Als wir den Tempel verlassen und an den unsagbar schönen Ausblicken vorbei wieder hinunter laufen, wartet der Fahrer nicht auf uns. Wir platzieren uns im Schatten eines Kiosk, wo der Verkäufer gelangweilt auf seinem Stuhl hockt und das kleine Mädchen auf dem bloßen Boden im Staub sitzt und uns mit großen Augen anguckt. Wie exotisch komme ich mir vor in dieser Umgebung. Nach ein paar Minuten und einem kurzen Telefonat ist auch der Taxifahrer wieder da – nur um die Anweisung zu erhalten, dass er uns im Nachbardorf ein paar Kilometer weiter wieder aufsammeln soll. „Wir gehen jetzt wandern.“ Verkündet Ranjan.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist Mittag; bis zu meinem Flug am Abend ist noch viel Zeit. Trotzdem will ich – typisch deutsch – die Uhrzeit im Auge behalten. Sonst muss ich den nächsten Flieger nehmen…
Wir schlendern los, vorbei an einer sehr grünen Landschaft. Häuser, umringt von hoch aufwachsenden Pflanzen – Ranjan pflückt ein Blatt, zerreibt es und schnuppert daran. „Hast du schon gesehen? Das ist Marihuana.“ Ich glaube, mich verhört zu haben.
Tatsächlich – die Form der Blätter lässt keinen Zweifel übrig – das, was so in den Gärten der Häuser wuchert, ist wilder Hanf. Die Pflanzen sind schmallblättriger und größer als das gezüchtete Zeug, was man aus dem Fernsehen so kennt. Ich bin völlig aus dem Häuschen.
Klar, habe ich gewusst, dass Nepal einer der größten Produzenten ist, doch dass die Pflanzen hier einfach so wild auf dem Feld herumstehen, wofür wir in Deutschland erhebliche Probleme bekommen, das war mir nicht klar. Ist doch mal was anderes, das so zu sehen.
Ich nehme so ein Blättchen in die Hand. Denke dann an meinen Transit in Katar, lasse es wieder fallen, als hätte ich mich verbrannt. „Sammeln und rauchen das die Menschen auch?“ Frage ich Ranjan. Es ist zwar seit einigen Jahren auch in Nepal illegal, Marihuana zu konsumieren, doch scheinbar ist es nicht illegal, das Kraut in mannshohen Büschen auf dem Acker stehen zu haben. „Ja“, bestätigt Ranjan. „Ab und zu wird es auch geraucht.“ Ja ja… gibt den Hanf frei… ich grinse. Eigentlich braucht sich der Besitzer nur mal kurz von seiner Terrasse hinunter zu beugen für seinen „Eigenbedarf“…
Auf dem Land
Wir schlendern durch den Ort Dashkinkali, der gleichzeitig auch den Namen des Kali-Tempels stellt, schauen uns einen weiteren Tempel an mit seinen fantastisch bunten Malereien und schlendern anschließend weiter, über einen unbefestigten Pfad, der mitten durch den Ort verläuft. Ein Mann läuft schnellen Schrittes mit einem überdimensional großen Korb auf dem Rücken an uns vorbei; nur noch die Beine sind zu sehen. Ein Hund döst im Schatten einer Hütte. Wir überqueren eine Hängebrücke, die den Bagmati Fluss überspannt, und landen mitten im Feld.
Hier erwartet uns eine saftig grüne Landschaft. Reisterrassen, eingebettet inmitten von Bergen, Bauern, die inmitten der Szenerie in ihrer bunten Kleidung knöcheltief im Reisfeld stehen. Ich kann mich an der Landschaft kaum satt sehen: hier ist Nepal noch ursprünglich schön. Büffel grasen in der Nähe der Häuser. Im Schatten kleiner, gemauerter Hütten stehen angebundene Ziegen und starren uns gleichmütig an.
Dunkel anmutende Wolken überziehen den Himmel, doch das lässt die Landschaft noch grüner erscheinen. Leuchtend rote Blüten, die aussehen wie Schwertlilien, flammen inmitten der Reisfelder auf. Die vielen Blumen und Pflanzen haben es mir angetan und Ranjan steht geduldig daneben, während ich vorsichtig durch das Feld stakse, um an mein Foto zu kommen. Ranjan erklärt mir die Pflanzen, sofern er sie kennt. Leuchtend rote Peperoni stehen da in Reih und Glied und auf einer Anhöhe wachsen Aloe-Pflanzen, die so groß sind wie ich selber.
Ein gelber Hund hat sich an unsere Fersen geheftet und hofft auf einen Snack. Vor uns taucht ein Wagen mit Anhänger auf und Ranjan nutzt die Gelegenheit, ein paar Worte mit den Leuten zu wechseln und mir dann die verschiedenen Erzeugnisse zu zeigen, die da transportiert werden.
Ein älteres Paar winkt uns zu sich heran. Sie haben ihr Mittagessen – gekochte Kartoffeln – ausgepackt und bieten uns davon an. Ranjan will weiter gehen, doch ich hüpfe fröhlich durchs Feld und zu den Leutchen hin.
Einen kleinen Plausch mit den Einheimischen will ich mir nicht entgehen lassen, zudem ich in diesem Fall die erfreuliche Erfahrung mache, dass es ausnahmsweise mal keinem ums Geld geht. Ranjan folgt mir und wir bleiben stehen und plauschen kurz. Na ja, „plauschen“ mit Händen und Füßen, denn die beiden sprechen kein Englisch und ich kein Nepali. Ranjan übersetzt. Nach ein paar Minuten verabschieden wir uns und ich drücke der Frau eine Tüte in die Hand – es ist die süße, reichhaltige Paste, die ich heute morgen im Kali-Tempel gekauft habe. Ich winke kurz und wir gehen weiter.
Bis hierher erstrecken sich die Auswirkungen des großen Bebens von 2015. Menschen leben in provisorisch errichteten Hütten mit Wellblechdach. Viele Häuser sind eingestürzt oder nicht mehr bewohnbar, erklärt mir Ranjan; unzählige Menschen auf einen Schlag obdachlos geworden. Jetzt warten sie, warten darauf, die provisorischen Behausungen zu verlassen, warten auf den Aufbau. Wer weiß, wann es voran geht. Ich werfe von hier oben einen Blick auf ein Dorf, das unter uns liegt. Männer sitzen im Schatten um die Mittagszeit. Hühner laufen hin und her und ab und zu sieht man angebundene Ziegen.
Doch nicht nur die Behausungen, auch viele Tempel und kulturelle Güter stürzten ein. Das nächste Dorf, das wir besuchen, war – und ist es trotz der Schäden noch immer – ein malerischer Ort. Wir drücken uns durch die engen Gassen, wo an den aufragenden, roten Ziegelwänden Knoblauchkränze und rote Chilischoten zum Trocknen aushängen, hoch oben über unseren Köpfen. Hier in den verwinkelten Gassen riecht es nach Extrementen und ich versuche, nirgendwo hinein zu treten. Noch sind wir alleine und der kleine Ort scheint wie ausgestorben, doch das ändert sich, als wir auf die Hauptstraße kommen, die zum zentralen Platz führt.
Im Bungamati Village
Der Tempel des roten Machendranath, des Regengottes, bildet mit dem großen Platz das Zentrum des Ortes. Nicht mehr viel ist davon übrig und was noch da ist, ist von Planen bedeckt und von Gerüsten umstellt. Die Aufbauarbeiten laufen im vollen Gange. Der Platz ist eine einzige Baustelle, ein Bagger steht bereit und Arbeiter wuseln hin und her. Na ja, nicht ganz; vielmehr stehen oder sitzen sie um den Bagger herum, der sich gerade in Bewegung setzt. Alles wird bedacht mit einem fachmännischen Blick.
Das Vorhaben, den historischen Ort wieder neu zu errichten, wird von der Regierung Sri Lankas unterstützt. Ranjan holt sich Informationen bei einem der Männer ein. Hier scheint es früher von Touristen nur so gewimmelt zu haben und Ranjan erzählt mir, er habe immer mal wieder Führungen hierher gemacht. Doch seit dem Erdbeben verirrt sich kaum noch jemand her und so bin ich die einzige Touristin weit und breit. Entsprechend werden wir von den Dorfbewohnern neugierig beäugt.
Bungamati ist ein typisches Dorf der Nawari. Wir erinnern uns: es ist die Volksgruppe, die alle Jahre wieder eine neue Kumari von Kathmandu stellt, woran ein aufgehängtes Transparent erinnert: „Living Goddess Kumari of Bungamati. Trotz seiner Nähe zur Stadt (knapp zehn Kilometer) ist es sozial und kulturell sehr traditionell. Die Bewohner leben von der Landwirtschaft und der Holzschnitzerei.
Doch auch so finde ich genügend Fotomotive im beschaulichen, kleinen Bungamati, sei es der Hund, der faul auf der Treppe liegt, seien es die getrockneten Gewürze oder der Schrein, in den ich einen Blick werfen darf. Eine großäugige, rotgesichtige Gottheit starrt mir entgegen, über und über mit roter Farbe bedeckt. Die rote Farbe ist überall, was dem Schrein ein surreales Aussehen gibt. Alles ist davon bedeckt: der Boden, die Skulptur und die Wände. Es sieht aus wie Blut. Der Priester gesellt sich zu uns, er stellt sicher, dass ich keinen Fuß hinein in den Schrein setze. Der Asket trägt lediglich nur einen umgebundenen Sack am Körper und ist ansonsten barfuß. „Das ist ein heiliger Mann.“ Sagt Ranjan. „Wir respektieren ihn sehr.“
Dann entfernen wir uns und schlendern über den Platz.
Auf den ehemals stark präsenten Tourismus deuten die Souvenirshops hin, in denen man noch echte Handarbeit kaufen kann. Geschnitztes oder Geschmiedetes, alles wird vor den Augen des Gastes hergestellt. Als wir an einer solchen Schmiede vorbei kommen, ist ein Mann gerade schwitzend dabei, etwas fertig zu stellen; das Klopfen von Hammer auf Metall hallt in dem kleinen Raum, aus dem die Hitze nach draußen dringt.
In einen solchen Shop führt mich Ranjan hinein. Hier werden geschnitzte Souvenirs für Zuhause produziert. Das Lächeln der Verkäuferin erscheint mir so schön, als würden tausend Sterne leuchten. Als Ranjan übersetzt, lächelt sie noch mehr.
Die geschnitzten Gegenstände wurden aus Eukalyptusholz gefertigt; ein entsprechend intensiver Geruch durchdringt den kleinen Raum. Sie ritzt eines der Holzstücke an und ich halte es mir an die Nase. Hm, frisch und aromatisch wie eine Erkältungssalbe. Halbherzig versuche ich, den Preis herunter zu handeln, doch die Dame bleibt unnachgiebig. Eigentlich habe ich keine Verwendung für Holzschnitzereien, ich hätte höchstens etwas gekauft, um das Handwerk hier zu unterstützen. Doch heute wandert kein Souvenir in meine Tasche.
Wieder schlendern wir durch die Gassen und ich bin fasziniert von der Beschaulichkeit hier, die sich so sehr von der hektischen Stadt unterscheidet. Der schwarze Hund, der uns bereits bei der Ankunft begleitet hat, taucht auch jetzt wieder auf, was mir jedoch erst bei der späteren Durchsicht meiner Bilder so wirklich bewusst wird. Vor Ort bin ich zu sehr damit beschäftigt, das alles aufzunehmen und zu verinnerlichen, meiner Müdigkeit zum Trotz. Immerhin sind wir seit heute morgen schon unterwegs und seitdem habe ich bereits so vieles gesehen, was von meinem Geist verarbeitet werden muss. Unzählige Eindrücke drohen, überzuschwappen. Und es kommen immer neue dazu.
Ich liebe diese schmucken Details. Die bunten, holzgeschnitzten Türen und Fensterrahmen, die kleinen Ecken und Winkel. Wir kommen an Shops vorbei, die Menschen werfen hier und da mal einen neugierigen Blick auf uns, ansonsten ist es aber bei weitem nicht so, wie im belebten Thamel in Kathmandu. Ranjan zeigt mir nicht nur die Hauptstraße, er zeigt mir auch die versteckten Schreine und Winkel, einen stillen Platz, der etwas abseits in der Sonne liegt und den ich nur für mich habe. Je nachdem, wo man sich befindet, ist kaum eine Seele zu sehen, denn das Leben konzentriert sich entlang der Hauptstraße des Ortes. Vieles findet auf der Straße statt und irgendwie ist es, als würde ich zu den Leuten ins Wohnzimmer steigen.
Wie schön und verlassen der Ort doch wirkt! Hier müsste touristisch gesehen doch eigentlich der Bär steppen, geht mir durch den Kopf, als wir uns an einem Bassen mit grünem Wasser und einem kleinen, inaktiven Wasserspeier einfinden. Auch hier ist kaum jemand zu sehen, das alles hier wirkt wie vor langer Zeit mal in Betrieb gewesen. Nun, die Stadt ist im Aufbau. „Schau her, da sind auch die Deutschen aktiv!“ Ranjan weist auf ein Gebäude hin: Der Samariter-Bund, Aktion Deutschland hilft.
Kleiner Snack für ein paar Rupien
Bunte Fähnchen schmücken den Ort und im Schatten der Mauern stehen Motorräder herum. „Wir wollen jetzt was essen.“ Verkündet Ranjan und führt mich in ein Lokal hinein, das normalerweise einzig von Dorfbewohnern besucht wird und wo das Essen nur wenige Rupien kostet. Hier haben sich die Betreiber noch nicht darauf spezialisiert, überhöhte Preise je nach Hautfarbe zu verlangen. Für ein paar Rupien bestellt Ranjan uns eine lokale Spezialität: sehr fluffig gebratene Pfannkuchen.
Den selbstgebrannten Reiswein, den ich schon in Chitwan probieren durfte, gibt es hier gleich schüsselweise zum Essen dazu. Ich habe zwar nicht so viel Vertrauen in selbstgebrannte Schnäpse, doch mein Guide scheint da keine Bedenken zu haben. Nach der ersten Reisschnapsschüssel folgt die zweite, von einem jungen, schüchternen Mädchen aus einer großen Metallkanne ausgeschenkt.
Während wir essen, beäuge ich neugierig den kleinen Raum. Auf den Reisschnaps verzichte ich, denn im Angesicht des späteren Fluges will ich noch einen klaren Kopf behalten. Doch ich werde auch von den Anwesenden ab und zu diskret gemustert. Als ich aufstehe und die zischenden Pfannkuchen fotografiere, die auf der heißen Platte braten, protestiert die füllige Dame des Hauses. Sie gibt mir zu verstehen, dass sie mit auf dem Foto sein will. Nach einem zweiten Versuch und ihrem prüfenden Blick auf mein Smartphone nickt sie zufrieden.