Nach dem Abenteuer mit dem Abschleppdienst (jaaa, da hat Kasia mal Abenteuerin gespielt, aber anders, als mir lieb ist…) will ich nur noch den Kopf frei kriegen und fahre daher zum Strand. Es gibt zwei kleine Küstenorte, die für mich infrage kommen und beide circa 15 Kilometer entfernt liegen: Egmond aan Zee und Bergen aan Zee.
Ich entscheide mich für Bergen a. Z., nicht zuletzt deshalb, weil Stefan nach seinem letzten Besuch total begeistert von dem Ort erzählte.
Viel Wasser und flaches Land ziehen an mir vorbei. Schafe, Weiden, kleine Häuschen, Fichtenwald und Dünen. Bergen aan Zee heißt deshalb aan Zee, weil es noch ein zweites Bergen gibt. Und dieses zweite Bergen (ohne Zee) passiere ich auf meinem Weg. In Holland werden Tempolimits groß geschrieben und das Erstaunliche – es hält sich fast jeder daran.
In Bergen gibt es, mitten im Ort, ein Tiergehege mit Straußen, Ziegen Schafen und ein paar Gänsen. Ich überlege, hier kurz zu halten, fahre dann aber weiter. Ich will ans Meer. Bevor es mir noch wegläuft.
Bergen aan Zee ist bei Urlaubern sehr beliebt. Hier tummeln sich so manche deutsche Autokennzeichen und der ganze Ort scheint dazu zu dienen, dem Urlauber eine gewisse Infrastruktur zu geben in Form von Hotels, Cafes und Parkplätzen. Gleich hinter den Dünen beginnt der Strand. Ich füttere den Parkscheinautomaten und marschiere los. Das gelbe Gras auf den Sanddünen wellt sich im Wind, wird nach unten gedrückt. Und da, das Meer. Endlich.
Ich vergesse nie den Moment, Jahre her ist es gewesen, als ich zum ersten Mal am Meer stand. Es war auch an der holländischen Küste. Überwältigend war es plötzlich vor mir, wie ein kräftiges, tosendes, unbändiges Ungeheuer, mit solcher Kraft und Energie, wie ich sie vielleicht zum ersten Mal sah und die mit nichts vergleichbar ist. Immer wieder kommen die Wellen, unaufhörlich, unabdingbar, als hätten sie ihren ganz eigenen Willen.
Hier draußen am Meer ist es etwas frischer, doch ich bin warm eingepackt. Einige Leute sind entlang des Wassers unterwegs, alleine, zu zweit, mit den Kindern oder mit dem Hund. Und obwohl der himmel am Morgen bedeckt war, gibt es jetzt strahlendes Wetter. Was wohl Stefan so macht?
Der Strand ist plattgewalzt und die See, die sich zurückgezogen hatte, kommt langsam wieder. Hm, die salzige Algenluft… Eine einzelne Möwe steht einsam im Wasser. Und obwohl ich hier alles von heute Morgen einmal rekapitulieren wollte, merke ich, wie ich plötzlich gar nicht mehr daran denke.
Die Muscheln knirschen und knacken unter meinen Füßen. So viele kleine, gelbe Steinchen werden an den Strand gespült und glänzen in der Sonne wie Bernstein, doch sobald sie trocknen, werden sie wieder matt und gewöhnlich. Klein-Messie Kasia erwacht wieder zum Leben, ich sammle die Steinchen auf und schon bald habe ich eine Handvoll.
Es ist sehr windig – ich beobachte, wie Möwen die Luftströmung nutzen, um fast unbeweglich in der Luft zu bleiben.
Stefan erzählte mir etwas von Dünen und ja, ich sehe welche, doch Bergen an sich haut mich jetzt nicht gerade um. Vorwiegend schaue ich vor meine Füße. Diese Muschel könnte ich mitnehmen, für Anne Katrin. Ich würde ihr etwas ins Innere der Muschel schreiben. Eine Widmung, in etwa wie: „Reisen macht glücklich“ oder einen ähnlich sinnhaften Spruch.
Das Treibholz, welches sich dunkel am Strand angesammelt hat, ist so platt geschliffen, dass manche Stücke rund wie eine Kugel sind. Ich hebe sie auf. Nasses Treibholz vom Strand wandert in meine Tasche (wahrscheinlich machen alle bereits einen großen Bogen um die Irre mit dem Treibholz…).
Nach einer halben Stunde kehre ich um; ich friere elendig. Voller Sehnsucht denke ich an das warme Innere meines Autos. Dort angekommen schließe ich mich ein und lasse weitere zehn Minuten einfach nur die warme Sonne auf mein Gesicht scheinen.
Ja, kalte Strände sind am schönsten, wenn man sie vom Wageninneren aus betrachtet…
Der nächste Tag.
Der Sonntag ist ein Tag, an dem ich nicht aufstehen will. Und ausnahmsweise hat der Wetterbericht Recht – der Himmel ist wieder den ganzen Vormittag bedeckt. Trotzdem schaffe ich es irgendwie, um halb zehn draußen zu sein.
Eigentlich ist für heute Keukenhof und die Tulpenblüte fest eingeplant und ich begebe mich sogar hin, doch unterwegs sehe ich, dass viele der umliegenden Tulpenfelder noch komplett grün sind und nur wenige wirklich blühen. Also entscheide ich mich für etwas anderes. Obwohl der Keukenhof schon ab dem 21 März seine Pforten öffnet, ist es Ende März eigentlich noch zu früh für die berühmte Blütenpracht. Die beste Reisezeit dorthin wird auf Mitte- bis Ende April geschätzt, und ich will für meine 17 Euro Eintrittspreis auch ordentlich was geboten bekommen.
Ich halte das Auto kurz bei einem der Blumenfelder und laufe den Gehweg ab. Ganze zwei Felder blühen, wobei es sich beim zweiten um gelbe Narzissen handelt. Einige Mädels laufen querfeldein durch die roten Tulpenreihen; eine von ihnen geht in die Hocke und posiert freudig strahlend für ganz viele Bilder. Instagramer, geht es mir durch den Kopf. Ja, auch das ist einer der Gründe, warum Instagram und ich wohl nicht mehr Freunde werden. Die Leute trampeln unreflektiert alles nieder für das perfekte Foto, für die perfekte Selbstinszenierung.
Über Bergen aan Zee habe ich bereits ein wenig geschrieben. Der kilometerlange Strand ist nicht die einzige Attraktion dieser Gegend. Denn eigentlich sind es die Dünen und das nahe gelegene Naturschutz- und Erholungsgebiet, der den Ort hier so berühmt machen. Bergen a. Z. ist nicht nur See. Um Schoorl herum gibt es die höchsten und breitesten Dünen, die man erwandern kann. Die Radardüne ist die höchste in den Niederlanden. Das Naturschutzgebiet ist mit 5300 Hektar eines der größten des Landes.
An der Hauptstraße (Dünenweg 47) finde ich kostenlose Parkplätze, die zwar ein wenig außerhalb des Ortes liegen, aber da ich eh wandern will… Und schon kurze Zeit später biege ich in den Wald ein. Inzwischen trägt der Himmel keine einzige Wolke mehr, ich habe richtig geiles Wetter erwischt.
Wandern ist eine Sache für sich. Als komplett ereignis- und ergebnisorientierter Mensch muss ich hier umdenken und den Gedanken ans Ziel (hier ist das Wandern mein Ziel…) und ans Ankommen, der mich normalerweise beherrscht, diesmal zur Seite schieben. Dann, und erst dann, beginnt es Spaß zu machen.
Nichts erdet so sehr wie das Wandern, dieses ursprüngliche, natürliche „einen Fuß vor den anderen setzen“, wo der Weg tatsächlich noch das Ziel ist und nicht nur irgend eine dumme Floskel. Familien mit Kindern kommen mir entgegen. Es riecht nach Pinien. Man grüßt mich – und ich antworte, so gut ich eben kann. Interessanterweise begegnen mir fast nur Holländer. Ist vielleicht noch nicht so die Zeit für internationale Urlauber.
Ich beginne, nachzudenken. Meine Füße sind beschäftigt, also beschäftige ich meinen Kopf. Junge Menschen streben nach vorne, wollen immer einen Schritt voraus sein. Immer arbeitet man auf etwas hin, immer befindet sich irgendwo in der Ferne ein neues Ziel. Alles spielt sich in einer nicht greifbaren Zukunft ab. Alte Menschen denken oft an die Vergangenheit zurück. Und das alles, weil beide Seiten noch nicht begriffen haben, dass das Leben das ist, was uns jetzt passiert. Nein, ich sage nicht; genießt jeden Tag, als wenn es euer letzter wäre, denn das ist gar nicht möglich. Wir müssen manchmal sparen, arbeiten, haben manchmal keinen Bock, sind müde, faul oder nur angepisst. Aber ich sage: lebe bewusst. Sei dir bewusst, dass das Hier und Jetzt deine Momente sind, nichts anderes. Denn die Zukunft gibt es nicht wirklich, sie existiert nur in deinem Kopf und die Vergangenheit ist unveränderbar und in Stein gemeißelt. Irgendwie tragisch, nicht wahr? „Der Weg ist das Ziel“, auf nichts trifft der Kern dieses Satzes besser als auf das Leben selbst.
So, das war das Wort zum Sonntag (denn heute ist tatsächlich Sonntag, wer hätte das gedacht, und Kasia wirft mit Weisheiten um sich…). Ein Großteil der Dünen ist vom Wald bedeckt. Krumme Pinienbäume mit knorrigen Wurzeln. Der Boden, auf dem ich gehe, ist unglaublich weich (ist ja auch alles Sand…) und von gelben Nadeln bedeckt. Ein stetiges Rauschen des Windes geht durch die Baumwipfel, wird mal leiser und steigt dann an. Irgendwann öffnet sich der Wald und gibt ein frei liegendes Dünengebiet frei. Ich bin am Vogelmeer angekommen, einem kleinen, blauen See, den man umrunden kann. Hier auf der freien Fläche steigt sofort die Windstärke an, so dass ich brav meinen Schal aus der Tasche krame. Ein Holländer fängt mich ab, grinst mich an und erklärt mir etwas auf holländisch. „Deutsche?“ Fragt er, als er merkt, dass ich nichts verstehe. Dann sagt er etwas auf deutsch von „Baum“ und „Flugzeug“, greift mich an den Schultern und positioniert mich so, dass ich oben auf den Dünen ein kleines Flugzeug und ein paar Bäume sehe. „Ich verstehe; fliegen die von hier ab?“ „Ja, schön nicht wahr?“
Auf dem See treiben ein paar Enten. Ich höre Lerchen oben am Himmel – den Gesang der Lerche habe ich schon lange nicht mehr gehört. Der kleine Vogel nistet am offenen Feld. Er steigt auf und singt, wenn sich jemand seinem Nest nähert, um davon abzulenken. In den Gebüschen und Gräsern auf der Mini-Halbinsel schnattern Enten, Wildgänse und anderes Vogelvieh, das dort nistet. Deshalb darf man diesen besonderen Abschnitt nur ohne Hund betreten.
Rundherum wächst Heide. Eine tolle, großflächige Heidenlandschaft, ein ganzes Feld voll. Klar, zu dieser Jahreszeit macht ein brauner Heidebusch noch nicht so viel her, aber ich muss mir vorstellen, wie toll das Ganze hier Ende August aussehen würde.
Hinter dem kleinen See beginnt die Dünenlandschaft. Die baumfreien, sandigen, grasbewachsenen Hügel – die eigentlichen Dünen, so wie ich sie mir eigentlich vorgestellt habe. Das hier wollte ich im Grunde sehen. Und ja, eine „Dünenwanderung“ ist hier nicht bloß eine leere Floskel, denn die einzelnen Kämme kann man tatsächlich besteigen. Natürlich läuft man nicht querfeldein, doch unzählige Pfade führen um und an den Dünen vorbei und oft auch hinauf.
Ich laufe höher und höher, stelle meine Füße in die Fußstapfen meiner Vorgänger in den weichen Sand. Die Landschaft hier ist wunderschön, der Wind weht mir schroff ins Gesicht und da, da hinten, hinter einem weiteren, dunklen Pinienrand kann ich einen graublauen, nebligen Streifen – kann die Nordsee sehen.
Eine Mutter mit ihren zwei Kindern lässt sich an einer windgeschützten Stelle nieder und ich tue es ihr gleich, allerdings auf der anderen Seite, denn ich möchte ein wenig Einsamkeit. Und dann schaue ich hinunter auf die Landschaft vor mir, den Mantel fest um mich gewickelt. Die Sonne wärmt mein Gesicht und ich schließe die Augen. Gelbes, langes Dünengras wellt sich im Wind, die Sandkörner rieseln, glänzen, werden vom Wind mitgenommen. Der Sand unter meinen Handflächen ist weiß, warm und samtweich. Hier ist das Hier und Jetzt, genau hier denke ich nicht an das „Weiter“, genau jetzt sind meine Gedanken an Ort und Stelle, nicht mehr einen Schritt voraus. Mein perfekter Augenblick.
Bis zum Meer, wie geplant, werde ich heute nicht mehr kommen. Aber das macht nichts, denn als ich weiter gehe (die Mama mit ihren Kindern hatte mich aufgescheucht; der Anblick des Mädchens, wie sie in ihrem Röckchen auf ihrem Popo Stück für Stück die Düne hinunter rutschte, war aber auch zu komisch…), habe ich das Gefühl, angekommen zu sein. Da, wo ich wollte.