Der frühe Morgen lässt mich frösteln. Mit Gänsehaut auf den nackten Armen krame ich mein Jacket aus dem Auto. Die Schlange Menschen vor dem Geschäft meines Kunden wird nicht gerade kürzer; was kürzer wird, ist die verbliebene Zeit meiner Parkuhr. Ja, Trier ist wirklich aus der Zeit gefallen, stellenweise verwendet man hier sogar Parkuhren, diese urtümlichen Gebilde, die einem noch nicht einmal eine Quittung zum Abrechnen ausdrucken.
Was tun. Mein Blick fällt auf die Kapelle auf der anderen Seite der Straße. Trier strotzt gerade so vor Kirchen und Kapellen und Straßen sowie Apotheken sind je nach einem Heiligen benannt. Und die Auswahl an Heiligen ist groß, so haben wir einen St. Matthias, einen St. Petrus und St. Georg. Und wenn das nicht hilft, dann müssen eben die Apostel, die Jesuiter oder der Heiliger Kreuz herhalten. Ich löste mich aus der Schlange der wartenden Menschen und überquere die Straße. Ich würde es hier in ein paar Minuten nochmal versuchen. Manchmal lösen sich solche Situationen von alleine wie von Zauberhand auf.
Die Heiligenkreuz-Kapelle steht alleine da in der Kühle des Morgens. Noch brennt die sengende Sonne nicht alles nieder, was sich ihr in den Weg stellt. Doch die Kapelle ist verschlossen und die Corona-Pfeile an den Türen verweisen auf den jeweils nächsten Eingang.
Hier komme ich nicht rein. Stattdessen betrete ich die Heiligenkreuzkirche. Eine einsame Dame hat mir den Rücken zugewandt und kehrt den Boden. Erst nach einem zweimaligen Räuspern und einem kräftig lautem „Guten Morgen“ dreht sie sich um und ihr Gesicht strahlt.
Die Heiligenkreuzkirche
„Die Heiligenkreuz-Kirche ist hier, wo wir uns gerade befinden.“ Erklärt sie mir, weil ich fälschlicher Weise zunächst danach frage. In den achtziger Jahren erbaut ist die eines von jenen von außen überaus hässlichen, braunen Betonklötzen, um die ich normalerweise einen großen Bogen mache. Doch da muss ich eventuell nochmal umdenken, denn innen wirkt der Bau überaus schön, schlicht und leicht. Die Fenster sind aus hellem Alabaster und leuchten milchig unter der einfallenden Sonne über dem Altar.
Später noch, als eine Zweite Dame dazu kommt, erzählt sie mir, dass hier Ostersonntagsmessen und Auferstehungsmessen am frühen Morgen stattfinden. „Die Messe beginnt um fünf oder halb sechs. Und dann, während der Predigt geht die Sonne auf und beleuchtet nach und nach die Alabasterwand hinter dem Altar. Das ist für mich eine Morgenpredigt.“
Auch die Farbgebung der Kirche ist einfach gehalten; das farbigste, was wir hier haben, sagt sie, ist das Gemälde hinter dem Altar. Der Rest ist in schlichten, beigen Tönen gehalten. Zurecht, denke ich, denn ein Mehr an Farben ließe den Raum sehr schnell zu opulent und überladen wirken. Auf der rückwärtigen Seide der Kirche zeigt die Wand eine Szene aus Genesis: die Erschaffung des Menschen im Paradies. Auch beige, leicht und schlicht. Und der goldene Kronleuchter stellt die heilige Stadt Jerusalem dar.
Die Heiligenkreuzkapelle
Die Kapelle ist abgeschlossen und ich komme so ohne weiteres nicht rein. Aber…
„Sie können versuchen, an der Seite bei der Verwaltung zu klingeln und einen Schlüssel erbitten, damit Sie sich die Kapelle anschauen können.“ Sagt mir die Dame, die den Boden kehrt. Nun ruht die Schaufel unter dem „Jerusalem“-Kronleuchter. Ich bedanke mich für den Tipp. Wenn jemand da ist, würde mir geöffnet werden, doch ich rechne nicht wirklich damit. „Als ich vorbei ging, waren die Rollos unten.“ Sagt mir die Dame noch beim Weggehen. „Aber probieren sie es.“
Was ich probiere, ist erstmal ein gutes Foto von der Kapelle zu erhaschen, wo der Bau als Ganzes zu sehen ist. Dafür überquere ich einen kleinen Parkplatz. Ein Blick zur Seite, zu meinem Kunden zeigt mir, dass sich die Situation nicht wirklich gebessert hat; noch immer stehen recht viele Menschen davor. Ich seufze und wende mich dem Verwaltungsgebäude zu. Ich kanns ja mal versuchen.
Als ich vor der Tür stehe und klingle, glaube ich nicht wirklich daran, dass mir geöffnet wird. Doch zu meiner Überraschung höre ich Schritte im Inneren. Nach einem kurzen Rascheln geht die Tür auf und eine völlig überraschte Frau schaut mir aus dem Inneren entgegen. „Ich bin hier nur die Vertretung.“ Sagt sie. Einen Schlüssel könne sie mir nicht mitgeben, außer ihren eigenen. „Den bringen Sie mir wieder zurück?“ Sie schaut mich prüfend an, dann fängt sie an, mir zu erklären, wie ich am besten in die Kapelle komme. Über den Haupteingang ginge es nicht. „Ach, ich komme am besten mit.“ Sagt sie nach einem Moment.
Zusammen finden wir uns wieder in der Heiligenkreuzkirche ein. Der Eingang zur Kapelle befindet sich auf der anderern Seite der Kirche. Und nachdem sie mir geöffnet und mich alleine gelassen hat, höre ich noch, wie die beiden Damen nun anfangen zu schnattern wie eine Wellensittichenschaar.
Die Heiligenkreuzkapelle ist im Innern beeindruckend anzusehen. Schon von außen fängt die ungewöhnliche, markante Form mit dem schlichten, kreuzförmigen Kapellenfenster und den sehr dicken, massiven Wänden Blicke ein. Was hier eine besondere Wirkung erzeugt, ist die Einfachheit und die geometrischen Formen. Kein Geschnörkel und nichts zu viel. Insofern war die später erbaute Kirche eine passende Ergänzung dazu.
Die Kapelle mit ihrer Kreuzform stammt aus dem 11 Jahrhundert, doch sie soll historischen Quellen zufolge bereits in 4 Jahrhundert von der heiligen Helena gegründet worden sein.
Der Ort hat sich um die Kapelle herum gebildet und schließlich gab die Kapelle ihm seinen Namen, ehe er ein Teil von Trier wurde. Nun ist der in der Südstadt gelegene Bezirk Trier-Heiligkreuz Teil der ältesten Stadt Deutschlands. Zur Zeit der Römer verlief die damalige Stadtmauer von Trier mitten durch das heutige Heiligkreuz, welches damals lediglich nur ein Dorf war. Erst 1913 wurde es zu Trier eingegliedert.
Im Innern der Kapelle ist es vor allem das Licht, welches durch das kreuzförmige Fenster geworfen wird, welches den stärksten Eindruck erzeugt. Vor dem Fenster, mitten im fallenden Licht, steht das Kreuz. Auch hier hängt ein altgoldener Kronleuchter in Form der Stadt Jerusalem.
Das Fehlen von Geschnörkel fördert die Konzentration aufs Wesentliche, die Gedanken können ruhen und sich klären und werden nicht von zu vielen Motiven und Details abgelenkt. Eigentlich sollten alle Gebetsräume so aussehen, denke ich. Ein starkes, wirkungsvolles Zentrum, nichts überflüssiges. Alles andere ist nur die Prahlerei mit dem Reichtum der Kirche und dient vielmehr dazu, das damals schlichte Volk einzuschüchtern und die politischen Gegenspieler zu beeindrucken. Kirche ist Macht. War Macht.
Dabei erhielt die Kapelle durchaus im 17 Jahrhundert eine barocke Ausstattung, so wie es damals üblich und in Mode war. Doch nach ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und ihrem Wiederaufbau wurde – zum Glück, wie ich sagen kann – auf diese Ergänzung verzichtet. Die Kapelle hat nun wieder ihre ursprünglich romanische, schlichte, ansprechende Farbgebung und Form.
Auch die Bauform änderte sich im Laufe der Zeit: der ursprüngliche Bau war vollkommen kreuzförmig gewesen, doch im Laufe der Zeit wurde der Westarm verlängert und der Symmetrie adieu gesagt. Noch ein Beispiel, wie man etwas verschlimmbessern kann.
Als ich die Kapelle verlasse, bleibe ich noch neben den beiden Damen stehen. Das ist der Moment, in dem ich die vielen Informationen zur Heiligenkreuzkirche erhasche. „Eigentlich müsste hier restauriert werden.“ Sagt die Verwalterin und zeigt auf eine Wand, wo Farbe und Putz großflächig abblättern. „Aber wir haben, wie sie sicher wissen, nicht mehr so viele Besucher und das Geld fehlt.“ Dabei sitzt die Kirche als Institution auf einem Milliardenvermögen, denke ich. Doch wer versteht schon die verschachtelten Systeme und die Tatsache, dass für abgebrannte französische Kathedralen und restaurierungsbedürftige Gotteshäuser Spenden gesammelt werden müssen. Ich zumindest verstehe es nicht.