Wie es begann…
Es gibt ein altes, sehr altes Foto von 1990, aus dem Jahr, in dem ich eingeschult wurde. Es ist ein Klassenfoto, aufgenommen draußen auf dem Warschauer Königsplatz vor dem Schloss, wo die König Zygmunt Statue auf einer Säule über die Altstadt wacht. Hier stehen zwei oder drei Schulklassen nebeneinander, die zusammen den Ausflug machten. Da hätten wir die hippen, stylischen Kinder, die mit herzförmigen Sonnenbrillen und schicken Strohhütten zu der angesagten Community gehören. Dann ihre vielen Anhängsel und schließlich wir, die stillen Kinder in der altmodischen Kleidung, die die Kleider ihrer älteren Geschwister auftrugen. Bis auf mich, denn ich war Einzelkind – das hatte damals durchaus seine Vorteile.
Irgendwo auf diesem Foto bin ich, mit zusammengekniffenen Augen und einem blonden Zopf, noch unfähig, auf Kommando zu lächeln sucht mein Blick aufgeregt den Fotografen. Und da ist auch Jola, weit weg von mir, gar auf der anderen Seite der bunten Kinderschaar. Ihre Mutter ist dabei, denn einige der Mütter nahmen betreuend an der Veranstaltung teil. Die erste Aufnahme, auf der wir gemeinsam zu sehen sind. Es muss die erste oder die zweite Klasse gewesen sein, denn Jola und ich kannten uns damals noch nicht.
Turbulente Zeiten
Und dann lernten wir uns kennen. Ich schätze, eher durch Zufall, denn in der dritten Klasse passierte etwas, das viele unserer kindlichen Gemüter mehr oder weniger erschüttert hat: die Klasse wurde aufgelöst und wir wurden anderen Klassen „zugefügt“. Und Jola und ich saßen nebeneinander. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?
Ja – und nein. Wir verbrachten viel Zeit zusammen und schnell wurden wir ein Herz und eine Seele. Wir spielten Spiele, die keiner verstand und brauchten niemanden mehr außer uns. Jede nicht gemeinsam verbrachte Schulpause war eine dramatische Zeit. Nach der Schule liefen wir zusammen nach Hause, obwohl ich mein Fahrrad hatte und überhaupt weiter weg wohnte. Ein Stück weit führte der Weg in die gleiche Richtung, bis die Wege dann hinter dem Bahnübergang und den Gleisen auseinander gingen. Zunächst buchstäblich, doch später auch im übertragenen Sinne, später trug uns das Schicksal in unterschiedliche Himmelsrichtungen. Besser gesagt mich, es trug mich nach Deutschland, während meine Freundin noch immer im selben Haus, im Haus ihrer Eltern wohnt.
Manchmal brachte ich sie vor die Haustür und manchmal verbrachten wir vor ihrer Haustür noch unheimlich viel Zeit. Wir erkundeten den nahe gelegenen Fluss und das Flussufer und trieben uns im Grün herum. Häufig so lange, dass wir die Zeit vergaßen und einmal meine Oma plötzlich vor mir stand. Sie hatte sich Sorgen gemacht und war die vier oder fünf Kilometer vom Dorf hierher gekommen. Jola und ich hatten völlig das Zeitgefühl verloren. Es waren Stunden vergangen.
Ja, wir haben einen Narren aneinander gefressen und obwohl wir hin und wieder versuchten, die eine oder andere Mitschülerin hinein zu lassen in unseren geheimen Bund, so war das nicht von Dauer.
Doch die Freundschaft war nicht nur harmonisch.
Ich denke, dass ich noch nie zuvor oder danach jemanden traf, mit dem ich so sehr auf einer Wellenlänge lag und mit dem so die Chemie stimmte. Ich mag die Einteilung in beste Freundin nicht. Es war einfach so, dass wir uns fast ohne Worte verstanden. Und manchmal ohne Worte eben nicht verstanden. Denn genauso oft wie es harmonisch zuging, genauso häufig stritten wir auch. Über Kleinigkeiten, Eifersüchterleien, Neid und verletzte Gefühle. Manchmal verbrachten wir viel Zeit beim Streiten, doch immer redeten wir miteinander. Als neun- bis elfjährige Kinder lernten wir, Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen, denn das würde bedeuten, der Freundin aus dem Weg zu gehen. Und nie passierte es, dass wir von der Schule nach Hause fuhren, ohne die Sache zu bereinigen. Was auch immer es war.
Die Trennung
Diese hatte sich angekündigt und ich hatte Zeit, meine Freundin und mich selbst darauf vorzubereiten. Wer sich bereits gewundert hat, dass mich in der oberen Geschichte meine Oma abholte, dem sei gesagt, das hatte einen guten Grund. Denn meine Mutter war da bereits nicht mehr bei mir, sie war hier, in Deutschland. Und dann, nach einigen Jahren beschloss sie, mich nachzuholen. Sie entschied die Sache nicht alleine, sie entschied sie mit mir. Und – ja, vielleicht war das zu viel Verantwortung für ein Kind – aber sie fragte mich, was ich darüber denke und was wir machen sollten. Und ich wollte nach Deutschland.
Ein wichtiger Aspekt im damaligen (und heutigen) Polen, der nicht außer Acht gelassen werden sollte, ist der soziale Neid. In einem Land, wo das Wohlstandsniveau der Menschen niedriger ist, ist der gegenseitige Neid höher, damals in den neunziger Jahren vielleicht noch mehr als heute. Diejenigen Polen, die es irgendwie geschafft haben, ins Ausland zu gehen, wurden neidisch bis anerkennend beäugt. Schau mal, der hat es geschafft. Der wird sich da drüben eine goldene Nase verdienen. Plötzlich sprachen Expats aus den USA mit einem Hauch englischen Akzent, wenn sie ihre Heimat besuchten. Woher nach rund zwei bis drei Monaten Aufenthalt der englische Akzent kommen sollte, ist mir nach wie vor ein Rätsel…
So wurde ich damals instruiert, jedem, der es wissen wollte, zu erzählen, dass wir lediglich innerhalb Polens umziehen. Das bezog meine Freundin leider mit ein. Ich konnte ihr weder meine Adresse noch meine Kontaktdaten geben, ich versprach aber, mich zu melden, sobald ich angekommen bin.
Zur damaligen Zeit stahlen wir uns nach der Schule in einen nahe gelegenen Kindergarten und besetzten dort die Schaukeln und Wippen. Und als wir so vor uns hin schaukelten, ich die Augen halb schloss und beobachten konnte, wie sich die Sonne in meinen Wimpern verfängt und kleine Regenbogen-Reflexe darin bildet (den Effekt kennt niemand, der sich mit Wimperntusche zukleistert…), da sagte sie mir, ich sei sehr geheimnisvoll. Das war doch nicht freiwillig…!
Freundschaft im Laufe der Jahre
So sehr ich zur Anfang nach Deutschland gehen wollte: ich habe unterschätzt, wie schlimm es werden würde. Es ist nie einfach für ein Kind, sein Zuhause zu verlassen und sich völlig neu zu orientieren. Entwurzelung ist hier ein passender Begriff. Der Abschied war sehr emotional und meine Freundin hat mir einen Abschiedsbrief geschrieben, in dem sie mich bat, sie nicht zu vergessen.
Ich kam in den ersten Sommerferien zu Besuch. Dann konnte ich ihr auch sagen, wo ich tatsächlich bin und ihr meine Adresse geben. Wir hielten Briefkontakt und schickten uns Bilder, und dieser Kontakt und diese Bilder waren mein Anker, solange, bevor ich hier meine Wurzeln schlagen konnte. Innerhalb der ersten drei Jahre wäre ich, hätte ich die Möglichkeit gehabt, so schnell wie möglich wieder zurück gefahren. Zurück nach Polen. Deutschland hatte mir nicht viel zu geben. Dachte ich damals.
Doch ab dem vierten Jahr begann alles, sich langsam zu wandeln. Ich fand meinen Lebensmittelpunkt hier. Ich lernte neue Freunde kennen und fühlte mich immer weniger wie ein Fremdkörper. Die Briefe mit meiner Freundin wurden weniger, doch vor allem war es an ihr, Wochen bis zur Antwort verstreichen zu lassen. Auch sie lernte (natürlich) ohne mich zu leben. Doch immerzu, wenn ich drüben war, sahen wir uns.
Und so ist es bis heute. Jahrzehnte sind vergangen. Jola hat inzwischen geheiratet und hat zwei kleine Kinder. Sie lebt noch immer in demselben Haus, an dessen Tore ich sie damals in unserer Schulzeit brachte. Immerzu, wenn wir uns treffen, scheint sich nichts verändert zu haben. Zu keinem Zeitpunkt saßen wir da und hatten uns nichts zu sagen, im Gegenteil, es scheint, als wäre seit damals kein Tag vergangen. Als würden wir genau an diesem Punkt weiter machen, an dem wir aufgehört haben. Und dabei sind unsere Leben so unterschiedlich verlaufen, doch weder das, noch die Zeit, nichts davon hat es je geschafft, etwas zu verändern. Es sind inzwischen fünfundzwanzig Jahre vergangen.
Wofür ich dich bewundere
Es gibt Menschen, denen kann man es nicht recht machen. Egal, wie oder was ihr Leben ihnen auch bietet, immerzu gibt es daran etwas auszusetzen. Hat man ein Haus in einer ruhigen Lage, so fühlt man sich abgeschieden und einsam. Hat man eine Wohnung in der Stadt, so ist es zu laut und die zwei Autos, die in der Stunde am Fenster vorbei fahren, rauben einem den letzten Nerv. Alles ist böse, schlecht und schwarz, düstere Farben zeichnen das Leben und die Einstellung vor.
Und dann gibt es diese positiven Menschen. Positiv, doch nicht auf die Art: schau her, welche tollen Lebensratgeber ich gelesen habe und was für eine geile Einstellung ich jetzt habe. Nein.
Menschen, die einfach nur gut sind. Keinen Neid oder Unzufriedenheit erkennen lassen, ja, sich gar nicht erst darum scheren, was andere mehr haben als sie selbst. Die zufrieden sind. Glücklich.
Meine Freundin ist so ein Mensch. Ich habe sie noch nie neidisch erlebt oder erlebt, dass sie jemand anderem etwas schlechtes wünschen würde. Nicht, weil sich das nicht gehört; sondern, weil sie kein Bedürfnis dazu verspürt. Ja, werden manche sagen: wer alles hat im Leben, braucht andere nicht zu beneiden. Doch Zufriedenheit und Glück kommt nicht daher, dass man „alles hat“. Denn was ist schon „alles“? Und Menschen, die „alles“ haben, wollen die dann nicht immer mehr?
Es ist eine Typsache. Meine Freundin lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern im Haus ihrer Eltern. Sie teilen sich zu viert ein Zimmer, das vielleicht die Größe eines durchschnittlichen Wohnzimmers hat, der Rest des Hauses wird von weiteren Mitgliedern bewohnt. Ihre Mutter ist verstorben, kurz nachdem ich nach Deutschland gegangen bin. Jola ist seitdem für die Versorgung der Familie zuständig, dazu zählen Mann, Kinder, ihr Bruder und Vater. Abgesehen von der Zeit in Mutterschutz arbeitet sie Schicht in einer Fabrik für Autoteile. Noch ehe die Kinder kamen, war sie an manchen Tagen so übermüdet, dass sie mitten im Gespräch neben mir auf der Couch einfach einschlief.
Worauf will ich hinaus: trotz alledem ist sie glücklich. Sie ist zufrieden mit dem, was sie hat. Sie beschwert sich niemals. Sie hat ihren Liebsten, ihre kleine Familie und steckt voller positiver Energie. Als wüsste sie genau, was im Leben wirklich wichtig ist.
Es gibt nur wenige solche Menschen. Die einfach das Gute sehen. Ich bin nicht sicher, ob man das lernen kann. Vielleicht ist es eine Frage der Einstellung. Egal, wie viele Schicksalsschläge, egal, was fehlt, Menschen wie sie schauen auf das, was da ist und da sein könnte.