichkeit wandern. In die Vergangenheit sozusagen, wohlwissend, dass all dies, was wir da oben sehen, zu einem großen Teil einfach nicht mehr da ist. Stattdessen ist etwas Neues an diese Stelle getreten. Oder auch gar nichts.
Irgendwann will mein Onkel gehen. Die Erde, auf der wir liegen, ist tatsächlich bitterkalt. Doch das interessiert mich nicht wirklich, in Wahrheit könnte ich hier liegen bleiben, bis der Morgen graut. Und wenn meine Nieren abfrieren, das wäre mir egal. Doch glücklicherweise sind die anderen vernünftiger als ich. Das ist das schöne an so einer Gruppe, meist gibt es eine oder zwei vernünftige Personen darunter 😉 Wir wandern den Hügel wieder runter und zurück zur Hütte. Dieses Mal halten Gosia und ich uns beim Gehen an den Händen. Damit Gosia nicht hinfällt, versteht sich…
Erst ordentlich futtern und bechern, dann auf dem Rücken liegend den Sternenhimmel betrachten. Eine schönere Abendbeschäftigung kann es wohl kaum geben.
Und nur aufpassen, dass man den Berg nicht runter purzelt 🙂 Es war sehr schön gewesen.
Leckeres Essen. Und gute Reise!
Und der Chacha… vergiss den Chacha nicht 😉
Der Sternenhimmel, den man in den Bergen zu sehen bekommt, besonders wenn man sich in größerer Höhe befindet (wo es nachts auch stockfinster ist), ist wirklich fantastisch. Das sind Bilder, die sich Großstädter kaum vorstellen können.
Schönes Wochenende Kasia.
Ja, ich habe bisher auch nicht geglaubt, wie deutlich und klar Sterne zu sehen sein können an manchen Orten dieser Welt.
Liebe Grüße
Kasia