Asien, Georgien

Der Große Kaukasus – „Weckt mich auf, ich träume“

Uns fehlen Worte.

Raus aus dem Auto finden wir uns wieder in einer märchenhaften Welt. Hier, an der Spitze der Welt, haben wir die Baumgrenze unlängst hinter uns gelassen. Eigentlich ist Eile geboten, doch plötzlich, noch während der Fahrt, beginnt Jacob, zu murren. „Ich würde gern ein Foto machen.“ Bekennt er kleinlaut. Was für liebevollen Spott bei uns, anderen Reisenden, sorgt – war es doch Jacob, der sich bisher über die vielen Fotospots echauffierte.

„Was, du, ein Foto? Wie, ein Foto? Wo denkst du denn hin?“ Schallt es aus allen Richtungen. Ernst (nur die Augen lachen) fährt Tomek das Auto auf die Seite, an eine der vielen, durch abgebrochenen Bergschutt entstandenen Einbuchtungen. „So.“ Sagt er zufrieden. „Hier lohnt es sich jetzt, die Kamera herauszuholen.“ Doch wir hören nicht mehr zu; so enthusiastisch springen wir aus dem Wagen, dass wir uns gegenseitig ermahnen, nicht in die grüne Tiefe zu stürzen. Denn zum Abgrund hin ist es nur ein Schritt. Oder zwei.

Und hier stehen wir nun. Am Abano-Pass, der höchsten Passstraße Georgiens. Und wissen nicht, was wir sagen sollen. Die Schönheit der kaukasischen Berge erschlägt uns. Die Kameras in unseren ausgestreckten Händen, stets auf Anschlag, um ja keinen Zentimeter dieser sagenhaften Landschaft zu verpassen – sie sind nichts weiter als ein Schutzmechanismus.

Unter uns erstreckt sich eine tiefe Schlucht. Dünn wie ein weißer Faden fließt dort ein Fluss entlang. Mächtig erheben sich die dunkelgrünen Bergflanken auf beiden Seiten. Ein zweiter, dünner Faden windet sich hinter uns um den Berg herum. Dies ist der sehr fragiler Weg, den wir hierher gekommen sind – kaum mehr als ein feiner Strich auf dem gewaltigen Berghang. Und was uns davon trennt, in die Tiefe zu rasseln, sind nur die paar Kieselsteine unter unseren Füßen. Dort oben, wo die Baumgrenze aufhört, sind die Berge nur noch mit feinem, hellgrünem Gras wie mit einem Damasttuch bedeckt, lassen ihre Form und Struktur erkennen, wie Gebilde, wie Skulpturen, die ein Künstler mit Stoff verhüllt hat. So weit oben sind wir, dass nicht mehr viel zwischen uns und den Spitzen steht. Ein paar (Kilo)meter, dann sind wir da. Ganz oben.

Doch nach „ganz oben“ wollen wir heute nicht.

Auch hier, an dieser Stelle, sind vier junge Männer verunglückt. Neben dem Gedenkmal und den dünnen, gelben Kerzen, die erloschen noch im Sand stecken, neben den obligatorischen Flaschen Chacha (schon wieder nix drin, menno!) und den Trinkbechern hat jemand ein Stück der Front des verunglückten Fahrzeugs mit dazu gelegt. Daneben lädt eine Sitzgruppe, ein relativ neuer, hölzerner Tisch und zwei Bänke, zur Rast ein. Hier kann man ausruhen, der Toten gedenken und den Ausblick genießen, denn das Gesehene ist für die Lebenden da. Und einen Schluck Wein trinken, denn der ist auch für die Lebenden da. Zumindest für die Beifahrer.

Das tun wir freilich nicht (aber wir könnten, just saying). Wir wollen weiter. Ich lasse mir noch ein obligatorisches Foto an der Sitzgruppe vor dieser surrealen Kulisse schießen. Es wirkt alles wie ein Plakat, aus einem Reisekatalog oder besser: aus einer Reportage über schwer erreichbare Orte. Nur dass wir hier sind. Ganz leibhaftig. Incredible.

Eine Ahnung vom Sonnenschein kommt raus. Sanft und samtig scheinen die Hänge zu leuchten. Weit hinten tauchen sie in einen bläulichen Schimmer, der der Entfernung verschuldet ist. Wasserfälle durchschneiden den Fels, stürzen senkrecht nach unten. Nur wer hier steht, erahnt die riesenhaften Dimensionen all dessen. Auch in meinem Onkel geht eine Veränderung vor. „Weck mich auf, ich glaube, ich träume.“ Sagt er zu mir. Am liebsten würde er sich wohl auf die Knie werfen und den Allmächtigen preisen. Doch das tut er nicht, denn das hieße, sich dem beißenden Spott unserer Gruppe auszusetzen. Also bleibt er in stiller Verzückung.

Irgendwann fahren wir weiter. Schattenhafte Berge ziehen an uns vorbei, Gipfel, die wirken, als hätte sie jemand von Hand gefaltet und wieder hingeworfen. Eng und kurvig schlängelt sich unser Weg immer weiter nach oben, klebt wie magnetisch an diesem einen Berghang, in das Gestein gefräst. In einen Berg, der uns mit etwas Unwillen mit Leichtigkeit abstoßen könnte wie Insekten. Je weiter wir fahren, umso erstaunlicher, sagenhafter, atemb- und wortraubender werden die Bilder vor unseren Augen. Und je weiter wir fahren, umso mulmiger fühle ich mich. Wir befinden uns auf fast dreitausend Metern Höhe. Schon bald merke ich sie, die leichten Kopfschmerzen, begleitet von einem unwohligem Gefühl. Doch ich will – ich will mich nicht so fühlen, also ignoriere ich es, abgelenkt von der Schönheit da draußen. Doch mein Körper lässt sich nicht abschieben, wie etwas Ungehorsames, das gerade beschlossen hat, mir zu zeigen, wie zerbrechlich ich sein kann. „Hat sonst noch jemand Kopfschmerzen?“ Frage ich in die Runde. Alle verneinen. Hm, also schön. Ich diesmal. Nun gut.

Doch die Beschwerden halten nicht lange an, denn wir bleiben nicht durchgehend auf dieser Höhe. Das Dorf Omalo, unser Ziel, befindet sich auf circa 2100 Metern, und das Unwohlsein verschwindet, sobald wir später wieder ein paar Höhenmeter verlieren.

Dann erreichen wir die Wolkengrenze und werden vom Nebel verschluckt. Kühle, graue Watte küsst den Boden und nimmt uns die Sicht. Ich muss an die Erzählung Tomeks über seine Reise von vor zehn Jahren denken. „So hat es damals auch ausgesehen.“ Sagt er nun. „Man sah die Hand vor Augen nicht mehr. Deshalb sind wir umgekehrt.“

Nun sind wir mit 2926 Höhenmetern am höchsten Punkt des Abano Passes angelangt. Markiert wird die Stelle von ein paar schiefen Kreuzen und einer Kapelle. Die Kreuze verschwinden fast im Nebel und von der einmaligen Aussicht ist aktuell nichts zu sehen. So ist es eben in den Bergen, das Wetter ist immer für eine Überraschung gut. Dennoch halten wir an und steigen aus dem Wagen. Wenn wir schon mal hier sind. Eins, zwei Schnappschüsse, fertig, Tschüss. Bis zu den drei Kreuzen will keiner von uns vor. Raus aus der Kälte, rein in die mollige Wärme des Wagens.

Langsam lichtet sich der Nebel, während wir weiter fahren und Stück für Stück wieder an Höhe verlieren. Es sind nur wenige Hundert Meter, doch sie haben zufolge, dass ich mich wieder besser fühle. Unter uns, im grünen Tal, windet sich die Passstraße wie ein aufgewickelter Wollknäuel in einer Schüssel voller Gras. Hinter dem Nebel zeigt sich langsam wieder die Sonne, der blaue Himmel blitzt durch und die erste, tiefer gelegenen Gipfel sind zu sehen. Von den Hängen ergießen sich Schafsherden wie tausende kleine, weiße Ameisen auf ihren Ameisenwegen.

Wir müssen anhalten, denn drei Reiter kommen uns mit fünf oder sechs Pferden entgegen geritten. Die beiden reiterlosen, dafür mit Beuteln beladenen Tiere an der Spitze des Zuges scheinen genau zu wissen, wo es lang geht. Die drei Männer trotten entspannt hinterher. Einer von ihnen in einem Cowboyhut. Oder sowas ähnlichem. Ich wähne mich in einem Film.

Weiter geht unser Weg. Jetzt ist die Sonne endgültig wieder da. Licht- und Schattenspiele auf den Bergen. Eine Zeit lang fahren wir an einem plätscherndem Bach entlang. Erreichen wieder die Baumgrenze. Bewundern hier und da einen Wasserfall. Dann wird unser Vehikel erneut ausgebremst – von einer Herde Kühe, die, im Urvertrauen auf ihren Hirten, ganz entspannt auf gesamter Wegesbreite (nicht dass der Weg allzu breit wäre) entlang trotten. In solchen Fällen heißt es, sich einfach mit seinem Fahrzeug Stück für Stück vorwärts zu schieben. Die Rindviecher werden schon wissen, wann sie aus dem Weg zu gehen haben. „Und wenn nicht, gibt es Schaschlik.“ Witzeln wir vor uns hin. „Wir könnten dem Hirten eine Entschädigung zahlen und ihn zum Essen einladen.“ Die meisten der Kühe machen mürrisch Platz, bis auf das junge Kalb, das just in diesem Moment von seiner Mutter gesäugt werden will. Mit großen, braunen Kuhaugen schaut es uns dabei an. Tja, was muss, das muss…

Eigentlich sind wir schon übersättigt mit Eindrücken. Wir kommen vorbei an einem Bach, so irre babyblau, dass es fast in den Augen schmerzt. Aus dem blauen Wasser ragen trockene Äste junger, abgestorbener Bäume. Ich kann ja verstehen, dass man nicht überall anhalten kann. Und ich verstehe auch, dass wir vor Anbruch der Dunkelheit unser Ziel erreichen wollen. Sehnsüchtig drücke ich mir an der Scheibe die Nase platt.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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19 Kommentare

  1. Das sieht wirklich traumhaft aus!

    1. Ja, die Landschaft war der Hammer

  2. Hi Kasia,
    diese leicht fahle grüne Farbtönung der bewachsenen Berge erinnert an feuchtes Moos auf einem Waldboden. Fast so, als hätte ein Riese die Berge mit Moossamen bestreut, damit man nicht auf die grauen Steine schauen muss.
    Ich stelle mir das Leben dort aber nur für gestandene Eremiten als halbwegs lebenswert vor. Natur ist zwar schön – aber das ist mir fast schon zu.. ähhh.. schön.. räusper, räusper, hüstel..
    Wenn ich dort leben würde, würde ich sicher anfangen meinen Ziegen Namen zu geben, Ihnen Gesichter auf die Wolle malen und anfangen mit Ihnen zu diskutieren.. 😉
    Bleib gesund
    CU
    P.

    1. …und dich irgendwann wundern, dass die Ziegen bei deinem Anblick fluchtartig das Weite suchen… „Lauft, lauft, da kommt er wieder!“ 😉

  3. Das ist wirklich eine sehr beeindruckende Landschaft. Wunderschön! Ich glaube, ich an eurer Stelle hätte das geplante Ziel an diesem Tag wohl nicht erreicht. Beim Fotografieren hätte ich die Zeit sicher komplett aus den Augen verloren.

    1. Ich mit Sicherheit auch. Aber glücklicherweise gab es da Menschen, die nicht so Fotografie-vernarrt waren wie ich, und die aufgepasst haben… 😉

      1. Gesellschaft diszipliniert 😁.

        1. Und führt abends direkt in die Trinksucht 😉

          1. Auch das 😅

  4. Der Kaukasus ist eine besondere Landschaft. So ganz anders als zum Beispiel in den Alpen. Aber trotzdem schön.

    Wegkreuze sieht man bei uns auch oft. Meistens sind es aber Raser, die ihr Leben lassen mussten. Auf eurer Strecke müssten die Opfer wohl den besonderen Straßenverhältnissen geschuldet sein.

    Auch in dieser Landschaft leben Menschen, die wohl hier ein karges Dasein fristen. Von was leben die Menschen hier?

    Für deinen Onkel ist diese Reise wohl ein Déjà-vu und mit vielen Erinnerungen verbunden. Aus deinen Berichten merkt man, dass sich bei euch eine Gruppe gefunden hat die die gleichen Interessen haben.

    Liebe Grüße ins Wochenende
    Harald

    1. Die Gruppe hatte eine echt tolle Dynamik. Es hat einfach alles gut zusammen gepasst und niemand fiel aus der Reihe. Ich habe die Reise als sehr harmonisch empfunden.

      Der Gebirgspass ist eine echte Herausforderung. Die Straße zu befestigen würde sich wohl lohnen, wenn man zugleich die Berghänge stabilisieren würde. Dafür wären hohe Investitionen vonnöten, die Georgien wohl nicht hat bzw. wegen ein paar abgelegener Dörfer nicht tätigen will. Von was die Menschen leben? Ich denke, Tourismus, Handel, einige werden auch zum Teil Selbstversorger sein, vor allem in den Dörfern.

      Ich weiß, dass sieht für uns nach „Armut“ und Entbehrung aus. Doch man kann nur das entbehren, was man schon mal hatte und dann nicht mehr hat. Wenn man das einfache Leben gewohnt ist, glaube ich, dann fehlt einem nicht so viel. Als ich als Kind bei meinen Großeltern gelebt habe, hatten wir auch nur von der Rente der Großeltern gelebt (davon wurde kaum was ausgegeben) und von dem, was im Garten oder auf dem Feld erwirtschaftet wurde. Es war eine glückliche Zeit, gefehlt hat es (in meinem Empfinden) an nichts. Ich kann nicht für die Menschen in Georgien sprechen, dafür habe ich keinen ausreichenden Einblick. Ich weiß nur, dass mir das Leben dort einen friedlichen, geerdeten Eindruck vermittelt hatte.

      Liebe Grüße und dir auch ein schönes Wochenende.

  5. Ich habe mich gerade gefragt von was die Menschen hier leben? Gibt es irgendwo Märkte, wo sie die erzeugten Waren verkaufen können?
    Danke für’s Mitnehmen und für das lebhafte Erzählen.

    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
    Harald

    Hast du eigentlich schon einmal daran gedacht über deine Reisen und Erlebnisse ein Buch zu schreiben?

    1. Hallo Harald,

      ja, es gibt kleine Märkte am Straßenrand, von denen die Menschen leben können. Einige leben vom Tourismus, vieles wird auch exportiert (Wein, Georgien möchte in der internationalen Weinindustrie mitspielen), so wie ich gelesen habe, auch Kupfer und Mangan werden abgebaut. Dann auch Tourismus, der bestwachsende Wirtschaftssektor. Ich glaube, der „kleine Mann“ schlägt sich irgendwie so durch, denn ich denke, darauf zielt deine Frage eigentlich. Solange die politische Situation stabil bleibt, kann sich das Land gut entwickeln.

      Ja, der Gedanke mit dem Buch über Reiseerlebnisse kam mir zwischendurch schon mal. Mal sehen, im Moment schreibe ich tatsächlich, um das Erlebte nicht wieder zu vergessen 😉 Danke dir, ich freue mich, dass dir die Geschichten so gut gefallen, dass du mir sogar ein Buch zutraust 😉

      Liebe Grüße
      Kasia

      1. Übrigens: Zum Thema Buch: Dein Texte sind buchreif!!
        Wenn du eines schreibst, bekomme ich ein Gratisexemplar mit Widmung. 🙂

        1. Auf jeden Fall 😉 Dankeschön…

  6. Sehr schön, diese Berge! Da will ich auch hin, schmoll.

    1. Schmoll nicht, die Berge warten auf dich 🙂

  7. Wirklich eine faszinierende Landschaft. Was mir auffällt ist, dass die Berge bis zum Gipfel grün sind, nirgendwo Felsen wie in den Alpen. Überall in den Bergen sind Denkmäler der Verstorbenen zu finden und erinnern uns an die Gefahren, die hinter jeder Ecke lauern. Vielen Dank, dass Sie uns über Georgiens höchsten Passübergang gebracht haben.

    1. Das Grün bis hin zu den Gipfeln verleiht den Bergen ein für uns ungewohntes Aussehen. Es sind auch völlig andere Eindrücke als um das David Garedscha Kloster, wo die Berge eher hügelig und rötlich waren und die Landschaft aus Steppe bestand. Das Gedenken an die Toten ist wichtig, es ist Erinnerung und Mahnung zugleich.

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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