Nepal, Sommer 2019
Während ich so da sitze und in meinem Sitz vor mich hin schaukle, während sich die Zeit zieht und ich bei jedem Schlagloch lustig in die Höhe hüpfe, gehen mir allerlei Dinge durch den Kopf. Zeit zum Reflektieren habe ich on mass und da draußen, vor dem Fenster, spielt sich das Leben ab. Wir verlassen Chitwans Tiefebene und der Bus schlängelt sich langsam wieder die Berge entlang, immer höher und höher. Pokhara, unser Ziel, liegt 930m über dem Meeresspiegel. Der Bus passiert die vielen kleinen Ortschaften am Rande des Nationalparks; Sauraha und wie sie alle heißen, die weder mit ihrer Schönheit bestechen noch sich in irgend einer Weise voneinander unterscheiden. Doch hier tobt das Leben; ein größerer Ort bedeutet immer Aussicht und Chance auf Arbeit, er bedeutet Geschäfte, andere Menschen, so etwas wie soziales Leben außerhalb der Dörfer. Im Grunde genommen steppt hier der Bär.
Nepal ist ein sehr armes Land. Der durchschnittliche Verdienst beträgt um die achthundert Euro im Jahr. Das einzige, um was es geht, ist Überleben. Und nein, das sind jetzt keine Vermutungen, die sich mein überhitztes Hirn zusammen reimt; das ist die tatsächliche Situation vieler Menschen, die mir mehrfach im Laufe meiner Reise bestätigt werden wird. Wo wir Spaß haben, tobt der Überlebenskampf. „Ich habe kein Konto.“ Wird mir später (viel später…) ein Nepalese sagen. „Wenn ich meine Rechnungen bezahlt habe, ist das meiste weg. Von was soll ich denn sparen?“
Nun, auch hierzulande gibt es bei einigen die Gewohnheit, vom ersten bis zum dritten zu leben und danach nichts mehr zu haben, aber ich denke, das ist in Nepal noch ein bisschen krasser. Ich sehe das alles, sehe die Menschen, sehe die Kinder. Weswegen häufen wir im Westen Dinge und Geld an, das verpönte „Materielle“, je mehr desto besser? Um uns so weit wie möglich von diesem Zustand; vom Zustand der Bodenlosigkeit fortzubewegen.
Federleichter weißer Nebel erhebt sich über der Schlucht des Rapti River. Steile, sattgrüne Hänge fallen links und rechts hinab. Ein Zufluss mit schlammig braunem Wasser fließt in das weiße, kalkhaltige Gewässer, doch die beiden Ströme vermischen sich nicht. Gerne hätte ich mir das Phänomen genauer angesehen.
Während der Bus fährt, mache ich mir Notizen, halte Bilder fest, die am Busfenster vorbei ziehen. Das kleine Heftlein in meiner Tasche ist inzwischen völlig zerfleddert. Stellenweise, wenn die Straße schlechter wird, ist meine Schrift beinahe unleserlich. Wie viel mir das Gekritzel später nützt, nun, das werden wir sehen.
Ein kleines Kind neben mir kotzt die ganze Zeit, gibt tiefe, würgende Geräusche von sich. Die sogenannten „Touristenbusse“ sind nicht einzig den Touristen vorbehalten; jeder Nepalese, der sich den teureren Preis leisten kann, fährt mit. Die Busse sind komfortabler und schneller als der normale, nepalesische Busverkehr, da sie an festgeschriebenen Stationen halten und nicht einfach herangewunken werden können.
Eine sehr nette, nepalesische Mama mit ihrem von Übelkeit geplagten Sonnenschein hat neben mir Platz genommen. Die Mutter lächelt und versucht, ihr Kind zu beruhigen, während die Menschen um uns herum im Gesicht grün und blau werden. Eine Touristin hält sich die Nase zu. Ich schaue aus dem Fenster. Habe beschlossen, mich in Ignoranz zu üben, ignoriere Geräusche und Gerüche. Welch schöne, grüne Reisterrassen da draußen. Das Kind gibt noch ein tiefes, lautes Würgen von sich und holt alles raus, was in so einem kleinen Kindeskörper steckt. Vor einer halben Stunde noch hatte es sich lachend, rufend und winkend von Vater und Onkel verabschiedet, ein Winken durch die Scheibe.
Die Landschaft ist schier überwältigend. Tiefe Schluchten. Hoch ragen die dunkelgrünen Berghänge. Tief hängende Fußgängerbrücken aus Seil- und Drahtgeflechten verbinden die Hänge miteinander. Dazwischen – weiße Federkissen aus Wolken, Weiß auf Grün. Kleine Hütten, die wohl nur durch Gebete an diesen Hängen halten. Das Hupen der überholenden Fahrzeuge. Gedanken.
Die einheimische Frau neben mir schläft.
Dann erreichen wir die nächste Ortschaft, die Dichte an Schlaglöchern nimmt zu. Ein Hühnerpaar rennt über die Straße. Über eine Brücke überqueren wir den Rapti River.
Kleine Dörfer. Heuhaufen. Wir passieren Bharatpur. Blockartige Häuser, die vermutlich als schön empfunden werden, verschandeln die Landschaft. Und auch die Gesichter der hier lebenden Menschen haben sich verändert, sie erinnern eher an die Gesichter der im Hochland lebenden Sherpa. Die Tharu in der Gegend um Chitwan sehen dunkler und irgendwie… indischer aus. Sie haben ihre eigene Kultur und Identität, doch sie sehen sich uneingeschränkt als Nepalesen, wie alle der unzähligen Ethnien, die miteinander in Nepal leben.
Es gibt schon vereinzelt schicke Häuser in den umliegenden Orten. Auch sie haben diese blockartige Bauweise, sind dabei bunt verziert und mit verspielten Balkonen versehen. Große Dachterrassen sind üppig mit Blumen behangen. Doch dann siehst du die baufälligen Gebäude nebendran, den Bauschutt und den Müll, die aufgerissenen Straßen, die unzähligen schwarzen Stromkabel und die Abgase. Und so fügen sich die einzelnen, für sich genommen schönen Bauten in ein großes Gesamtbild der Hässlichkeit.
Die Stay-over-night in Chitwan geistert mir durch den Kopf, so als sei es gestern gewesen. Ach, Moment; das war ja gestern. Die Nacht im Dschungel war der Wahnsinn. Einfach ein Erlebnis. Ich trage unzählige Stiche am Körper, die weiß Gott woher stammen. Doch ich nehme jeden einzelnen davon gerne in Kauf. Und mein Herz schlägt schneller alleine beim Gedanken daran, wie ich den Tiger bei seiner Jagd belauschte.
Zum Glück hat das Kind neben mir aufgehört zu Kotzen; wahrscheinlich hat sein Körper keinen Inhalt mehr. Irgendwann beginne auch ich, mich schlecht zu fühlen, der Kreislauf flippt aus. Malaria, Pest, Cholera – wer weiß, was ich da jetzt am Hals habe. Bloß weg mit diesem Kind!
Eine kleine, vollgestopfte Sardinenbüchse namens Local-Bus überholt uns und ich erahne, wie viel Glück wir mit unserem komfortablen Touristenvehikel doch haben. Mit einem Local Bus zu fahren, das würde für viele Backpacker so viel wie „authentisch“ bedeuten. Doch für die Einheimischen bedeutet dieses „authentisch“ einfach nur „unkomfortabel“, der Grund für sie ist nicht die Suche nach dem Kick, sondern weil sie sich nichts anderes leisten können. Denn jeder, der kann, der es sich leisten kann, nimmt den bequemeren Touristenbus. Also warum sich als verhältnismäßig reicher Europäer in die Local Busses quetschen; nur um später sagen zu können, man hätte eine „echte, authentische“ Erfahrung gemacht? Nur für den Kick? Das ist für mich irgendwie zynisch.
Unser Bus ist voll bis auf den letzten Platz, und Touristen machen hierbei nur einen kleinen Teil der Gäste aus. Der Busfahrer hat die Westler alle direkt auf die letzten Plätze gesetzt, vermutlich, um alle seine Touris auf einem Fleck zu haben.
Riesengroße Werbetafeln prangen inmitten malerischer Reisfelder. Das interessiert hier keinen. Wobei – hier gibt es so vieles, das nicht interessiert… wie die schwarzen Qualmwolken, die aus dem Auspuff unseres Busses entweichen. Ist man hier in Nepal, so ist es schwer zu begreifen, was die Leute in Deutschland für ein Problem mit Abgaswerten und Feinstaubnormen haben. Man könnte glatt meinen, die Luft in unseren deutschen Städten sei verpestet und zum Atmen ungeeignet. Ich betrachte den pechschwarzen Qualm und muss den Kopf schütteln.
Und dann erst der Lärm. In vielen Städten, unter anderem in Kathmandu, wurden Schilder aufgehängt, die das Hupen an zentralen Knotenpunkten untersagen. Doch keiner hält sich daran; ich glaube, die Schilder werden von den Fahrern nicht einmal registriert. Irgend jemand schrieb mal, seitdem sei es in der Hauptstadt wesentlich ruhiger geworden. Wesentlich – ruhiger? Ich beginne, herzlich und ehrlich zu lachen.
Wieder ein Blick aus dem Fenster. Frauen schleppen schwere Lasten die bergigen Straßen hoch. Wie zäh der menschliche Körper doch ist, dass er darunter nicht zusammen bricht. Man, haben wir es gut. Ich meine – wir im Westen. Wir in Deutschland. Ich.
„Ein wilder Elefant hat hier in Chitwan jemanden getötet.“ Erzählt mir John, mein Guide, als wir gestern Abend auf der Terrasse des kleinen Dschungelhäuschen sitzen. „Aber einen Einheimischen, keinen Touristen.“ Fügt er beschwichtigend hinzu. Ich bin ratlos – was soll ich darauf antworten? Dann ist ja gut??
Vielleicht wollte er mich beruhigen. Doch ein Elefant schaut vorher nicht in meinen Pass. Und dieser kleiner Zusatz im Satz hat mir wieder einmal gezeigt, welchen Stellenwert ein Tourist in Nepal hat. Ich weiß nicht so recht, ob ich glücklich darüber bin. Es ist das Geld, welches wir ins Land bringen. Und jetzt, da ich so im Bus sitze und nach draußen schaue, die Menschen mit ihren schweren Lasten sehe, muss ich unwillkürlich an dieses gestrige Gespräch denken.
Morgen wird in Nepal das Teej Festival gefeiert, ein Festival der Frauen. Doch es irrt, wer glaubt, dass es beim Fest der Frauen um die Frauen geht. Zumindest nicht so, wie wir es verstünden. Im Grunde heißt dieses Fest offiziell: Fest zum Wohle der Ehepartner und Kinder. Er wird von Frauen begangen, daher spricht man der Einfachheit halber vom „Fest der Frauen“.
Die Frauen des Landes kleiden sich in ihre schönsten Saris, tanzen und singen. Verheiratete Frauen beten zu Lakhsmi, der Göttin des Wohlstands und Glücks, für die Gesundheit ihrer Männer, während ledige Frauen um einen guten Ehemann bitten. Denn was kann es wichtigeres für eine Frau geben als das Glück ihres Ehegatten? *zwinker*.
Ein Bus auf der Gegenfahrbahn bleibt mitten auf der staubigen Straße stehen, ignoriert gekonnt das protestierende Gehupe hinter ihm und sammelt in aller Ruhe ein paar Fahrgäste ein. Stellenweise ist die Fahrbahn dermaßen schlecht, dass wir uns beim Passieren der kratergroßen Löcher kaum im Sitz halten können und umhergeworfen werden wie Puppen.
Dann kommt der Bus endlich an.
Geprägt vom großen Phewa Lake wirkt der Ort nicht unbedingt schöner, jedoch touristischer und die vielen Graffitis, Lokale und Cafes schaffen es, einen interessanten Gesamteindruck zu erwecken. In bin in Pokhara angekommen.