Asien, Georgien

Der Abano-Pass – Einen Chacha auf die Toten

September 2021

Nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg. Denn wir haben noch Großes vor. Eine Route, schmal und voller Serpentinen, führt uns auf rund dreitausend Meter Höhe in die Welt der Berge. Der Abano-Pass zählt zu den gefährlichsten Strecken Georgiens und sogar ganz Europas. Jedes Jahr fordert er mehrere Tote, die durch Steinschlag, rutschige Stellen oder aufgrund von Unachtsamkeit mit ihren Fahrzeugen in die Tiefe stürzen. Dennoch wird der Pass regelmäßig und häufig befahren, denn er ist der einzige Weg, der in die hoch gelegenen Dörfer Tuschetiens führt. Genauer gesagt in das kleine Dorf Omalo, das unser heutiges Tagesziel ist.

Grundsätzlich ist der Pass nur in den Sommermonaten bei gutem Wetter befahrbar. Während der Winterzeit siedeln die Einwohner der Dörfer in die Ebene um und kehren im Frühjahr zurück in die Berge, sobald die Strecke wieder offiziell geöffnet wird. Das kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Fall sein, je nachdem, wann die Regenfälle aufhören. Denn die Route ist bei Regen am gefährlichsten. Die unbefestigte Strecke ist dann aufgeweicht, die Berghänge instabil. Sehr leicht kann es dann zum Erdrutsch kommen; es sind schon ganze Hänge herunter gekommen und haben Schäfer mit ihren Schafen unter sich begraben.

All das erfahren wir natürlich stückchenweise. Denn niemand will uns unnötig in Angst und Schrecken versetzen. Und natürlich glaubt auch von uns keiner, das ein Unglück ausgerechnet uns zustoßen könnte.

Unsere Tour fängt gediegen an. Wir erquicken uns an Kühen auf der Fahrbahn, an Hunden auf der Fahrbahn. An Kühen mit Hunden auf der Fahrbahn. Eine Schaar Gänse rennt flatternd davon.

Noch ein letzter Blick auf die weite Ebene, noch ein letztes Mal die asphaltierte Straße unter sich haben, noch einmal die Zivilisation erleben. Vor uns fährt ein mit saftigen Trauben vollgeladener Laster. Alte, blaue, russische Trucks warten am Straßenrand auf ihren Einsatz. Wir halten kurz an einem der vielen Obst- und Gemüsestände am Straßenrand, um uns mit frischen Früchten einzudecken. Nicht dass wir Hunger hätten. Aber Obst ist nie verkehrt. Wassermelonen und Honigmelonen stapeln sich in einem Autoreifen oder auf blanker Erde, und während Tomek, der wieder auf dem Damm ist, auf russisch mit dem Verkäufer handelt, läuft einer der Hunde schwanzwedelnd um den Stand herum.

Dann – Tschüss, vertraute Welt. Der Asphalt unter unseren Rädern endet und wir spüren den mit Kies befestigten Untergrund. Spüren das Abenteuer kommen. Inmitten von Grün erwachsen links und rechts von uns dramatisch hohe Berge, zwischen den Blättern der Bäume sickern Fäden hoher, langer Wasserfälle an den Felsen hinunter. In der Fahrbahn klaffen riesige Löcher, die wir vorsichtig umfahren, dann hört der feste, asphaltierte Untergrund ganz auf – um ein paar Meter weiter wieder aufzutauchen. Ein leuchtend türkisblauer Bach taucht zu unserer Rechten auf, während sich zu unserer linken die Felswand auftürmt. Wir filmen aufgeregt und kommentieren die ruckelige Strecke. Tomek kann nur darüber lachen.

„Ihr braucht eure Kamera jetzt noch nicht rauszuholen, hier gibt es noch nichts Besonderes zu sehen.“ Natürlich fotografieren und filmen wir weiter wie die Verrückten. Nichts zu sehen? Kann es noch besser werden?

Ja, es kann. Aber dazu später mehr.

„Das hier ist noch ein Highway.“ Sagt Tomek belustigt. Ein Highway? Im Vergleich zu was? Schweigend schaukeln wir vor uns hin. Ich werfe einen kritischen Blick auf die mit Schlaglöchern von der Größe kleinere Teiche übersäte Fahrbahn. Dann wandert mein Blick nach rechts, wo der Weg gleich neben unseren Reifen aufhört und uns der Abgrund zuwinkt. Viel fehlt da nicht. Ich kann schon den Kies hinunterrieseln sehen.

Als die Straße enger und enger und zum Abgrund hin nur noch von einem schmalen Kiesstreifen begrenzt wird, als uns dann zwei Motorradfahrer entgegen kommen, als wir gefühlt kaum noch in die Spur passen, merken wir selbst nicht, wie sich tiefes Schweigen über uns gesenkt hat. Bis Tomek mit einem kaum wahrnehmbaren Schmunzeln plötzlich in die Stille hinein sagt: „So leise auf einmal hier im Wagen?“ Dann grinst er. Mein Onkel beißt zurück: „Ja ja, komm dir nicht so witzig vor. Da, lass die Motorradfahrer vorbei, da kommt noch einer.“

„Nur die Ruhe, Andrzej.“ Sagt der tiefenentspannt und fährt langsam auf die Seite.

Wir sind aufgeregt und haben großen Respekt vor der Strecke. Sind wir doch mental darauf vorbereitet worden, nun die „gefährlichste Trasse der Welt“ zu befahren. Ich bin verhältnismäßig ruhig, auch in meinem Inneren, denn mit dem Thema „plötzliches Ableben auf Reisen“ habe ich mich bereits ausgiebig auseinandergesetzt. Lebe so, dass du nichts zu bereuen hast, wenn es soweit ist. Und: du kannst es eh nicht ändern, wenn es passiert. Ich bin froh, dass Tomek heute am Steuer sitzt, denn seine erfahrene und ruhige Art überträgt sich auf uns alle. Ja, die Strecke ist schwierig. Und ich wundere mich, wie hier zwei entgegenkommende Fahrzeuge aneinander vorbei können. Doch das geht. Irgendwie. Mit Rücksicht und Vorsicht. Das werde ich später noch feststellen können.

 

Dass die Reise hierher nicht nur glatt ablaufen kann, sehen wir immer wieder als Mahnmal am Wegesrand. Georgier ehren ihre Toten, die hier auf dieser tückischen Strecke bereits in die Tiefe stürzten. Schwarze Tafeln mit weißen Aufschriften gedenken der Verstorbenen; die Gesichter der Toten prangen hell im schwarzen Stein. Sieben junge Männer starben 2019 in ihrem Truck auf dem Weg in ihr Dorf. Der Motor des Wagens fiel aus und sie rutschten rückwärts den Hang hinunter. Warum ich das so genau weiß? Weil ich zufällig nach meiner Reise eine Reportage über Tuschetien und den Weg dorthin gesehen habe.

Zu den Denkmälern der Verunglückten gibt es einen schönen Brauch, erzählt uns Tomek. Manchmal steht bei einem solchen Denkmal eine Flasche Chacha und ein Becher. So kann ein jeder, der hier vorbei fährt, anhalten und einen Schluck zum Gedenken an die Toten trinken. Wir werden später an einem solchen anhalten, werden jedoch feststellen, dass die Flasche entweder bereits leer oder festbetoniert ist – die Sache mit dem Chacha ist wohl nur symbolisch gedacht. Schade, ich hatte mich schon gefreut.

Dies sei gleichzeitig eine der schönsten Strecken, die er je befahren hatte, erzählt uns Tomek von seiner Reise von vor zehn Jahren. Er und seine Freunde sind mit ihren geländetauglichen Tourern die Serpentinenstraße hinauf, soweit, wie es ihnen damals möglich gewesen war. Dann, oberhalb der Baumgrenze, wechselte das Wetter. Nebel breitete sich aus, so dicht, dass ein Motorradfahrer den anderen kaum mehr sehen konnte. Weiter zu fahren schien ein zu großes Risiko zu sein, sie kehrten um. Somit ist diese Reise mit uns zugleich Tomeks einmalige Gelegenheit, es nochmal richtig zu machen und das Ziel zu erreichen. Hoffentlich klappt es dieses Mal.

So habe ich großes Vertrauen zu unserem Fahrer und bin gleichzeitig auf alles gefasst, als wir uns im Schneckentempo vorwärts bewegen und gleichzeitig heftig durchgerüttelt werden. „Es wird später sein wie im Herr der Ringe.“ Erzählt uns Tomek und seine Augen leuchten. „Wasserfälle, die von den Felsen über die Straße auf der anderen Seite hinunter fallen. Ihr werdet sehen.“ Links von uns, dort, wo sich die steile, orangene Felswand erhebt, rinnen dünne Kaskaden hinunter, Wasserstrahlen ergießen sich auf die Frontscheibe, die sich während der Fahrt zunehmend mit Staub bedeckt. Eine Bewegung der Scheibenwischer verteilt Wasser und Staub zu einem gleichmäßigen Matsch. Als Tomek einen schnellen Bach, der vom Fels auf die Piste und danach weiter in die Tiefe stürzt, vorsichtig durchqueren will, nutzen wir die Gelegenheit und springen alle aus dem Auto für ein paar Aufnahmen unseres Lebens.

Denken wir. Denn die Aufnahmen unseres Lebens sollen noch kommen.

Wie anders riecht die Luft hier, wie angenehmer füllt sie die Lungen, die tiefe, frische Bergluft. Ich rieche das Wasser, rieche die Kühle. Als erstes muss ich mich vergewissern. Also gehe ich zu der Felswand und berühre die scharfen, orangenbraunen Kanten der Felsen mit meiner Handfläche. So also fühlen sie sich an. Rau. Kühl. Sandig. Jetzt weiß ich, sage ich auf ein paar fragende Augen um mich herum; jetzt weiß ich, dass ich wirklich hier bin. Diese Welt durch die Autoscheibe zu betrachten kann wirken, als schaue man einen Film, der einen nicht selbst betrifft. Erst das Aussteigen und Berühren zeigt mir, dass es echt ist.

 

Ein Blick den Wasserfall hinunter. Da unten verschwindet er also, mächtig rauschend und stark. Ein Blick zurück, die Augen folgen dem Weg, den wir gekommen sind. Ich sehe einen dünnen, hellen Pfad, wie ein weißlicher Faden, der sich an den Berg schmiegt. Viel ist da nicht, was uns vom Abgrund trennt. Da sind wir also entlang gefahren. Öhm, aha. Die Augen wandern zu den begrünten Berghängen. Tiefes Grün der Bäume, die Umrisse der Berge senken sich auf beiden Seiten ab und kommen zusammen in einem tiefen Tal. Tomek ruft uns alle, wir fahren weiter. Zu viele Fotostopps sind zwar verständlich, jedoch nicht unbedingt erwünscht, denn wir sollten am Zielort ankommen, bevor es dunkel wird. Und bevor das Wetter umschlägt. Also nur noch zwei Mal halten, einmal, da uns ein Fahrzeug entgegen kommt.

Entlang des Weges gibt es kleinere Buchten, die aus dem Schutt von abgebrochenen Felshängen entstanden sind. Stellenweise ist der Weg sehr schmal, stellenweise jedoch breit genug, dass zwei Autos bequem nebeneinander fahren können. Und den Gegenverkehr sieht man schon früh, wie er sich in unsere Richtung um den Berghang wickelt. Meistens sind es Georgier, die an uns vorbei wollen, in ihren alten, erprobten Mitsubishi Delica. Laut Tomek sind diese Autos unkaputtbar. Die Georgier haben einen Affenzahn drauf. Also… ein bisschen schneller als Schritttempo, heißt das hier in diesem Fall. Manchmal kommen uns auch schwere Lastwagen entgegen. Auch sie treibt die Notwendigkeit in diese Gegend.

Ebenso wie die hin und wieder anzutreffenden, leuchtend gelben Bagger, die, längst außer Betrieb, abgestellt vor sich hin rosten. Die Maschinen, erklärt uns Tomek, dienen dazu, den Schutt von Felsbrüchen und abgestürzten Hängen zu beseitigen. Sie werden hinauf geholt und so lange verwendet, wie lange sie funktionieren. Das Herunterholen zu Wartungszwecken lohne sich nicht mehr; es bedeute mehr Aufwand als einfach wieder einen neuen Bagger wieder hinauf zu schicken. Und da das Passieren dieses engen, steilen Passes so umständlich ist, rosten die Rostlauben nach getaner Arbeit einsam vor sich hin. Manch eine wird sich vor lauter Einsamkeit den Hang hinunter geschoben haben. Wer weiß das schon.

Befahrbar ist die Piste wirklich nur im Schritttempo. Mehr geht nicht. Die Schlaglöcher werden tiefer und tiefer, so dass sich die Frontseite des Fahrzeugs beim Durchqueren gefährlich tief nach vorne neigt. Dann folgt der Rest der Karosserie, und schließlich sind wir mit einem „blopp“ im Schlagloch und können weiter fahren.

Wir sind nicht die einzigen Irren auf dieser Strecke. Zwei abenteuerlustigen Radfahrer quälen sich den Pass hinauf. Sie stellen sich kurz auf die Seite, um für uns Platz zu machen. Es ist ein junges Paar, das uns breit grinsend grüßt. Tomek fragt kurz, ob alles okay ist, was die beiden strahlend bejahen. Vermutlich erleben sie hier ebenfalls das Abenteuer ihres Lebens.

Als wir das nächste Mal halten, haben wir die Baumgrenze hinter uns gelassen.

Kasia

Hi, ich bin Kasia, die Stimme von "windrose.rocks" :-)
Treibt Dich die Frage um, was sich denn alles jenseits der heimischen Couch verbirgt, bist Du rastlos und neugierig wie ich und spürst den Drang in Dir, in die Welt hinaus zu gehen? Dann tue es! Ich nehme Dich mit auf meine Reisen und lasse Dich hautnah das Unterwegs sein miterleben - in all seinen Facetten. Lass Dich inspirieren, komm mit mir und warte nicht länger, denn... die Welt ist so groß und wir sind so klein, und es gibt noch so viel zu sehen!

Die Welt wartet auf uns.

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14 Kommentare

  1. […] hat Bedenken, trotz der Bodenfreiheit, die unser Fahrzeug bietet. Mein Kommentar dazu: „Der Abano-Pass war schlimmer.“ Wir drehen auf der Hälfte des Weges um. Vor uns ein weiteres Fahrzeug, das […]

  2. Na, das ist ja nichts für schwache Nerven 😂🙄. Aber ein tolles Erlebnis, an das du bestimmt noch lange denken wirst.

    1. Es ist schon fast ein Jahr her und ich denke noch immer daran 🙂

  3. Na jedenfalls habt ihr euch das Ankommen nach dieser Tour so was von verdient! Wann und unter welchen Umständen auch immer. Auf die Fortsetzung müssen wir hier ja noch warten 😁.

    1. Also, wir sind angekommen, an einem mehr als schönem Ort. Ja, das dauert noch ein Bisschen mit der Fortsetzung, aber ich arbeite dran 🙂

      1. Ich bin geduldig 😎

  4. Abenteuer pur. Fahrt durch eine fantastische Landschaft. Einfach Klasse. Das wird eine Erinnerung die haften bleibt.
    Liebe Grüße
    Harald

    1. Die am schwersten zu erreichenden Ziele sind die, die am meisten im Gedächtnis bleiben. Manchmal muss man sich schöne Orte erarbeiten. Und der Kaukasus ist einer davon.

      Liebe Grüße
      Kasia

  5. ooooh 🙈 eine (Alp) Traumstraße 🙈
    Danke für den schön spannenden Bericht 🙂

    1. Ob Traum oder Alptraum, das hängt manchmal einfach vom Glück ab. Die Straße ist gefährlich, aber wunderschön. Fortsetzung folgt 🙂

  6. Spannende Tour, da hast Du Einiges erlebt.

    1. Die Tour war schweißtreibend und wunderschön. Ich bin froh, dass alles glatt gegangen ist und wir eine Menge Erinnerungen mitnehmen konnten.

  7. Ein richtiges Abenteuer ! There was a program on television, called „the most dangerous roads in the world“ This can be one of them. Vielen Dank fur das teilen Kasia.

    1. Sehr gerne. Der Albano-Pass wird tatsächlich als eine der gefährlichsten Routen der Welt bezeichnet. Ob ich ihn nochmal fahren würde? Ich weiß es nicht. In dem Augenblick hieß es aber: Augen zu und durch…

Was brennt dir auf der Zunge? ;-)

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