Nach meiner Ankunft ist an Schlaf noch nicht zu denken. Mein Onkel trägt, ungeachtet meiner Proteste, meine Siebensachen eigenhändig ins Haus und die steile Treppe hinauf in die obere Wohnung. Der Koffer ist doch schwer, lass doch…
Er selbst lebt erst seit dem vergangenem Sonntag hier im Haus seiner Eltern, meiner Großeltern. Seit einiger Zeit war es zwar so angedacht, das Haus wieder zu übernehmen und wohnbar zu machen, doch bisher lebte er in Warschau. Erst die Tatsache, dass ich mich für meinen Besuch angekündigt hatte, scheint wie ein Katalysator gewirkt zu haben. „Ich habe heute um elf erst das ganze Geschirr bei Ikea gekauft.“ Erzählt er mir lachend. „Heute ABEND um elf. Nicht dass du denkst, heute morgen schon…“ Ich schaue auf die Uhr. Es ist nachts nach zwölf. Er scheint soeben, kurz vor mir, die Wohnung betreten zu haben.
Gläser, Teller und Besteck liegen noch originalverpackt in einer Ecke. Wir spülen auf die schnelle ein paar Sachen ab und schnippeln einen Salat. Zu meinem mitgebrachten Zwetschgenwodka schmeckt er ausgezeichnet. Das erste Glas geht wunderbar runter. Beim zweiten Glas merke ich, wie mir schummerig wird. Was zum Teufel ist los? Das wird die Müdigkeit sein; nach elftausend 😉 elfhundert Kilometern habe ich Kopfschmerzen, ob von der Erschöpfung, von der lauten Musik oder weil ich zu wenig getrunken habe, weiß der Teufel. Egal, ich habe Tabletten gegen Kopfweh dabei. Und jetzt habe ich Wodka.
Die Distanz, die durch Raum und Zeit auch innerhalb naher Familienmitglieder entsteht, beginnt zu schmelzen. Nach dem zweiten Wodka erzählen wir Anekdoten. Das dritte Glas schenke ich uns ein, und quetsche ihn über seine neue Flamme aus.
Später in meinem Zimmer, das seitlich zum Hof hin liegt, tippe ich noch schnell meinen Blogbeitrag. Da finden sich später Schnitzer wie Wismar (statt Weimar) und eine Entfernungsangabe, die es mir theoretisch ermöglicht hätte, irgendwo in Asien anzukommen. Was sicherlich ebenfalls interessant gewesen wäre. Tom von Coffeenewstom hat das mal recherchiert und mir liebenswerterweise eine E-Mail geschrieben (danke, Tom!): „Ich habe das im Internet mal kurz recherchiert. Mit elftausendfünfzig Kilometer in in Richtung Osten kommst Du in etwa bis Uelen, ein Dorf im Autonomen Kreis der Tschuktschen und nur 11 Kilometer vom Kap Deschnjow, dem östlichsten Punkt des asiatischen Kontinents, entfernt.“ Du hast mir einen Floh ins Ohr gesetzt, lieber Tom; jetzt muss ich unbedingt dahin 😉
Dann, endlich, lege ich mich schlafen. Ein schwacher Schein der Straßenlaternen beleuchtet die Welt da draußen vor dem Fenster. Alles ist nass und glänzend und ein dichter Regen fällt.
Am frühen Morgen weckt mich das Licht. Ein wenig später sitze ich beim Frühstück und spähe zum Fenster hinaus. Mein Onkel ist längst zur Arbeit aufgebrochen. Für ihn war es eine sehr kurze Nacht.
Draußen – nichts als Felder. Weit gezogenes, flaches Land. Von hier oben kann ich wie von einem Adlerhorst durch das gewellte, uralte Fensterglas Rebhühner und Hasen beobachten. Der Elektriker, der unten gewerkelt hatte, ist längst gegangen. Doch über mir im Dachstuhl raschelt und knarrt es. Entweder es ist das alte Haus, oder es haben sich Mäuse eingenistet.
Ich streife durch die Wohnung und entdecke die Bücher, von denen ich euch erzählt habe. Die Geschichten, die Abenteuerromane, die meine Lust auf Reisen als Kind immer angefacht haben. Ich bin restlos begeistert.
Die Bücher sind alt, gewellt, die Seiten vergilbt. In dem neuen Ensemble wirken sie, als hätte mein Onkel sie als Relikt behalten, als Andenken an die alten Zeiten. Auch wenn hier in dem Haus kaum noch etwas so ist wie es war, ein paar ganz wenige Details haben sich erhalten. Nein, nicht erhalten; denn nichts hier geschieht zufällig. Mein Onkel hat sie behalten, mit Bedacht und ganz gezielt.
Die Wohnung unten wird renoviert und modernisiert. Alles ist anders, alles ist neu. Luft und Raum und Licht ist nun vorhanden. Wände wurden eingerissen, neue Wände an anderer Stelle hochgezogen. Neue Türen herausgebrochen, wo vorher keine waren. Fenster zugemauert, woanders wieder welche reingesetzt. Du wirst es hier nicht wiedererkennen, wenn du im September wieder kommst, sagte mein Onkel ganz stolz und erklärte mir, welche Bodenbeläge er für welche Räume nutzen möchte. Ich erkenne es jetzt schon kaum wieder.
Doch es gefällt mir. Der alte Geist dieses alten Hauses ist raus, doch ein neuer Geist kommt nun herein geweht. Ein Geist der Frische, der Moderne. Das Haus hat Potential. Es steht mitten auf dem Land, umgeben von weitläufigen, flachen Feldern, soweit das Auge reicht. Von wo aus man stundenlang Rebhühner und Hasen beobachten könnte. Wenn irgend ein Polen Zeit und Muße hätte, sich damit zu beschäftigen.
Hier kannst du wilde Partys schmeißen. Hier kannst du Musik aufdrehen, hier kannst du grillen, ohne dass du einen Nachbarn störst. Gar ohne dass es ein Nachbar mitkriegt. Wenn du es richtig anstellst, so wie bei uns, wo seitlich vom Hof eine Mauer hochgezogen wurde, die den Blick von der Straße abschirmt; wenn rundum hohe, dichte Thujen wachsen, der Garten mit hohen Tannen besetzt ist und in der Mitte viel freier Raum zur Verfügung steht, dann, ja… dann kannst du tun, was du willst.
Ich glaube, mein Onkel ist jemand, der sehr viel Licht, Luft zum Atmen und freien Raum benötigt. Klarheit und Struktur. Denn genauso ist auch seine Einrichtung: groß, weitläufig und hell. Keine überflüssige Tür versperrt den Weg. Keine überflüssige Farbe lenkt die Augen ab. Es ist alles klar strukturiert, klar und einfach. Nichts wird unnötig aufgehoben; was nicht gebraucht wird, fliegt weg. Wenn etwas altes aufgehoben wird, dann hat dies einen Grund. Dann sind es Andenken. Relikte aus einer alten Zeit. Wie das Radio, das hier oben im vorübergehend improvisiertem Wohnzimmer steht. Vielleicht ist dieses „wenig“ an allem der Tatsache geschuldet, dass er eben erst hier eingezogen ist.
Zwei alte Radios stehen da. Eines davon stand bei meinen Großeltern auf dem Küchentisch. „Macht diesen Krach aus!“ Schimpfte meine Oma, die immerzu unter Kopfschmerzen litt. Später stellte sich heraus, dass es sich damals schon eine Gefäßkrankheit gepaart mit hohem Blutdruck handelte. An dieser ist sie schlussendlich gestorben.
Dann hier, der alte Neptun-Röhrenfernseher, vermutlich noch in Schwarzweiß, der lange Zeit unten im Wohnzimmer stand. Vor diesem Fernseher saßen sie dann, meine Großeltern, und schauten Nachrichten. Kriegsmeldungen aus Bosnien und aus dem Sarajevo. Proteste der Solidarnosc-Volksbewegung, die den Kommunismus beendeten. Gottesdienste und Besuchen von Johannes Paul den zweiten, den bisher einzigen polnischen Papst, den das polnische Volk liebte und nach seinem Tod es Tränen vergoss. Und das meine ich nicht metaphorisch. Auch meine beste Freundin und ihre Familie weinten.
Direkt daneben, als ein krasser Kontrast dazu, der riesengroße, moderne schwarze Flatscreen-Fernseher. Zwei Extreme, zwei Zeiten, zwei Welten. Das ist er, das ist mein Onkel. Alles passt, nichts ist zu viel. Keine unnötigen Schmuckelemente, kein unnötiger Ballast. Eigentlich braucht man zum Leben so wenig, sagte er mir einst und meinte damit wohl die Gegenstände, die ihn umgeben.
Ich schaffe ein wenig Ordnung und will mich aufmachen zu meiner Mutter. Noch als ich beim Abwasch bin, schellt die Klingel. Meine Mutter hatte ihre eigenen Pläne. Sie wollte nicht warten, bis ich irgendwann bei ihr ankomme. Jetzt steht sie mit ihrem Auto vor dem Tor.
Klein wirkt sie in meine Armen, klein und zerbrechlich. Wie lange ist es her? Ich führe sie herum. Sie rümpft die Nase. Es ist kein Geheimnis, dass ihr die herausgebrochenen Wände und die Modernisierungsversuche meines Onkels in der Großeltern Haus nicht zusagen. Oben in der Wohnung mache ich uns einen Kaffee und wir sitzen da. Ich weiß nicht, was ich erzählen soll.
Der Geschmack deines Onkels deckt sich voll und ganz mit meinem 😎. Hell, übersichtlich und leer. Genau mein Ding. Klasse der Kontrast zwischen dem Röhrenfernseher und der modernen Kiste! Ich finde es gut, dass dein Onkel den Mut hatte, das Alte mit seinen vielen Erinnerungen in etwas Neues, Modernes umzuwandeln.
Liebe Elke, so ist es, gestern haben wir den Rest der alten Sachen zum Abholen rausgestellt. Was da alles dabei war! Sogar die Fenster aus dem alten Haus, das nicht mehr existiert, wurden aufgehoben. Dutzende Fahrräder (mein Opa hat die alle repariert und mobil gemacht), Dutzende Rasenmäher (???)… ach, das kann man nicht alles aufheben. Das Leben und all die Dinge darin wie Räume, wie so ein Haus, sind schlussendlich für die Lebenden da 😉
Ja, das war halt noch eine Generation, die wirklich alles aufgehoben hat. Man könnte es ja irgendwann doch noch einmal gebrauchen … Ist aber dann meistens doch nicht der Fall 😅.
Richtig. Trotzdem gibt es Leute, die alles sammeln und aufheben. Das halbe Dutzend alter, schrottreifer Fahrräder, die nicht mal der ukrainische Arbeiter haben wollte („Die Leute werden mich damit auslachen auf dem Dorf!“), wurden heute morgen „geklaut“, noch bevor der Sperrmüll abgeholt werden konnte 🙂
😃😃😃
Wo ich den alten Fernseher und den Kassettenrecorder sehe. Als ich Samstag bei der Kaffeerösterei gewesen bin, habe ich bei einem Second Hand Laden für alte Rundfunkgeräte geparkt.
Hm, vielleicht hatten die dort was, womit man alte Kassetten noch abhören kann? Ich hätte da noch welche aus den Neunziger Jahren…
Altes und Neues – Das Gehirn muss das auch erstmal verarbeiten. Aber es sieht schon sehr ruhig aus – da muss ich schon mal neidisch sein.
Bei uns röhren die ganze Zeit die Motorräder. Da wären mir paar Hasen und Rebhühner lieber
Motorräder, wie cool 🙂 Sobald ich wieder in Deutschland bin, röhre ich mit 😉
Hier ist es wirklich extrem weit weg vom Schuss. Wenn du den Feldweg entlang gehst, kann es schon passieren, dass so ein Feldhase vor deiner Nase flüchtet oder du ein paar Rehe sichtest. Alles schon erlebt – in den ersten zwei Tagen…
Wenn ich Motorrad fahren würde, würde ich wohl mitfahren – aber für die, die dort wohnen….unmöglich – wenn ich einen Film gucke muss ich erstmal Pause drücken, da ich sonst kein Wort verstehe.
Hase und Fuchs…sagen sich gute Nacht…..ach, das wäre genau das richtige für mich….
Hm, ja als Anwohner ist es sicher überhaupt nicht lustig. Manchmal tun mir die Leute in diesen kleinen, pittoresken Ortschaften leid, durch die wir hindurch donnern… hm…
Nur damit wir auch Freunde bleiben: ich habe ein ganz leises Motorrad und fahre sehr ruhig durch… man merkt mich kaum, wenn ich da bin, wirklich… *lieb schau*
Hahaha – okay – dann werde ich für die leisen Motorräder die Nagelkette einholen – aber die anderen….👿
Es gibt welche, die das echt übertreiben. Chopper sind in der Regel die lautesten. Viele Fahrer machen ihren Schalldämpfer einfach am Auspuff ab, wenn die Polizei nicht in der Nähe ist. Dann röhren die Dinger, das ist nicht mehr feierlich. Ich finde das selber sch** eibenkleister. Es kommt auch darauf an, wie man fährt. Man kann durchaus leise einen Ort passieren, man kann aber auch extra aufdrehen, um zu zeigen, hier bin ich. Wegen solcher Leute… ach, ich reg mich nicht auf. *puh*
Ich kann es schon verstehen – dieses geblubber – ist schon ein geiles Gefühl…Wenn ich sie weit weg vom Haus sehe, schaue ich auch bewundernd hinter her…aber wenn man gemütlich im Hof sitzt sind die Blicke nicht mehr so bewundernd.
Meistens fahren ja ganze Horden durch den Ort – da kann es nicht mehr leise sein. Wenn es dann noch bisschen eng ist und der Gegenverkehr einen zum stehen zwingt….
Wir haben kurz hinter uns auch noch so eine schöne Serpentinen-Wald-Strecke…..
Ich kann aber nicht nur auf die Motorräder schimpfen….wir haben generell laut, da wir auf einer Verbindungsstrasse zwischen zweier Orte wohnen…..das ist wenn man beim Kauf nicht zu verschiedenen Tageszeiten recherchiert.
Diese Horden sind Motorradausfahrten, die sich vorwiegend im Frühjahr (Stichwort Eröffnungsfahrt…) tummeln oder im Herbst (die letzten Sonnenstrahlen genießen…). Ich kann dich verstehen. Auf Dauer will das keiner vor der Tür haben… hm…
🏍🏍🛴🛴😁
Es wird zweifellos noch viel zu tun geben, aber ich bin überzeugt, dass das Haus ein angenehmer Ort zum Leben wird. Hoffentlich haben Sie sich inzwischen von der langen Reise erholt …. 😉 Genießen Sie Ihren Aufenthalt bei Ihrem Onkel.
Inzwischen bin ich wieder fit und genieße diesen ruhigen Ort hier. Mein Onkel hat mir versprochen, dass alles anders sein wird, wenn ich im Herbst komme. Wir werden sehen, ob er das bis dahin schafft 😉
Wenn Du Dich eines Tages wirklich zu den Tschuktschen aufmachst, dann nimm mich bitte mit! Auch, wenn die Gegend nicht wirklich einladend aussieht… https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5d/Kap_Deschnjow_3_2014-08-17.jpg
Auch auf die Gefahr hin, dass es keinen Kaffee gibt? 😉
Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass ich ohne Kaffee-Notfall-Ausrüstung verreise?
Ja richtig 😉 aber das tue ich auch nicht. Kaffee muss sein. Ich habe sogar hierher nach Polen meinen eigenen Kaffee mitgebracht (und trockenen Kaffeesatz für meine Mutter für ihre Blumen, wer hat denn schon gesehen, dass jemand Kaffeesatz über Landesgrenzen kutschiert…). Mein Onkel hat allerdings einen Lavazza mit Schokoladengeschmack, den fand ich so lecker, dass ich meinen Vorrat kaum angerührt habe 🙂
Lavazza mit Schokoladengeschmack? Du machst mich neugierig…
Er hat leider die Originalpackung weggeworfen, ich frag ihn mal 🙂
Ich finde die Gegend toll.
Ist trotzdem ein bischen arg weit weg.
Momentan ist es eine nette Gedankenspielerei, aber wer weiß, wer weiß…