Sommer 2019, im nepalesischen Dschungel
Nach einem Fußmarsch durch die Tiefebene Chitwans, einer Landschaft voller Schilf, roter Lilien und im Schlamm badender Wasserbüffel, erreiche ich schließlich Sauraha. Der kleine Ort am Rande des Nationalparks hat sich auf Touristen spezialisiert, was man an touristischen Angeboten, Freizeit- und Ausflugsagenturen sowie der Touristenpolizei sehen kann, die ihren Posten inmitten einer Kreuzung bezogen hatte. Doch das Häuschen der Touristenpolizei ist leer.
Nicht dass ich etwas von ihnen wollte. Was ich aktuell dringend will, ist eine Bank mit einem Geldautomaten, der meine ausländische Visa nimmt. Das Bankensystem Nepals hat sich mir noch nicht so wirklich erschlossen, denn es soll noch öfters im Verlauf der Reise passieren, dass mir die anonymen Mitteilungen auf dem Bankautomaten den kalten Schweiß auf meine Stirn treiben und meine Karte folgsam wieder ausspeien, natürlich ohne mir auch nur eine einzelne Rupie im Tausch dafür zu geben. Und ohne, dass ich den Grund dafür erkennen kann.
Doch nun ist es noch nicht soweit. Ich habe vorgegriffen, denn all das wird sich noch in den nächsten Tagen und Wochen ereignen. Nun marschiere ich, Tourist, erstmal in Sauraha ein.
Die Touristenagentur
Eine Agentur nach der anderen säumen links und rechts die Straße und ich werfe immer mal wieder den Blick auf die Angebote und vergleiche Preise. Oft gibt es leichte preisliche Unterschiede bei vergleichbarer Leistung und manchmal sind die Preise gar nicht erst ausgeschrieben. Doch allein das Permit fürs Betreten des Nationalparks kostet zweitausend Nepalesischer Rupien (1€ – 132,18NPR, Stand April 2020)
Fast alle Agenturen bieten das gleiche Programm an. Im ersten Büro, das ich betrete, werde ich vom Betreiber sogleich freundlich begrüßt. „Kommen Sie, setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken?“ Doch mit dem Stay-over-night komme ich ein wenig zu knapp, wie mir der Mitarbeiter mitteilt. Für heute Abend käme keine Buchung zustande, allerhöchstens für morgen. Nun, das kann ich verstehen, denn es ist schon drei Uhr am Nachmittag.
In der nächsten Agentur, die ich anfrage, habe ich jedoch mehr Glück. Ich bezahle die volle Summe sofort in Bar und soll in anderthalb Stunden wieder kommen. Ein wenig mulmig ist mir dabei schon zumute, die gesamte Summe sofort zu hinterlegen, immerhin sind es rund fünftausend NRs (incl. zweitausend NPR fürs Permit). Ich gebe dem Betreiber das Geld. Die Quittung will er mir später ausstellen und ich lasse mich mit der Aussage vertrösten. Nun, ich muss sagen, bisher bin ich auf meinen Reisen noch nicht auf die Nase gefallen, sprich, es hat mich noch keiner abgezogen. Die Agentur erscheint mir vertrauenswürdig und der Vermittler macht einen ernsthaften und seriösen Eindruck.
Ich verlasse das kleine Büro, überquere die Straße und stecke meine Visa-Karte in den Schlitz des erstbesten Automaten, den ich auftreiben kann. Glücklicherweise ertönt schon nach kurzer Zeit das surrende Geräusch und ich ziehe erleichtert einen Fächer Cash aus dem Schlitz. Mit neuem Lebenssaft in Form von Bargeld setze ich mich draußen auf ein kleines Treppchen und behalte die Agentur auf der anderen Straßenseite vorsichtshalber im Auge.
Nachdem ich mich so unauffällig wie möglich gemacht habe, beobachte ich das Treiben auf der Straße. Viel bleibt mir nicht zu tun und den Marsch zum Homestay anzutreten übersteigt meine Willenskraft. Die Sonne senkt sich immer tiefer. Ein Mann steht mit einem Wagen da, der er zu einem kleinen, mobilen Verkaufsstand umfunktioniert hat. Aus dem Inneren dröhnt nepalesische Popmusik. Er schiebt den Wagen immer mal wieder ein Stück die Straße weiter hinauf in der Hoffnung auf Kundschaft. Menschen gehen ihren Tätigkeiten nach. Ein alter Mann mit Krücken kommt entlang des Weges und fragt nach ein paar Rupien. Ein Junge fährt mit einem Karren vorbei, der von einem mageren Pferd gezogen wird. Ohne anzuhalten dreht er sich um: „Guide?“ Nein, danke. Ich lache. Ich brauche keinen Guide, schon gar keinen Minderjährigen.
Ich beobachte die Menschen und werde von ihnen beobachtet. Und ich stelle fest, dass mein Anblick selbst zu dieser ungewöhnlichen Jahreszeit keine Besonderheit darstellt. Diverse Hostels, Hotels und sonstige Unterkünfte gibt es hier auf Schritt und Tritt. Doch die einzigen Touristen außer mir sind zwei Spanier, die aus einem der Unterkünfte kommen. Es ist wirklich out of season. Ich frage mich insgeheim, ob dieser Ort einzig entstanden ist, um die touristische Nachfrage im Bezug auf den Chitwan Nationalpark zu bedienen.
Alte Frauen tragen vollbeladene Säcke auf dem Kopf. Mein Blick verfängt sich in ihren bunten Kleidern. Und die Sonne wandert langsam über meinem Kopf, die Schatten werden länger, das Licht wird wärmer, bekommt einen orangenen Schein.
Als ich mich auf dem Weg zurück zum Büro mache, wartet der Mann schon auf mich. Er hatte meine Quittung bereits ausgestellt und hält sie in der Hand.
Ein paar Minuten später lerne ich meinen Guide kennen, der mich während meiner Zeit im Chitwan Nationalpark begleiten wird. Der Mann stellt sich als John vor. Zusammen machen wir uns auf zum Nationalpark.
Schon die Fahrt mit dem Tuk-Tuk dorthin ist für mich aufregend. Tage zuvor fiel mir auf, dass die Fahrer zwar einen Zacken drauf haben, doch ihre Augen sind dabei überall. Sie sind sehr aufmerksam, und das müssen sie auch, denn alles mögliche tummelt sich vor ihnen auf den Straßen herum. Ziegen spazieren die Straße entlang. Manchmal schlafen sie sogar mitten auf der Fahrbahn ein, gänzlich unbeeindruckt von den Fahrzeugen und den Reifen, die just Millimeter von ihren entfernt vorbei rasen. Hühner, Enten, Hunde, eine Glucke mit ihrer Kückenschaar… – die Straßen sind voller Viecher. Die Tiere entscheiden sich oft, nur Bruchteile von Sekunden die Fahrbahn zu überqueren, ehe das Tuk-Tuk sie erwischt. Ganz so als stünden sie auf den Nervenkitzel.
Natürlich möchte niemand das Tier eines Nachbarn anfahren oder überfahren, deshalb bremsen die Tuk-Tuk-Fahrer ab oder weichen aus, oft in letzter Sekunde.
Abends im Chitwan Nationalpark
Hier steigen wir am Permit-Point aus und der Guide heißt mich zunächst, kurz zu warten. Ich setze mich, während John den Ranger begrüßt. Die Männer gehen ein Stück zusammen, umarmt Schulter an Schulter, und halten sich anschließend an den Händen. Sie scheinen dabei in keinster Weise irgend eine Art Scheu oder dergleichen zu empfinden. Mein Erstaunen kennt keine Grenzen. Doch ich meine, mich dunkel daran zu erinnern, dass Händchen halten in Nepal einen Ausdruck von Freundschaft darstellt und nicht etwa auf amourösen Absichten beruht. So friedlich das Land auch ist und so herzlich seine Menschen, Homosexualität, ob unter Männern oder unter Frauen, ist in Nepal nicht gesellschaftlich anerkannt.
Für uns Europäer ist der körperliche Kontakt zu einem guten Freund etwas ungewohntes, in Nepal scheinbar ganz normal. Doch wer weiß? Vielleicht ist ja dieser Körperkontakt eine Ausweichmöglichkeit für etwas, das es nicht gibt, weil es das nicht geben darf?
Einige Minuten sitze ich so da, und die beiden Männer reden miteinander. Dann kommt John zu mir zurück.
„Das Tuk-Tuk wird hier nicht weiter fahren.“ Sagt er. „Der Pfad ist zu unwegsam. Wir müssen ein kleines Stück zu Fuß weiter.“ Ein zweiter Ranger stößt zu uns und zu dritt machen wir uns auf den Weg. Der zweite Ranger wird uns den Rest des Abends und die Nacht über begleiten. Inmitten der tiefen, tropischen Wälder, bewohnt von wilden Tieren wie dem Königstiger, dem Schwarzbären, asiatischen Wildhunden oder auch dem Rhinozoros ist es eine gute Idee, zu zweit unterwegs zu sein. Im Notfall kann der begleitende Mann helfen, ein Tier abwehren oder ablenken oder auch Hilfe holen.
Langsam folge ich den Spuren der beiden Guides. Und das ist wortwörtlich zu nehmen, denn der Weg ist matschig und aufgeweicht. Stellenweise steht Wasser, so dass ich penibel darauf achte, meine Füße dorthin zu setzen, wohin sich die Männer vor mir wenden. Vorsichtig schlagen wir große Bögen um die Schlammpfützen herum. Ein Tuk Tuk hätte hier keine Chance. Wir laufen schweigend und in zügigem Tempo, denn die Sonne geht bald unter. Ab und zu prüfen die Männer Spuren, die Tiere im weichen Boden auf unserem Weg hinterlassen haben. John erklärt mir die Fährten in seiner offenen, angenehmen Art.
Plötzlich hält einer der Guides unsere kleine Gruppe an. „Schau mal da!“ Flüstert John, und mit einem vielsagendem Ausdruck im Gesicht deutet er nach vorne. „Animals! A lot of them!“ Ich sehe eine Herde Rehe, die unbeweglich mitten auf dem Weg steht und uns mit angespitzten Ohren aufmerksam betrachtet. Es handelt sich um die sog. Art der Axishirsche, aber das schlage ich erst viel später nach. Im Augenblick starre ich fasziniert die Tiere an.
„Es ist Abend, und immer, wenn es dunkel wird, versammeln sich die Hirsche auf freien Flächen.“ Flüstert John und ich stelle mir eine große Tierversammlung wie aus ‚König der Löwen‘ vor. Na kommt schon, kleine Hirschlein, wir sind doch keine Tiger… „Ganz leise, ganz vorsichtig.“ Flüstert John.
Ein paar Augenblicke bleiben wir so stehen und ich betrachte in der Abenddämmerung und der Kühle des dahin scheidenden Tages die scheuen Tiere. Ich mache ein paar Bilder mit meinem Smartphone und verfluche mich für diese dusselige Idee, diesmal keine richtige Kamera mitgenommen zu haben. Die Hirsche machen fast lautlos ein paar Schritte, ansonsten bewegen sie nur ihre großen Ohren. Langsam und in einem Bogen versuchen wir, näher zu kommen, während die kleine Herde versucht, langsam und unauffällig den Abstand zwischen uns wieder zu vergrößern. Passenderweise stehen sie mitten auf unserem Weg herum.
„Ist es okay, bist du glücklich?“ Fragt John und ich sage ja. Als wir weiter gehen, setzt sich die Herde urplötzlich in Bewegung, springt über die Piste und ist auf und davon. Die Tiere verschwinden in den Büschen, doch ein ganzes Stück weiter beginnen sie, sich wieder zu sammeln. Als wir uns auf ihrer Höhe befinden, stehen sie links und rechts unbeweglich im Gebüsch und beobachten uns wie zu Anfang.
Wir erreichen eine große, offene Fläche inmitten des Dschungels von vielleicht vier- oder fünfhundert Metern Durchmesser. Hier inmitten der Lichtung steht ein Häuschen auf Stelzen, das unser Zuhause für heute Nacht werden wird. Es ist ein Beobachtungsposten, wie wir es kennen, doch ziemlich groß mit zwei Ebenen und umgeben von einem überdachten Balkon mit Geländer in einer sicheren Höhe. Diese Beobachtungshäuschen sind dazu gemacht, um größere Touristengruppen zu beherbergen, die das Stay-over-night Angebot buchen, doch nun, außerhalb der Saison, bin ich in der luxuriösen Position, es für mich alleine zu haben. Na ja, fast, aber dazu später.
Auch hier auf der Lichtung haben sich Tiere versammelt. Eine große Herde der bereits oben erwähnten Hirsche platziert sich mitten auf der freien Fläche. Die freie Fläche lässt die Tiere eventuelle Angreifer sofort erkennen und flüchten. Doch werden heute Nacht trotzdem ein paar der Tiere ihr Fell lassen müssen? „Der Tiger ist nachts auf der Jagd.“ Sagt John leise.
Wir ignorieren die weiteren Rehherden, nachdem ich sie ausgiebig betrachtet hatte. Da standen sie, einfach so. Nun, ich würde heute Abend noch ausreichend Gelegenheit dazu haben, mir die Tiere anzusehen. Wir gehen zielstrebig zum Aussichtspunkt, als die Guides mich abermals anhalten. „Schau mal da!“ John deutet zum Rand des Waldes. „Da unten, zwischen den Büschen… da sind Rhinos! Sie schlafen…“ Ich hätte die Nashörner fast schon für große Steine gehalten.
Die Nashörner
Es sind eine Nashornmutter und ihr Junges. Ich fühle mich glücklich und gesegnet, die großen Tiere endlich in freier Wildbahn gesehen zu haben und obgleich der Abstand zu den Tieren vielleicht vier- oder dreihundert Meter beträgt, hoffe ich, den kurzen Weg über der Lichtung schnell hinter mich zu bringen und oben auf unserer Sichtungsterrasse zu verschwinden. Ich habe meine Tiere gesehen, alleine deshalb hat es sich jetzt schon gelohnt. Meine ersten Nashörner sah ich in Namibia. Doch es handelte sich dabei um Tiere, die an den täglichen Anblick von mehreren Touristenbussen gewöhnt waren und die die Ranger sehr gut kannten.
Das hier ist etwas völlig anderes. Und vielleicht deshalb ein so besonderes Erlebnis, obwohl von den Tieren nicht viel zu sehen ist. Ich bin froh, dass die Panzernashörner noch schlafen, denn John fragt mich augenblicklich: „Hast du kein anderes T-Shirt? Hast du nichts anderes zum anziehen?“
Ich schaue an mir herunter und frage mich, was falsch ist. Es sind die Farben, sagt John. Rhinozoros, erklärt er, mögen kein weiß. Weiß, gelb, rot – alle hellen und intensiven Farben sind ungünstig und reizen die Tiere. Deshalb ist es besser, dunkle, gedeckte Töne zu tragen. „So wie ich.“ Sagt er und zeigt auf sein Khaki-Hemd. „Aber es wird schon gehen.“ Na super, geht mir durch den Kopf.
Die Idee, das Stay over night zu buchen und direkt danach in den Dschungel zu fahren, war eine sehr spontane. Ich habe rein gar nichts dabei, weder etwas zum Umziehen noch Deo noch eine Zahnbürste. Folglich auch kein dunkles Shirt. Und aus diesem Grund bin ich drauf und dran, die Nashörner Nashörner sein zu lassen und in dem Häuschen auf Stelzen zu verschwinden, welches verheißungsvoll aus der Lichtung ragt.
Meine beiden Begleiter haben da andere Pläne. Wir legen am Häuschen lediglich unsere Taschen ab, dann deuten mir die Guides, ihnen zu folgen. „Komm, komm!“ Winken sie mich flüsternd und ich begreife schaudernd, was diese Irren da vorhaben: sie wollen sich an die beiden Nashörner heranpirschen. Ich halte dies für Wahnsinn. Doch ich folge ihnen.
Ich folge ihnen leise und langsam über die offene Fläche, auch wenn ich am liebsten in die andere Richtung gehen und mich auf der Aussichtsplattform verkriechen würde. Wir gehen geduckt und bewegen uns schnell, umkreisen die Nashörner im sehr, sehr weitem Bogen, bis wir ein paar umgestürzte, morsche Baumstämme erreichen. Die beiden Männer klettern auf sie drauf. „Komm!“ Was bleibt mir übrig? Zudem siegt die Aufregung und die Spannung der Situation und ich lasse mich auf das Ganze ein. Wir erklettern einen Baumstamm, dann den nächsten, penibel darauf achtend, keine lauten und knirschenden Geräusche zu machen und schön geduckt zu bleiben. Einer der Guides flankiert mich von der linken, der andere von der rechten Seite, so dass sie sowohl mich als auch die Tiere keine Sekunde aus den Augen lassen. Wir schleichen und weiter heran. Hinter einem weiteren toten Stamm mit abgebrochenen Ästen suchen wir Deckung. Ich verstecke mich und mein weißes T-Shirt hinter einem knorrigen Ast.
Jetzt haben wir uns den Tieren auf circa zweihundert Meter genähert.
Als wir auf den Baumstamm klettern, setzen sich die Nashörner in Bewegung. Die Mutter zieht sich mit ihrem Jungen zwischen die Bäume zurück und es hat den Anschein, als wenn sie im Schatten des Waldes verschwinden will. Dort bleiben die beiden auch einige Zeit im Verborgenem. Vermutlich warten sie, bis wir uns wieder entfernen und die Störung vorüber ist. Es ist naiv zu glauben, das Nashorn hätte unsere Anwesenheit nicht bemerkt. Nashörner können zwar nicht gut sehen, dafür ausgezeichnet hören und riechen. Und rennen. Sie sind schnell. So behäbig und gemütlich sie manchmal auch aussehen mögen, die Tiere erreichen Geschwindigkeiten von bis zu vierzig Stundenkilometern.
Das alles im Hinterkopf verhalte ich mich so unauffällig wie möglich. Natürlich denke ich jetzt an nicht anderes als an mein weißes T-Shirt. Bloß schön hinter dem Baumstamm bleiben, das Nashorn wird mich schon nicht sehen. Außerdem ist es eh fast verschwunden. Wir warten eine Weile und ich will schon meine Fotografiererei einstellen und mit dem Guides zurück zum Haus gehen. Ich bin aufgeregt, den Tieren so nahe gekommen zu sein. Doch ich ahne nicht, wie nahe ich ihnen tatsächlich noch kommen werde.
Das Nashorn trottet langsam wieder aus der Deckung der Bäume heraus.
Zu meiner Freude, wie ich insgeheim gestehen muss. Denn helle Kleidung hin oder her, so bietet sich Gelegenheit, die Tiere aus der Nähe in ihrer natürlichen Umgebung zu betrachten.
Und wie um diesen Aspekt zu unterstreichen, fängt die Mutter gemütlich an zu grasen. Das Junge folgt ihr und weicht keinen Schritt von ihrer Seite. Es hatte uns natürlich ebenfalls längst bemerkt. Mama, was ist denn da los?
Das Junge beginnt, sich für uns zu interessieren und entfernt sich von der Mutter, und zwar in unsere Richtung. Warte, Kind, ich schaue nach. Betont langsam und beiläufig knabbert die Alte knirschend an den langen Grashalmen und bewegt sich dabei scheinbar zufällig nicht in gerader Linie auf uns zu, sondern schlägt Schritt für Schritt einen Bogen um unsere Deckung herum. Dabei wendet sie sich voll und ganz ihren Gräsern zu und lässt sich nicht das Geringste anmerken, positioniert sich jedoch so, dass ihr kleines Äuglein uns genau mustern kann. Und ich beginne zum ersten Mal zu begreifen, dass diese Tiere so ganz und gar nicht blöd sind. Bald hat sie die Baumstämme umrundet und wird uns in Gänze sehen.
Ich fühle, wie die Beine unter mir nachgeben. Das Nashorn behält uns genau im Auge, das Grasen ist nur ein Vorwand. Ich versuche, ein wenig meine Position hinter meinem Baumstamm zu verändern und auf die andere Seite des trockenen Astes zu rutschen, um in Deckung zu bleiben. Das Tier ist jetzt vielleicht fünfzig Meter von uns entfernt und es kommt immer näher. Die Guides neben mir sehen hochkonzentriert aus. Man kann die Anspannung mit beiden Händen greifen. Ich ducke mich und presse mich näher an den Stamm, um ja unsichtbar zu bleiben. Die Vernunft sagt mir, wie vergebens meine Bemühungen sind, denn Nashörner können besser hören als sehen, da sie fast blind sind.
Auf einmal bleibt die Nashornmutter stehen und hebt den Kopf. Jetzt frisst sie nicht mehr. Sie schaut uns direkt an.
Frontal steht sie da und ihre Haltung verrät höchste Aufmerksamkeit. Für einen Sekundenbruchteil starrt sie uns nur an. „Don’t run!“ Flüstert mir John zu, dem mein panisches Gesicht nicht entgangen ist. „Wenn sie kommt, nicht rennen. Bleib hier und mach deine Bilder. Aber bloß nicht rennen!“ Frei nach dem Motto: genieße den Augenblick.
Bleib hier und mach deine Bilder?!
Mein Genießen schwankt irgendwo zwischen Angst, Panik und nacktem Wahnsinn. Und ein anderes, kaltes und berechnendes Ich macht weiterhin Bilder und Videoaufnahmen und seziert nüchtern unsere Situation. Die Nashorndame kommt uns nahe, sehr nahe. Bis auf circa fünfzehn Meter nähert sie sich dem Baumstamm, hinter dem wir uns verkrochen haben. Und ich filme.
Dann plötzlich geht ein Ruck durch das Nashorn. Es setzt zum Angriff über.
Die beiden Guides setzen sich in Bewegung und ich denke nur: jetzt. Jetzt ist aber wirklich Zeit zum rennen. Doch abermals höre ich das eindringliche: Don’t run!
Es sind Momente; nur Augenblicke, in denen sich entscheidet, ob man in Panik gerät oder nicht. Es sind Augenblicke wie diese, in welchen das eigene Leben in den Händen anderer Menschen ist und denen man einfach nur vertrauen muss. „No! Don’t run!“ Zischt John. Und ich vertraue ihm.
Und dann passiert etwas schier unglaubliches. Beide Männer springen aus ihrer Deckung, machen sich so groß wie möglich, schreien laut und schlagen mit ihren langen Stöcken, die die Tharu immerzu im Dschungel dabei haben, gegen den Baumstamm. Ein lauter Knall geht durch den Wald und das Nashorn hält mitten in der Bewegung inne. Unentschlossen bleibt es stehen und schaut nun zögerlich in unsere Richtung. Als es nachsetzen will, machen die Jungs noch viel mehr Krach, bearbeiten den morschen Baum mit ihren Stöcken, dass die Rinde nur so spritzt. Der Nashornmutter wird es schließlich zu suspekt, sie dreht um und verschwindet mit ihrem Jungen im Dickicht.
Wir atmen auf.
Dann verlassen wir unsere Deckung. Meine Beine sind butterweich, als wir vom Baumstamm klettern und, nun gemütlich, zum Stelzenhaus spazieren. Mein Herz hämmert noch wie wild und nur langsam beruhigt sich mein Puls. Ich lache vor Erleichterung kurz auf. Mit Blicken bemesse ich die Entfernung zum Aussichtshäuschen, die ich, hätte ich mich zur Flucht entschieden, rennend zurücklegen müsste.
Das hätte ich nie geschafft. Wäre das Baumhaus näher gewesen, dann vielleicht, doch so hätte ich die gesamte offene Fläche der Lichtung überqueren müssen, gut sichtbar für das Tier.
Ich vertraute meinen Guides und blieb, wo ich war. Wäre ich tatsächlich losgerannt, dann wäre ich jetzt tot.
[…] pirschen uns an die Nashörner heran. Nachdem es zunächst so scheint, als ziehen sich die Tiere in den Wald zurück, setzt die […]
Puh! Was für ein absolut spannendes Erlebnis! Das war sicher absolut einmalig! Und wie gut, dass du einen kühken Kopf bewahren konntest!
Hallo, ja, das war schon unglaublich. Spannend ohne Ende und beängstigend zugleich. Ich glaube, Angst ist grundsätzlich ein schlechter Berater. Wäre ich alleine da gewesen, wäre ich vermutlich gerannt… aber so ist alles gut gegangen. Ich denke oft an Nepal zurück.