Rückkehr aus Kathmandu, September 2019
Corona ist noch science fiction…
Das Leben anderer Menschen
Nepal, mitten in Pokhara City. Gekonnt halte ich inzwischen die lokalen Busse an. Dinge, über die ich mir früher Gedanken gemacht habe wie Figur, Klamotten, ob ich zugenommen habe oder nicht… ob ich beliebt bin oder nicht, ob man mich mag… all das, was man mit sozialer Akzeptanz verbindet, wie wir sie in Westen verstehen… nun lache ich, wenn ich darüber nachdenke. All diese profanen Fragen sind im Moment gar nicht existent für mich.
Weil man, wenn man hier ist, einfach nur dankbar ist. So blöd das auch klingt, aber manchmal muss man einfach nur das Leben anderer Menschen sehen, um seine Prioritäten wieder zurecht zu rücken.
Die grünen Busse, die fahren ständig in der Stadt herum. Man kann sie sich einfach heran winken. Sie halten dann an und nehmen einen mit. Und bringen dich, wo immer du hin möchtest. Wie wenig es mich juckt, dass mir der Kassierer das Doppelte des Touristenpreises berechnet und „vergisst“, mir ein Ticket auszudrucken. Am Ende des Tages sind es dreißig statt fünfzehn Cent, über die wir hier reden, also: who cares?
So viele Dinge weiß man zu schätzen, wenn man nach Hause kommt. Die volle Badewanne mit klarem, heißem Wasser, das nicht muffig riecht, wenn man seine Nase dran hält. All das, was man hat und jeden Tag benutzt. Der ganze Tussi-Kram. Ein wenig vermisse ich es doch, hier vor Ort. Ist es überlebensnotwendig? Himmel, nein. Aber schön. Und ein Wohlfühlgefühl.
Am Flughafen in Kathmandu…
Die Vorfreude auf Zuhause ist groß. Nach zwei Wochen hier in Nepal vermisse ich richtiggehend „normales“, unscharfes, europäisches Essen wie Eier, Pizza, Toast… Essen, bei dem du nicht zweimal überlegen musst: Okay, ist das jetzt scharf? Wenn ja, wie scharf ist es? Und kann ich es essen? Wie esse ich das jetzt am besten? Ich vermisse es, mir keine Gedanken machen zu müssen, mit welcher Hand ich mein Essen anlange und zum Mund führe (nicht zu vergessen, die linke ist verpönt in Nepal…). Wo sind meine Füße, habe ich damit aus Versehen auf jemanden gezeigt?

Menschen, die so hell sind wie ich und die mich verstehen. Die mir nichts verkaufen wollen.
Ich könnte keine Dauerreisende sein. Denn irgendwann ist es einfach genug. Routine muss her. Das Altbekannte. Das Unkomplizerte. Ein Reset. Gib mir ein Monat, dann bin ich wieder raus. Aber jetzt? Nein, jetzt noch nicht.
Jetzt habe ich erst mal so viel zu verarbeiten. So viele Bilder einzusortieren.
Das nepalesische Geld habe ich inzwischen zurückgetauscht, im kleinen Büro am Flughafen. Das Büro verdient sich eine goldene Nase an der Tatsache, dass das Ausführen nepalesischer Währung verboten ist. Beim Umtausch habe ich vielleicht ein Viertel vom eigentlichen Wert verloren. Hätte ich es lieber dem Taxifahrer gegeben…

Dann stehe ich in der langen Schlange, die zum Check in Schalter führt. So viele Menschen warten mit mir hier, doch es geht zügig voran. Katar Airlines ist sehr effizient. Nach wenigen Augenblicken bin ich dran. „Wie hat Ihnen Nepal gefallen?“ Fragt mich der Beamte am Schalter. Ich beginne zu schwärmen, vom tollen Land, von herzlichen Menschen. Sein Gesicht beginnt zu strahlen von unverhohlenem Stolz. Später, viel später wird mir erst bewusst, dass er mir die zehn Euro Ausreisegebühr zu berechnen „vergessen“ hatte…
Ich watschle weiter mit meinem Rucksack bewaffnet. Mit dem Blut und der roten Farbe auf der Stirn, den lockeren Hosen und der braunen, sich schälenden Haut sehe ich aus wie ein Jutesack tragender, alternativer Hippie. Fehlen nur noch die Marihuana-Wolken um mich herum.
Heute Abend um halb zehn steige ich in Doha in einen Flieger nach Frankfurt um. Früh morgens um sieben werde ich in Deutschland sein.
Stunden später, in Mannheim…
Stefan hat es versäumt, mich abzuholen. So ziehe ich alleine durch das Land, durch das gesittete, nüchterne Deutschland. Am Frankfurter Flughafen falle ich nicht so sehr auf mit meinem blutroten Tika auf der Stirn. Es gibt ein paar Blicke, ebenso später in Mannheim. Die Blicke sind nicht erstaunt, vielmehr so nach dem Motto: Aha. Ein Sonderling. Davon treiben sich viele in unserer toleranten Gesellschaft herum. Ich falle also kaum auf, doch mir fällt allerlei auf: die Sauberkeit, das Geordnete, Spießige. Und die Ruhe, die unglaubliche Ruhe.
Es ist so schön, wieder hier zu sein.
Als ich in Mannheim aus dem Zug steige, bin ich schockiert darüber, wie sauber die Straßen sind. Es gibt Gehwege. Ausgebaute, durchgehende Gehwege, mit nichts weiter vollgestellt. Man stolpert nicht über Müll und Kuhscheiße. Oder gleich über ganze Kühe.
Ich muss nicht auf der Straße laufen, zwischen Autos, Motorrädern und Rikschas. Keine Angst haben, überfahren zu werden, wenn ich die Straße überquere. Niemand ruft, niemand hupt, und die Luft ist so sauber. Die Luft ist so rein. Ich würde lieber aus einem deutschen, abgasmanipulierten Auspuff atmen als mich in Kathmandu ohne Mundschutz auf die Straße zu trauen.
Die Autos hier haben Gurte. Anschnallgurte. Sicherheit ist nicht nur eine Floskel. Das erste Fahrzeug, mit dem ich in Nepal gefahren bin, war ein Moped ohne Helm. Das zweite ein privater Wagen, wo nicht nur die Gurte nicht vorhanden waren; eine solche Vorrichtung war nicht vorgesehen.
Gestern hatte ich ein Kathmanduer Taxi mit Anschnallgurten. Innerlich schon am Jubeln versuchte ich voller Vorfreude, mich anzuschnallen. Ist wohl selten, dass das tatsächlich einer macht, was mir einen verwunderten Blick des Taxifahrers einbrachte. Die Vorfreude erstickte im Keim, denn der Gurt ließ sich gar nicht herausziehen.
Augen zu und durch. Nicht zu viele Gedanken machen. Man ist schließlich auf einer Reise, alles ein großes Abenteuer. Doch irgendwann möchte man die Sicherheit wieder, die man so gewohnt ist. Mir geht es so. Somit feiere ich jedes Straßenschild, jeden Gurt und jede Vorschrift, und wenn sie noch so überflüssig sei.
Wir wissen teilweise gar nicht, was wir hier haben. So schöne Ecken Nepals Hauptstadt auch aufzubieten hat: andererseits liegt dort Müll in Flüssen herum.
Dichte Regenwolken hängen über Mannheim, hin und wieder nieselt es. Trotz allem verzichte ich darauf, mir ein Taxi zu rufen. Ich bin das Zu-Fuß Gehen inzwischen gewohnt, zudem bin ich zu geizig geworden für die hiesigen Gebühren. Aber vielmehr will ich die Eindrücke zu Fuß aufnehmen, so wie an meinen ersten Tagen in Nepal. Deutschland muss ein riesiger Kulturschock sein. Deutschland ist ein Kulturschock. Das wird mir immer wieder bewusst, mit jeder Rückkehr mehr.
Und wie leer es ist, wie still. Gut, es ist Sonntag. Doch trotz alledem fehlt die Geräuschkulisse und auch ich passe irgendwie nicht mehr hierher. Das wird sich geben, in wenigen Tagen schon werde ich wieder Teil dieses Universums sein, doch jetzt, im Moment, fühlt es sich so an, als hätte ich die ganze Welt mitgebracht, und das enge Deutschland wäre noch nicht bereit dazu. Es ist nicht nur der Weg nach Hause, der so weit und so lang ist.
Es ist der Sprung aus einer anderen Kultur, anderer Raum und Zeit. Aus einer Filterblase heraus und in die nächste hinein gefallen, und wenn man so logisch darüber nachdenkt, so haben beide keinerlei Berührungspunkte miteinander. Das andere ist, obwohl ich eben noch dort war, nun so weit weg. So unwirklich, vergangen. Ich bin jetzt hier. Und alles war nur ein Traum. Mein Kopf wandert noch in diesem vergangenen Traum herum. Das wird die nächste Zeit so bleiben.
Die Realität holt mich schneller ein als mir lieb ist. Ich verschätze es mir mit einer Freundin. Vielleicht habe ich nicht mehr, nachdem ich die Welt und den Ernst des Lebens gesehen habe, nicht mehr die Geduld für Eitelkeiten und zu viel Ich-Bezogenheit. Wie denn auch sei, manchmal verändert einen das Reisen und auch die Einstellung zu manchen Dingen. Zu dem, was wichtig ist. Und was nicht. Es ist alles eine Frage der Perspektive.

Ich bin zu Hause, im Bademantel… liege gemütlich auf meiner Couch. Der Fernseher läuft. Ab und zu notiere ich mir etwas, was mir so in Nepal passiert ist. Auf meiner Stirn prangt noch immer das feuerrote Tika aus dem Dashinkali Tempel und meine Haut schält sich an beiden Armen, als hätte ich Lepra – die Überbleibsel des Sonnenbrandes, den ich mir beim Wandern auf dem Sarangkot Berg geholt habe. Ich sollte mir ernsthafte Gedanken über Sonnenschutz machen…
Das erste, was ich tue, als ich zu Hause bin, ist ein Bad nehmen. Ein schönes, langes, ausgiebiges Bad. Den ganzen Mief der Großstadt und der Reise, den Schweiß und Staub von mir wischen. Auch der Geruch von Kuhscheiße geht nur schwer von den Füßen und aus den Schuhen raus. Und jetzt fragt mich nicht, woher ich das weiß… Nur das Tika, das belasse ich noch. Es wirkt so unpassend in dieser sterilen Umgebung meines Heimes. Dass ich es mal so empfinden würde…
Es passierte so viel in der letzten Zeit, dass Dinge, die just einen Tag her sind, bereits sehr weit entfernt zu liegen scheinen. Alles hallt im Kopf nach, doch die Zeit erscheint länger, da nicht alle Tage gleich waren. Die Gleichförmigkeit, nach der ich mich sehne, die werde ich nun jetzt und hier genießen.
Nirgendwo mehr hingehen. Nichts mehr machen. Denn ich komme schon von so weit her. In einer halben Stunde mache ich ein Nickerchen.