Omalo ist ein Traum. Ein Traum vom Auswandern, von Stille und Abgeschiedenheit. Der Traum, den jeder einmal träumte; vom einfachen Leben, voller Entbehrungen, welches dich jedoch glücklich macht. Aufs Wesentliche konzentrieren, mit der Natur und ihren Gewalten eins sein. Mit seinem Umfeld ausgesöhnt. Frieden vermittelt dieser Ort, in dem wahlweise junge Fohlen den Weg entlang trotten, Schäferhunde das Federvieh bewachen und die untergehende Sonne sich mit ihrem rötlichen Schein still und unaufdringlich über die Berggipfel legt. Omalo, wo der Sternenhimmel so klar ist, so leuchtend, dass es dich die Kälte vergessen lässt, die vom Boden empor zieht, auf dem du liegst. Omalo, wo es die besten Chinkali gibt, und den besten Chacha. Omalo, wo die junge, tuschetische Frau alleine ihren Alltag meistert und uns köstlich bewirtet. Omalo. Oh Omalo.
Wir haben unsere Seele an dich verloren.
Nur noch wenige Kilometer
Langsam erreichen wir die ersten Dörfer. Angeklebt wie Schwalbennester hängen sie am Berg, nur durch Fußwege oder gar über Hängebrücken erreichbar, die den reißenden Bach umspannen. Hier ist die Gegend wieder den Alpen näher, zumindest was das Aussehen betrifft. Dunkle Tannen, felsige Spitzen, was man eben so kennt. Ein Georgier, offensichtlich betrunken, kommt uns schwankend entgegen und trägt zu unserer Erheiterung bei. Es sieht aus, als wenn er zu Fuß vom einem zum anderen der Dörfer gehen will. Das ist nur vernünftig und in diesem Zustand die beste Alternative, schätze ich.
Ein ganzes Stück später sehen wir einen zweiten, auch zu Fuß und etwas weniger betrunken. Er winkt unserem Auto zu. „Was der wohl hier macht?“ Frage ich mich laut. „Vielleicht sucht er ja den anderen…?“ Sagt mein Onkel. Wir lachen.
Irgendwann wird dieser schmale Pfad, der sich „Straße“ schimpft, etwas weniger schmal. Wir verlassen die Berge und erreichen ein offenes, sonniges Tal. Hier fluten die Sonnenstrahlen warm die Luft, streifen über die Herde grasender Pferde, liebkosen die Dächer der Häuser. Links und rechts flaches Grasland, dahinter erheben sich bläuliche Gebirgsketten. Ein schöner Ort, um kurz zu verweilen und sich die Beine zu vertreten. Ich bin voll, so randvoll von Eindrücken, von begeistertem Jauchzen, dass ich nicht mehr viel zu geben habe. Wir sind müde, wird Zeit, dass wir ankommen. Wie eine andere Welt wirkt die Ebene mit ihrem Sonnenschein. Als hätte es die Strapazen, das Auf und Ab, all die Schlaglöcher und den dichten Nebel hinter uns nicht gegeben. Weit hinten, dort, wo die Weidefläche aufhört und die Berge beginnen, sich zu erheben, kleben Häuser eines kleinen Dorfes auf den Hängen. Doch das ist noch nicht Omalo, das ist noch nicht unser Ziel. Es gibt uns nur eine leise Ahnung davon, wie es aussehen könnte.
Ankunft in Omalo
Dann kommen wir an. Es ist ein kleines Dorf, dieses Omalo, nicht größer und nicht anders als die vereinzelt verstreuten Ortschaften, die wir unterwegs passierten. Scheinbar wahllos platziert wirken die Häuser mit ihren Gattern. Innerhalb der Gatter – Hühner, Gänse, Truthähne. Und Schäferhunde, die über allem wachen. In einem dieser Schäferhunde hat Tomek schnell einen Freund gefunden und trollt ausgelassen mit dem Hund herum.
Der Ort ist in ein geschütztes Tal gebettet. Unsere Unterkunft liegt etwas erhöht; wir quälen das Auto eine steile Auffahrt hinauf. „Ist es hier?“ Frage ich mich. Mangels alternativen halten wir auf einer Schräge und ziehen die Handbremse an. Dann geht es im Gänsemarsch zur Unterkunft. Peinlich genau achten wir darauf, das Gatter wieder hinter uns zu schließen, damit die Hühner nicht auf die Straße rennen.
Die Pension wird von einer zierlichen Tuschetin betrieben. Ob sie alleinstehend ist, vermag keiner von uns zu sagen, denn augenscheinlich schmeißt sie ihren Haushalt selber. Was nicht viel heißen mag. Ein älterer Mann ist irgendwie anwesend, doch ob es ihr Vater ist oder wie die beiden zusammen gehören, ist und bleibt uns unbekannt. Jedenfalls entwickelt sich ein Running Gag daraus, meinen Onkel mit dieser fleißigen Frau zu verkuppeln. Hingegen erweist sich die Idee, mich für ein paar Pullen Chacha an einen Georgier zu veräußern, als nachverhandlungswürdig, denn wir bekommen zunehmend zu hören, dass georgische Männer… na, ich sage es mal so: nicht die arbeitsamsten sein sollen.
Im Augenblick zeigt uns die Wirtin unsere Zimmer. Zum ersten Mal kommen Gosia und ich in die Verlegenheit, in einem Bett zu schlafen. Ich sehe, wie das Mädchen etwas befremdet guckt. „Na, wir werden uns schon nicht totbeißen.“ Sage ich, und unsere Gastgeberin zieht zufrieden von dannen.
Das Bettzeug ist giftgrün, die Gardinen ebenfalls, und durch das Fenster fallen schräg die Strahlen der tief stehenden Sonne auf die grüne Wand. Da scheint ein Konzept dahinter zu stecken. Ist grün irgendwie extra beruhigend? Frage ich mich später. Doch im Moment bin ich nur froh, meine Sachen ablegen zu können.
Wie in einer Krippe
Nachdem wir uns einigermaßen eingerichtet haben, finden wir uns unten in der Essstube ein. Die Küche des Hauses ist mit der Stube verbunden und urig eingerichtet. Die Vorderseite des Hauses – zumindest das Obergeschoss – wird von Pfeilern gestützt, ebenso wie das Innere der großräumigen Stube. Hier gibt es auch eine überdachte Terrasse, durch Planen von Wind geschützt. Eigentlich gemütlich, nur zur Zeit einfach zu kalt für mich, um mich zu lange hier aufzuhalten. Die Rückseite des Hauses schmiegt sich an den nackten Felsen. In der Essstube hatte man somit praktischerweise auf eine Rückwand gänzlich verzichtet.
Als ich hereinkomme, sitzen meine Leute schon da. Tomek schneidet uns gerade eine von den unterwegs am Obststand gekauften Wassermelonen, während mein Onkel begeistert auf mich einredet. „Schau dir die Küche mal an.“ Ich sehe mich um. Wir sitzen an einem langen, massiven Holztisch, die Art Esstisch, die Gemütlichkeit und Bodenständigkeit vermittelt. Die Holzwände des Hauses sind blank, am Eingang hängen Erinnerungen und Hinterlassenschaften der vielen Besucher, die hier ihre schöne Zeit verbrachten. Die Rückseite bildet der nackte Fels, der mit getrocknetem Moos bedeckt wurde. Ein paar bäuerliche Elemente finden sich dort als Dekoration. Wir fühlen uns wie in einer Krippe in Bethlehem.
In der abgetrennten Kochnische wuselt indessen unsere Gastgeberin fleißig umher. Das Abendessen ist erst in circa zwei Stunden angedacht, doch schon jetzt beginnt sie mit dem Kochen. Wir sehen zu, wie sie die Lebensmittel hereinträgt und das Gemüse zu schälen beginnt. Auf dem kleinen, mit Holzkohle befeuerten gusseisernen Ofen steht ein großer Wasserkessel. Während sie kurz nach draußen geht, werfe ich einen Blick in die Kochnische hinein. Die Kochtöpfe und das Zubehör hängt oder lehnt am nackten Fels, an dem auch der Ofen steht. Die ganze Hütte macht einen eher sommertauglichen Eindruck, und das wird wohl auch seine Richtigkeit haben, denn die meisten Tuschen überwintern unten im Tal von Kachetien. Hier oben ist man den Winter über abgeschnitten von jeglicher Versorgung, die einzige Straße, die von der Ebene in die Dörfer führt, ist der Abano-Pass – im Winter nicht befahrbar. Wobei es insbesondere in Omalo noch wenige Tuschen gibt, die den harten Winter hier verbringen. Im Hochsommer kommen tuschetischstämmige Einwohner aus den Städten hierher, um ihr Smartphone gegen die pure Natur zu tauschen. Ein guter Tausch.
Während wir unsere Melonen essen, sinnieren wir mit leisen Stimmen darüber nach, wie doch die Frau hier so alleine ihren Alltag meistert. Denn eines ist inzwischen klar geworden, sie schmeißt den Laden selbst. „Na, wie wäre es, Onkel: du heiratest und wir kommen euch jedes Jahr in Georgien besuchen?“ Schlage ich vor. Für diese Idee ist mein Onkel sofort Feuer und Flamme.
Wenn die Sonne hinter die Berge sinkt – Omalo am Abend
Um die Zeit bis zum Abendessen zu überbrücken, nutzen wir die letzten Reste des Tageslichts, ehe die Sonne hinter die Berge sinkt, und machen uns auf zu einem kleinen Rundgang durch den Ort. Bereits jetzt haben wir alles an warmen Kleidungsstücken, die uns zur Verfügung stehen, ausgepackt und angezogen – die Temperatur sinkt ordentlich und es ist kein Ende in Sicht. Frisch sieht es draußen aus, und ruhig ist es. Kaum jemand kommt uns entgegen, hier bellt ein Schäferhund ein paar Mal, dort gackern Hühner und anderes Vogelvieh macht sich bemerkbar. Ganz Omalo ist auf hügeliger Landschaft gelegen, und unser „Spaziergang“ führt uns natürlich weiter aufwärts. Was mir normalerweise keine Probleme bereitet, erweist sich hier als… na ja, als ungewohnt, denn die verhältnismäßig dünne Luft, die spüren unsere Lungen beim Aufstieg. Der Sauerstoffgehalt ist hier nur unwesentlich geringer, auf zweitausendeinhundert Metern Höhe, doch es fühlt sich dennoch an wie Wandern mit einer Tüte über dem Kopf.
Tomek geht natürlich – wie immer – vorneweg. Ihm scheint die Höhe nichts auszumachen, er kommt nicht einmal ins Schnaufen. Ich trotte eifrig hinterher. Schnaufend. Dann folgen mein Onkel und die Kids, letztere irgendwo weit hinter uns. Jacob trägt stolz seine in Signagi erworbene Georgien-Schäfermütze auf dem Kopf. Die Anstrengung scheint für die beiden ungewohnt zu sein, und dennoch gehen sie mit uns ohne zu murren. Die Umgebung ist aber auch zu schön.
Nach einer kurzen Verschnaufpause stampfen wir unermüdlich weiter. Das leckere Abendessen will verdient sein, und nach den vielen Stunden im Auto tut die Bewegung gut. Wir laufen – so scheint mir – kreuz und quer über Hecken und Weiden. Oberhalb der Weideflächen schließt eine breitete, unbefestigte Straße an. Ein einsamer Sportler rennt den grasbewachsenen, steilen Hang hinauf und wieder runter, hinauf und wieder runter. Darüber kann ich nur müde die Schultern zucken. Eine kleine, faule Stimme in mir sagt sowas wie: das muss man wollen.
Kurz bleibe ich stehen und drehe mich um Richtung Tal, und während meinem Mund stoßweise heiße Atemwölkchen entweichen, versinkt gerade die Sonne. Die oberen Bergkuppen färben sich kurzzeitig rot. Wir sind inzwischen so weit oben, dass die Häuser wie Spielzeug wirken. Eine tiefe Ruhe liegt über dem Ort, bleiches Gras umgibt die Landschaft, um ein Stück weiter dunklen Bäumen zu weichen. Ich bin hier wirklich – am Ende der Welt. Wieder einmal. Wie viele solcher Orte werden wir noch erleben im Verlauf unserer Reise?
Die Männer interessieren sich für alte, russische Autos. Oft schalte ich ab, während beiden zu fachsimpeln beginnen. Hier ist diesbezüglich ein kleines Liebhaberparadies, denn überall stehen solche alten, oft noch fahrtüchtigen Stücke herum. Oberhalb des Hangs hat er wieder einmal ein solches Exemplar entdeckt. Von diesem Wrack sind nur noch die Motorhaube und der Anhänger übrig, die Räder fehlen. Das Ungetüm fügt sich malerisch in die Landschaft und rostet vor sich hin, genauso vergangen wie die sowjetischen Zeiten, denen es angehörte. Wir haben den Hang noch nicht ganz erklommen, schon sehen wir Tomek oben auf dem Anhänger stehen.
Als wir schließlich ebenfalls das Autowrack erreichen, lassen wir uns einer nach dem anderen ungelenk hochziehen. Ein Erinnerungsfoto muss sein. Es wird eines meiner liebsten Bilder dieser Reise. Kasia und Family in Omalo, am Ende der Welt.
Würde man weiter gehen, die reguläre Straße entlang, so käme man zu einem, wie es scheint, erst kürzlich errichteten Feriendomizil. Dieses unterscheidet sich im Wesentlichen von unserer urigen Unterkunft, in der es Warmwasser erst dann gibt, wenn die Dame des Hauses unten in der Küchen den Holzofen befeuert und den Boiler eingeschaltet hat. Diese Unterkunft erinnert an die schicken Wintersportdomizile in den Schweizer Alpen, neu und schick, und vermutlich mit allen Schikanen ausgestattet, die ein Urlauber haben (oder nicht haben) will. Einstimmig sind wir uns einig, dass wir nicht tauschen würden. Und darin, dass wir nicht wollen, dass es irgendwann von diesen kommerziell touristischen Ferienhäusern nur so wimmelt. Nicht hier. Omalo soll so bleiben wie es ist, so ursprünglich und beinahe unentdeckt. Schwer zu erreichen. Gut, die Lebensgefahr könnte man streichen, die Hänge befestigen… aber sonst? Die schönsten Orte, so empfinde nicht nur ich, sind die einsamen. Die, die man sich erarbeitet hat. Die noch nicht allzu sehr verändert wurden. Das gefällt uns daran, deshalb sind wir hier.
Als wir den Hang wieder hinunter stolpern, ist es beinahe dunkel.
Danke für die wunderbaren Eindrücke, die du uns von Omalo vermittelt hast. Verwunschen, einsam, wie aus der Zeit gefallen. Und gerade deshalb so besonders. Ich kann gut nachempfinden, was dich da oben so fasziniert hat.
Schade, dass wir da so schnell wieder weg mussten. Hätte es noch ein paar sonnige Tage gegeben, wäre ich glatt noch geblieben…
Und, liebe Elke? Georgien schon gebucht? 😉
Noch nicht 😁. Aber es steht auf der Liste!
Wie immer eine tolle Geschichte!
Vielen Dank! Omalo hat es mir leicht gemacht 🙂
Die Bilder strahlen eine solche Ruhe aus. Herrlich.
Vielen Dank. Es hat sich auch so angefühlt dort oben.
Wow – was für eine Landschaft. Da kann man doch richtig runter kommen.
Die Landschaft ist zum Verlieben, und vor allem diese Einsamkeit und Wildheit dort. Tuschetien ist eines der am schwersten erreichbaren Orte in Georgien.
So cool. Das ist wirklich was, wenn man sich aus allem rausziehen will. Oder muss🤭
Danke für die Geschichte von Omalo, ich finde die Gegend ist paradiesisch, die Unterkünfte vielleicht etwas primitiver, aber trotzdem… Ich konnte mich dort für ein paar Tage zu Hause fühlen.
Es gab dort auch etwas gehobene Unterkünfte, wenn man es möchte 😉